Inhalt

VGH München, Urteil v. 04.12.2024 – 16a D 21.3008
Titel:

Kürzung der beamtenrechtlichen Dienstbezüge für drei Jahre, hier: Reichsbürger

Normenketten:
BeamtStG § 33 Abs. 1 S. 3, § 34 Abs. 1 S. 3
BayDG Art. 9, Art. 14
Leitsätze:
1. Die Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises unter fortgesetzter Angabe eines Bundesstaates des Deutschen Kaiserreichs (Königreich Bayern) und unter Hinweis auf das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz mit dem Stand von 1913 stellt eine Verletzung der beamtenrechtlichen Verfassungstreuepflicht und damit der Pflicht zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten dar. (Rn. 22, 26 und 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zugunsten der Beamtin kann eine glaubhafte Distanzierung von ihrem Verhalten und den Ideologien der Reichsbürgerbewegung gewertet werden; eine solche verlangt das Einräumen des gegen die demokratische Grundordnung gerichteten Fehlverhaltens und eine Auseinandersetzung mit der dabei zum Ausdruck gekommenen verfassungsfeindlichen Haltung (ebenso BVerwG BeckRS 2022, 22104). (Rn. 44 – 45) (redaktioneller Leitsatz)
3. Aufgrund eines verbliebenen Restvertrauens des Dienstherrn in die Beamtin und der begründeten Annahme, dass weitere Pflichtenverstöße gleicher Art nicht zu besorgen sind, ist eine Kürzung der Dienstbezüge für einen Zeitraum von drei statt fünf Jahren angemessen; eine grundsätzlich in Betracht kommende Zurückstufung kann nicht erfolgen, wenn die Beamtin sich noch im Eingangsamt befindet. (Rn. 60) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Lehrerin, Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises unter Berufung auf RuStAG 1913, Vertreten reichsbürgertypischer Ansichten, Distanzierung, Psychisches Abhängigkeitsverhältnis, psychisches Abhängigkeitsverhältnis, Staatsangehörigkeitsausweis, Verfassungstreue, Zurückstufung, Beamtin im Eingangsamt, Kürzung der Dienstbezüge
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 08.10.2021 – M 13L DK 19.2698
Fundstellen:
NVwZ 2025, 269
LSK 2024, 36838
BeckRS 2024, 36838

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.  

Tatbestand

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Die 1984 geborene Beklagte steht als Lehrerin an einer Mittelschule im Dienst des Klägers; sie ist ledig und kinderlos. Nach Abschluss des Studiums für das Lehramt an Mittelschulen mit der ersten Staatsprüfung, der erfolgreichen Ableistung des Vorbereitungsdienstes im Beamtenverhältnis auf Widerruf sowie dem Bestehen der zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Mittelschulen mit der Note befriedigend wurde sie mit Wirkung vom 16. September 2014 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe zur Lehrerin (Besoldungsgruppe A12) ernannt und war zunächst an zwei Mittelschulen in F. eingesetzt, bevor sie auf ihren Antrag hin mit Wirkung vom 1. August 2016 in den Regierungsbezirk Schwaben versetzt und der Mittelschule N. zugewiesen wurde. Nach Verlängerung ihrer Probezeit wurde sie mit Wirkung vom 12. September 2017 in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit berufen. Aufgrund des vorliegend inmitten stehenden disziplinarischen Vorwurfs wurde sie mit Verfügung der Disziplinarbehörde vom 3. Juni 2019 unter Einbehalt von 50% der monatlichen Dienstbezüge vorläufig des Dienstes enthoben. Mit Verfügung der Disziplinarbehörde vom 9. November 2021 wurden die vorläufige Dienstenthebung sowie der Einbehalt von 50% der monatlichen Dienstbezüge mit Wirkung vom 22. November 2021 aufgehoben und die Beklagte im Anschluss in der mobilen Reserve eingesetzt. Seit dem Schuljahr 2023/24 ist sie an der Mittelschule O. tätig. Sie ist weder strafrechtlich noch disziplinarisch vorbelastet.
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Mit der streitgegenständlichen, am 5. Juni 2019 erhobenen Disziplinarklage beantragte der Kläger, die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. Ihr wird vorgeworfen, sich im Zusammenhang mit der Beantragung der Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit und in weiteren Schreiben an Behörden nach außen als Anhängerin der Reichsbürgerbewegung geriert und sich damit nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekannt zu haben und nicht für deren Erhaltung eingetreten zu sein. Dem liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:
3
Ende Juni / Anfang Juli 2017 lernte die Beklagte über ein Online-Datingportal Herrn S. kennen, mit dem sie sich zunächst eine Beziehung wünschte. Im Verlauf des Kontakts zu Herrn S. vermittelte dieser der Beklagten ab dem 22. Juli 2017 in der Reichsbürgerbewegung verbreitete Theorien, u.a. „die BRD ist kein Staat, sondern eine Verwaltung, eine Firma“ (23.7.2017 11:16 Uhr), „Merkel ist Geschäftsführerin und nicht Bundeskanzlerin“ (24.9.2017 20:33 Uhr) oder „schon gewusst wer eigentlich die Firma BRD regiert? Nicht die Regierung …, sondern das Bundesverfassungsgericht, und der Präsident des Gerichts ist seit 2012 auch Kanzler“ (4.10.2017 18:26 Uhr). Insbesondere wirkte er auf die Beklagte ein, sie benötige einen auf der Grundlage des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes mit dem Stand von 1913 (RuStAG 1913) sowie bestimmter Angaben auszustellenden Staatsangehörigkeitsausweis als Nachweis der deutschen Staatsangehörigkeit; sonst gelte sie nur verwaltungstechnisch als deutsche Staatsangehörige. Hierzu übersandte er ihr eine Vielzahl an Links zu im Internet kursierenden Videos.
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Am 22. August 2017 schrieb die Beklagte um 21:40/21:41 Uhr an Herrn S. per WhatsApp: „Ein absolutes Lügenkonstrukt unser „Staat“. Demokratie ist eine tolle Sache – wenn man einen richtigen demokratischen Staat mit gültiger Verfassung hätte.“
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Mit Schreiben vom 10. August 2017 wandte sich die Beklagte an das für sie zuständige Landratsamt und teilte mit, sie beabsichtige, ihre Staatsangehörigkeit nach „StAG § 3.1 bzw. RuStAG § 4.1“ feststellen zu lassen. Sie führte weiter aus: „Da ich im Beamtenverhältnis arbeite, möchte ich von Ihnen wissen, ob ich mit beruflichen Einschränkungen rechnen muss, je nachdem ob ich nach StAG oder RuStAG ableiten kann.“
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Am 21. September 2017 gab die Beklagte einen von ihr persönlich unterschriebenen Antrag auf Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit beim Landratsamt ab. Hierfür verwendete sie nicht das ihr vom Landratsamt übermittelte Antragsformular, sondern das vom Bundesverwaltungsamt bereitgestellte Formular F nebst dessen Anlage V nach dem Stand vom April 2011. Ihre aktuelle Anschrift gab die Beklagte darin ohne Postleitzahl an. Beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bezog sie sich auf eine Abstammung gemäß „RuStAG Stand 1913, §§ 1, 3 Nr. 1, 4 (1)“. Als weitere Staatsangehörigkeiten besitze sie „Königreich Bayern seit Geburt, erworben durch Abst. gem. RuStAG Stand 1913, §§ 1, 3 Nr. 1,4 (1)“. Weiter vermerkte sie, der Antrag werde mit der Maßgabe gestellt, dass im EStA-Register alle Angaben im Bereich „Sachverhalt“ gemäß § 33 StAG vom 11. November 2016 – vor allem Abs. 2 Satz 2 befüllt und gemäß § 33 StAG Abs. 3 übermittelt werden. Sie distanziere sich ausdrücklich von nationalsozialistischem Gedankengut. In der Anlage V gab die Beklagte als Geburtsstaat ihres 1950 geborenen Vaters „Königreich Bayern“ an und einen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach Abstammung gemäß „RuStAG Stand 1913, §§ 1, 3 Nr. 1,4 (1)“. Als weitere Staatsangehörigkeit wurde „Königreich Bayern seit Geburt, erworben durch Abst. gem. RuStAG Stand 1913, §§ 1, 3 Nr. 1,4 (1)“ vermerkt. Gleiche Angaben wurden zum 1921 geborenen Großvater und zur 1900 geborenen Urgroßmutter väterlicherseits gemacht.
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Als Reaktion auf eine Vorladung der Kriminalpolizei führte die Beklagte in einem Schreiben vom 13. Oktober 2017 an den Sachbearbeiter Herrn E. beim Landratsamt aus: „Die Person […] weist Sie darauf hin, dass schon der bloße Verdacht Ihres Schreibens unter Umständen eine Straftat Ihrerseits bezüglich der Verleumdung nach § 187 StGB, zumindest aber der üblen Nachrede nach § 186 StGB, erfüllt. Zudem wird auch gleichzeitig der Strafbestand der Volksverhetzung nach § 130 Absatz (1), Nr. 2 StGB Ihrerseits erfüllt. […] Auch nach den §§ 823 und 839 BGB haften Sie, Herr E., persönlich für das Ganze, falls mir dadurch ein größerer Schaden entstehen sollte, da auch nun offiziell meine natürliche Person vollen Zugriff auf das BGB hat.“
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Nachdem die Beklagte bereits am 31. Juli 2017 beim Bundesverwaltungsamt in Köln einen Antrag auf Selbstauskunft aus dem EStA-Register gestellt hatte, der mit Schreiben vom 29. August 2017 negativ beschieden wurde, stellte sie am 10. Oktober 2017, dem Tag der Aushändigung des beantragten Staatsangehörigkeitsausweises, erneut einen Antrag auf Selbstauskunft aus dem EStA-Register.
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Nach Einleitung des Disziplinarverfahrens führte die Beklagte in einer schriftlichen Stellungnahme vom 15. November 2017 gegenüber der Landesanwaltschaft Bayern folgendes aus: „Selbstverständlich erkenne ich diese [den Staat als legitime und legitimierende natürliche Person des Rechts] an und bezweifle keines dieser völkerrechtlichen Subjekte und ich gehe davon aus, dass dies ebenso bei Ihnen, wie bei jeder Behörde der Bundesrepublik der Fall ist, deren Rechte und Pflichten, wie im Grundgesetz in Artikel 25 dargelegt, vorrangig aus dem Völkerrecht abzuleiten sind, als feststehende Legislative.“ […] „Somit könnte, ein gegenteiliger Standpunkt oder Maßnahmen gegen mich, nur in der Bestreitung der Träger des Rechts, der Natürlichen Person des Rechts, der Natürlichen Person des Rechts in der gültigen Rechtsnachfolge, der Natürlichen Person als legitime und legitimierende Gewalt und damit sämtlicher gültiger völkerrechtlicher Subjekte sein.“
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In einer weiteren schriftlichen Stellungnahme gegenüber der Landesanwaltschaft Bayern vom 13. Dezember 2017 führte die Beklagte aus: „Ich erwarte von Ihnen eine rechtsverbindliche und rechtskräftige Antwort innerhalb von zehn Tagen, zuzüglich zwei Tage Postlauf. Ansonsten gehe ich davon aus, dass die Angelegenheit geklärt ist.“
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Mit Urteil vom 8. Oktober 2021 erkannte das Verwaltungsgericht gegen die Beklagte auf die Disziplinarmaßnahme der Kürzung der Dienstbezüge in Höhe von 1/10 für die Dauer von 3 Jahren. Der Kläger hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berufung eingelegt und beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts abzuändern und die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Mit Beweisbeschluss vom 13. Juni 2023 hat der Senat zur Klärung der Frage der Schuldfähigkeit im Zeitraum Juli bis Oktober 2017 sowie der Frage, ob die Beklagte in dieser Zeit aufgrund eines persönlichen Abhängigkeitsverhältnisses zu Herrn S. fremdmotiviert handelte und sich dem nicht entziehen konnte, Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens. Mit der Erstellung des Gutachtens wurde Prof. Dr. K. S., Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der ..., beauftragt. Das Gutachten vom 19. September 2024, ergänzt durch eine schriftliche Stellungnahme vom 14. November 2024, kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass bei der Beklagten eine Persönlichkeitsakzentuierung mit abhängigen Persönlichkeitszügen festzustellen sei, die das klinische Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 aber nicht erreiche und keinem Eingangsmerkmal des § 20 StGB zuzuordnen sei. Auf dem neurologischen Fachgebiet liege eine generalisierte Epilepsie vor, welche im Jahr 2020 erstmals diagnostiziert und seitdem behandelt worden sei. Da davon auszugehen sei, dass die strukturellen hirnorganischen Veränderungen und der chronische neuronale Schädigungsprozess, welche der Epilepsie zugrunde lägen, zeitlich schon deutlich vor dem Datum der Erstdiagnose vorgelegen hätten, könne das Vorliegen eines dysexekutiven Syndroms (Störung der Exekutivfunktionen) im Sinne einer krankhaften seelischen Störung gemäß § 20 StGB im verfahrensrelevanten Zeitraum von Juli bis Oktober 2017 aus nervenärztlicher Sicht nicht sicher ausgeschlossen werden. Dies sowie zugrunde gelegt, dass die Beklagte – begünstigt durch die akzentuierte abhängige Persönlichkeitsorganisation und unerfüllte sexuelle und emotionale Bedürfnisse – vulnerabel gegenüber dem manipulativen Verhalten von Herrn S. und dessen verschwörungstheoretischen Narrativen gewesen sei, könne eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit im relevanten Zeitraum aus nervenärztlicher Sicht nicht ausgeschlossen werden; es sei davon auszugehen, dass die Beklagte nicht mehr ausreichend in der Lage gewesen sei, die Konsequenzen ihres Handelns rund um die Beantragung des Staatsangehörigkeitsausweises zu überblicken und in den zutreffenden rechtlichen Kontext einzuordnen. Einschränkungen der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB seien unter der Annahme eines dysexekutiven Syndroms im Tatzeitraum aus nervenärztlicher Sicht ebenfalls nicht sicher auszuschließen. Die abhängigen Persönlichkeitszüge und der Wunsch nach einer emotional und sexuell erfüllenden Beziehung hätten für die Beklagte einen starken Antrieb dargestellt, sich mit Herrn S. einzulassen, und zu einer Relativierung seiner Aussagen und einer herabgesetzt kritischen Haltung ihm gegenüber geführt. Gleichzeitig sei es der Beklagten durch die Einschränkungen der Exekutivfunktionen schwerer gefallen, sich diesen Impulsen zu widersetzen. Zusammenfassend sei aus nervenärztlicher Sicht davon auszugehen, dass die Beklagte vor dem Hintergrund der sozialen Einflussnahme durch Herrn S., der neurokognitiven Defizite und der komplexen Vorgänge rund um die Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises nicht mehr in der Lage gewesen sei, ihr Verhalten von logischen Entscheidungen abhängig zu machen. Durch die Reifungsdefizite in ihrer psychosexuellen Entwicklung und insbesondere im Kontext der Beziehung zu Herrn S. habe die Beklagte im Zeitraum von Juni bis Oktober 2017 nicht so autonom handeln können, wie sie dies außerhalb einer derart gelagerten Beziehung hätte tun können. Durch ihr Verhalten habe sie sich erhofft, die lang ersehnten sexuellen und interaktionellen Bedürfnisse zu befriedigen, temporär suggerierte Weltanschauungen übernommen und daher die vorgeschlagenen Schritte zur Erlangung eines Staatsangehörigkeitsausweises befolgt. Entsprechend sei am ehesten von einem fremdmotivierten Verhalten auszugehen.
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Der Senat hat am 4. Dezember 2024 mündlich verhandelt. Hierzu wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass gegen die Beklagte wegen der Verletzung der Verfassungstreuepflicht an sich die Zurückstufung nach Art. 10 BayDG als angemessene und verhältnismäßige Maßnahme zu verhängen wäre. Da diese bei der noch im Eingangsamt befindlichen Beklagten nicht in Betracht kommt, sowie unter der gebotenen Berücksichtigung der langen Dauer sowohl des erst- als auch des zweitinstanzlichen gerichtlichen Disziplinarverfahrens erachtet der Senat die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Kürzung der Dienstbezüge für die Dauer von drei Jahren für ausreichend, aber auch geboten.
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1. Der vom Verwaltungsgericht festgestellte Sachverhalt, der dem der Disziplinarklage zugrundeliegenden Sachverhalt entspricht, steht zur Überzeugung des Senats fest. Die Beklagte hat die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil auch eingeräumt.
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2. Durch das festgestellte Verhalten hat die Beklagte ein Dienstvergehen begangen (§ 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG). Sie hat vorsätzlich und schuldhaft ihre aus § 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG folgende Verfassungstreuepflicht sowie außerdienstlich ihre Pflicht zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten gemäß § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG verletzt.
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2.1 Durch die schriftliche Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises unter Angabe des Staates „Königreich Bayern“ sowie der Angabe „Abstammung gemäß Ru-StAG 1913, §§ 1, 3 Nr. 1,4 (1)“ für antragsrelevante Umstände jedenfalls im Zeitraum nach Mai 1949 sowie durch Äußerungen in weiteren Schreiben an Behörden, die typisch für Vertreter bzw. Anhänger der Reichsbürgerbewegung sind, hat die Beklagte die ihr obliegende Pflicht zur Verfassungstreue verletzt.
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2.1.1 Nach § 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG muss sich ein Beamter durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten. Da nach § 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG das gesamte Verhalten des Beamten erfasst ist, ist die Pflicht zur Verfassungstreue als beamtenrechtliche Kernpflicht als solche unteilbar und nicht auf den dienstlichen Bereich beschränkt. Vielmehr ist auch das außerdienstliche Verhalten mit der Folge erfasst, dass bei einem pflichtwidrigen Verhalten wegen der Dienstbezogenheit stets ein innerdienstliches Dienstvergehen gegeben ist. Dementsprechend kommt es auf die besonderen Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG für die Qualifizierung eines außerhalb des Dienstes gezeigten Verhaltens als Dienstvergehen nicht an.
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Beamte, die zum Staat in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, für diesen Anordnungen treffen können und damit dessen Machtstellung durchsetzen, müssen sich zu der freiheitlichen demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Grundordnung des Grundgesetzes bekennen und für sie einstehen. Die Beamten müssen sich nicht die Ziele oder Maxime der jeweiligen Regierungsmehrheit zu eigen machen; sie müssen jedoch die verfassungsmäßige Ordnung als schützenswert annehmen und aktiv für sie eintreten. Im Staatsdienst können nicht solche Personen tätig werden, die die Grundordnung des Grundgesetzes ablehnen und bekämpfen. Diesen Personen fehlt die Eignung für die Ausübung eines öffentlichen Amtes.
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Geht es um die Pflicht zur Verfassungstreue, muss dem Beamten die Verletzung dieser Dienstpflicht konkret nachgewiesen werden. Das Dienstvergehen besteht nicht einfach in der „mangelnden Gewähr“ des Beamten dafür, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten werde. Auch das bloße Haben einer Überzeugung und die bloße Mitteilung, dass man diese habe, reichen nicht aus. Ein Dienstvergehen ist erst dann gegeben, wenn der Beamte aus seiner politischen Überzeugung Folgerungen für seine Einstellung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, für die Art der Erfüllung seiner Dienstpflichten, für den Umgang mit seinen Mitarbeitern oder für politische Aktivitäten im Sinne seiner politischen Überzeugung zieht. Die zu beanstandende Betätigung muss zudem von besonderem Gewicht sein (vgl. zu Vorstehendem BVerwG, U.v. 2.12.2021 – 2 A 7.21 – juris Rn. 26 bis 28).
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2.1.2 Nach diesen Grundsätzen stellt bereits die Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises unter fortgesetzter Angabe eines Bundesstaates des Deutschen Kaiserreichs (Königreich Bayern) und unter Hinweis auf das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz mit dem Stand von 1913 eine Verletzung der Verfassungstreuepflicht dar. Denn wer auch bei Sachverhalten seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich seiner Staatsangehörigkeit und derjenigen seiner nach 1949 geborenen Vorfahren auf Verhältnisse vor dieser Zeit – hier auf das Anfang November 1918 untergegangene Deutsche Kaiserreich – abstellt, verneint damit die rechtliche Existenz der Bundesrepublik Deutschland. Die Beklagte hat als ihre weitere Staatsangehörigkeit „Königreich Bayern“ und bezogen auf ihre Person „Abstammung gemäß RuStAG 1913, §§ 1, 3 Nr. 1,4 (1)“ angegeben. Als Geburtsstaat ihres 1950 geborenen Vaters hat sie „Königreich Bayern“ vermerkt. Indem sie ihrer Antragstellung ausschließlich das Staatsangehörigkeitsrecht des Deutschen Kaiserreichs zugrunde gelegt und sämtliche Änderungen des nachkonstitutionellen Gesetzgebers, einschließlich der Umbenennung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes in Staatsangehörigkeitsgesetz (vgl. Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999, BGBl I S. 1618) ausgeblendet hat, hat die Beklagte deutlich gemacht, dass sie dem Bundesgesetzgeber dessen legislative Legitimation zu diesem Zeitpunkt abgesprochen hat. Es ist schlechterdings unmöglich, die rechtliche Existenz dieses Staates zu leugnen und sich zugleich zu dessen Grundordnung zu bekennen und sich für diese einzusetzen, wie es § 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG verlangt. Die Beklagte hat damit zugleich die Grundlagen ihres Beamtenverhältnisses negiert und ihre Verfassungstreuepflicht in schwerwiegender Weise verletzt. Mit dem vorbeschriebenen Verhalten hat sie im Rechtsverkehr gegenüber einer staatlichen Behörde – und damit nach außen – zum Ausdruck gebracht, dass sie von der Weitergeltung vorkonstitutionellen Rechts ausgeht, und damit die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland in Abrede gestellt und die freiheitliche demokratische Grundordnung abgelehnt. Diese Erklärung ist, eben weil sie im Rechtsverkehr mit einer Behörde abgegeben wurde, auch von erheblichem Gewicht. Es handelte sich um ein vorbereitetes, planvolles und zielgerichtetes – also nicht lediglich spontanes – Agieren gegenüber einer Behörde mit rechtserheblichem Inhalt (vgl. zu Vorstehendem BVerwG, U.v. 2.12.2021 a.a.O. Rn. 30 bis 32).
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2.1.3 Darüber hinaus hat sich die Beklagte in weiteren Schreiben an Behörden gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung betätigt, indem sie sich in für Vertreter bzw. Anhänger der Reichsbürgerbewegung typischer Art und Weise geäußert und deren der verfassungsmäßigen Ordnung widersprechendes Gedankengut nach außen getragen hat.
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Wie in Reichsbürgerkreisen üblich hat sie auf „ihre natürliche Person“ verwiesen, die nun „offiziell vollen Zugriff auf das BGB“ habe, sowie dem Sachbearbeiter beim Landratsamt mit der persönlichen Haftung für seine Handlungen mit seinem gesamten Privatvermögen nach §§ 839, 823 BGB gedroht (Schreiben vom 13.10.2017). Auch stellt es eine in Reichsbürgerkreisen typische Herangehensweise und Handlungsform dar, sachbearbeitende Behördenbedienstete verschiedener Straftaten zu bezichtigen – wobei die von der Beklagten angeführten §§ 186, 187 und 130 StGB wiederum zu den bevorzugten zählen. Ihre damalige Auffassung von den rechtlichen Grundlagen des Staatswesens bringt die Beklagte in ihrem Schreiben an die Disziplinarbehörde vom 15. November 2017 zum Ausdruck, indem sie insbesondere auf „die natürliche Person des Rechts“ abstellt und zu dem Schluss kommt, dass die Rechte und Pflichten von Behörden der Bundesrepublik Deutschland „vorrangig aus dem Völkerrecht abzuleiten sind“. Auch das Schreiben der Beklagten vom 13. Dezember 2017 an die Disziplinarbehörde zeugt von einer für „Reichsbürger“ typischen Vorgehensweise, indem die Beklagte unter Setzung einer kurzen Frist eine „rechtsverbindliche und rechtskräftige“ Antwort auf ihre Stellungnahme vom 15. November 2017 einfordert, andernfalls sie die Angelegenheit als in ihrem Sinne geklärt betrachte. Es ist eine in Reichsbürgerkreisen immer wieder anzutreffende Vorgehensweise, gegenüber Behörden unter Setzung knapper Fristen eigene Rechtspositionen zu behaupten mit dem Hinweis auf deren Verbindlichkeit, sollte nicht fristgerecht widersprochen werden.
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Hierin liegt ein Verhalten, das typisch für die Reichsbürgerbewegung ist. „Reichsbürger“ sind Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen – unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren, so dass die Besorgnis besteht, dass sie Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen. Charakteristisch für die Szene ist ihre personelle, organisatorische und ideologische Heterogenität. Ihre Angehörigen agieren – sofern es sich nicht um Einzelpersonen ohne strukturelle Einbindung handelt – in Kleinst- und Kleingruppierungen, überregional tätigen Personenzusammenschlüssen und virtuellen Netzwerken. „Reichsbürger“ lehnen die Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf ein wie auch immer geartetes „Deutsches Reich“ ab. In ihrer Gesamtheit ist die Szene der „Reichsbürger“ als staats- und verfassungsfeindlich gegenüber (der staatlichen Rechtsordnung) der Bundesrepublik Deutschland einzustufen (Verfassungsschutzbericht 2021 des Bundesministeriums des Innern und für Heimat, S. 102 f.; BVerwG, U.v. 2.12.2021 a.a.O. Rn. 33).
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2.2 Die Beklagte handelte vorsätzlich; insbesondere ging sie von einer (zumindest möglichen) Unvereinbarkeit ihres Handelns mit dem Beamtenstatus aus (vgl. WhatsApp-Chatnachricht der Beklagten am 23.7.2017 um 11:12: „bin da immer nur vorsichtig, da ich den Beamtenstatus nicht verlieren will.“; Schreiben vom 10.8.2017 an die LAB, Tatbestand Rn. 5).
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Die objektiv verfassungswidrigen Bekundungen waren auch Ausdruck ihrer damaligen inneren Überzeugung. Zwar wurde sie durch Herrn S. zur Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises mit den die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnenden Angaben sowie zu den angeführten, hiermit in Zusammenhang stehenden Schreiben an das Landratsamt und die Landesanwaltschaft Bayern motiviert. Die Initiative zu derartigen Äußerungen der Beklagten ging ausschließlich von Herrn S. aus, was insbesondere aus dem vorgelegten Chatverlauf ersichtlich ist, in dem die Beklagte Herrn S. häufig lediglich nicht widersprochen, sich aber selten aktiv und von sich aus zu den ihr durch ihn vermittelten Reichsbürger-Theorien geäußert hat. Jedoch zeugen die Äußerungen der Beklagten in den vorgelegten Chatverläufen durchaus von einem Verstehen-Wollen (z.B. Nachricht vom 26.7.2017 18:15 „Alles so neu… erst mal sacken lassen. So ganz klar ist mir alles noch nicht“; Nachricht vom 30.7.2017 14:41 Uhr „Werd aber nicht so ganz schlau daraus. So wie ich es jetzt verstehe haben nur eine kleine Gruppe die deutsche Staatsangehörigkeit“; Sprachnachricht vom 25.8.2017 „Ich hab es mir jetzt angehört. Das heißt, mein Vermögen, alles was ich habe, gehört mir eigentlich gar nicht und die Gerichte sind alle überflüssig, weil die eh nichts machen können.“) und einer Auseinandersetzung mit den ihr von Herrn S. unterbreiteten Ansichten. Die Beklagte hat sich mehrere der ihr von Herrn S. empfohlenen Videos angeschaut, sich selbst ein Buch von Max von Frei zur Thematik des Staatsangehörigkeitsausweises gekauft und dieses auch gelesen (Niederschrift über die persönliche Anhörung bei der LAB am 4.9.2018). Den Antrag auf Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises sowie die übrigen Schreiben hat sie intensiv mit Herrn S. abgestimmt, wobei sie sich hierüber und über einzelne Formulierungen durchaus auch eigene Gedanken gemacht hat (vgl. Sprachnachricht vom 27.10.2017 „Ich sitze gerade darüber, das zu formulieren. […] Also den einen Satz, wer sie sind, weiß ich nicht, ob ich da so ein gutes Gefühl dabei hab. Den lasse ich jetzt vielleicht erst nochmal draußen. Aber alles andere hört sich sehr gut an, das füge ich alles bei. […] Ich schreib es jetzt mal und dann schicke ich es dir und dann können wir ja nochmal drüber nachdenken, ob wir noch was rein machen sollen, oder ob wir das so lassen sollen.“). Dem Sachverständigen gegenüber hat die Beklagte angegeben, sie habe sich am Anfang der Beziehung zu Herrn S. noch sehr für das Thema interessiert und zu keinem Zeitpunkt an seinen Aussagen sowie am Inhalt der Videos gezweifelt. Sie habe ihm zu 100% vertraut (Gutachten vom 19.9.2024, S. 22).
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Im Zeitpunkt der genannten Schreiben und des Antrags auf Feststellung der Staatsangehörigkeit muss daher durchaus von einer inneren Überzeugung der Beklagten vom Inhalt ihrer verfassungswidrigen Äußerungen sowie davon ausgegangen werden, dass sie sich der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland innerlich nicht (mehr) verpflichtet fühlte. Gegenüber Herrn S. brachte sie dies in ihrer Nachricht vom 22. August 2017 um 21:40/21:41 Uhr deutlich zum Ausdruck, indem sie den Staat als „Lügenkonstrukt“ bezeichnete und das Bestehen einer gültigen Verfassung in Abrede stellte.
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2.3 Durch ihr vorsätzliches Verhalten hat die Beklagte zugleich ihre Pflicht zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten (§ 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG) verletzt (BVerwG, U.v. 2.12.2021, a.a.O. Rn. 44).
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2.4 Die Beklagte handelte schuldhaft; ein Fall eines (nicht vermeidbaren) Verbotsirrtums (§ 17 Satz 1 StGB) und die Voraussetzungen des § 20 StGB lagen bei der Begehung des Dienstvergehens nicht vor.
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Nach § 17 Satz 1 StGB handelt der Täter ohne Schuld, wenn ihm bei Begehung der Tat die Einsicht fehlt, Unrecht zu tun, sofern er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Nach § 20 StGB ist schuldunfähig, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Ausweislich des psychiatrischen Sachverständigengutachtens lag bei der Beklagten nicht ausschließbar bereits im Tatzeitraum ein durch Epilepsie bedingtes dysexekutives Syndrom (Störung der Exekutivfunktionen) vor, das nach Auffassung des Sachverständigen als krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB zu verstehen ist (vgl. Eschelbach in BeckOK StGB, 63. Edition Stand 1.11.2024, § 20 Rn. 29; BGH, B.v. 8.12.2009 – 5 StR 449/09 – NStZ-RR 2010, 105). Da für den relevanten Zeitraum weder psychiatrische noch neurologische Befunde vorliegen, ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ vom Vorliegen der Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB auszugehen.
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Die Entscheidung über die Schuldfähigkeit ist eine Rechtsfrage, die die Gerichte ohne Bindung an die Ausführungen des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu entscheiden haben (BGH, U.v. 12.12.2018 – 5 StR 385/18 – StV 2019, 226/227 = juris Rn. 13 f. m.w.N.). Der Senat vermag dem Gutachten nicht darin zu folgen, dass die Beklagte keine Einsicht in das Unrecht ihres Tuns haben konnte und mithin einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlag. Bei dem gutachterlich festgestellten dysexekutiven Syndrom handelt es sich zunächst nicht um eine schwere biologische Störung, die direkt und durchgreifend die intellektuellen Fähigkeiten der Beklagten zur Tatzeit beeinträchtigt hat. Auch lässt sich nicht feststellen, dass die durch den Sachverständigen festgestellten Einschränkungen der Exekutivfunktionen, die als Folge des Anfallsleidens der Beklagten zu interpretieren sind und sich konkret insbesondere in einer erheblich herabgesetzten Fähigkeit zur Durchführung komplexer Planungsprozesse und zu problemlösendem Denken äußern, zu einer tatbezogenen Fehlbewertung der Realität geführt haben mit der Folge, dass der Beklagten die Einsicht in das Unrecht ihres Handelns tatsächlich fehlte (vgl. zum Maßstab BGH, B.v. 5.7.2016 – 4 StR 215/16 – BeckRS 2016, 13683 Rn. 6; B.v. 6.3.2013 – 1 StR 654/12 – NStZ-RR 2013, 303/304). Indizien hierfür ergeben sich weder aus den gutachterlichen Feststellungen noch aus der Aktenlage. Auch wenn man mit dem Sachverständigen zugrunde legt, dass die Fähigkeit der Beklagten, bei komplexeren Fragestellungen mehrere Handlungsoptionen zu erkennen und hinsichtlich deren Brauchbarkeit und etwaiger Konsequenzen gegeneinander abzuwägen, bereits im Tatzeitraum aufgrund neurokognitiver Defizite erheblich eingeschränkt war, führte dies nicht dazu, dass die Beklagte nicht mehr in der Lage war zu erkennen, dass die Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises mit den von ihr gemachten Angaben mit den ihr als Beamtin obliegenden Pflichten unvereinbar war. Dass sie dies in Betracht gezogen hat, zeigt nicht zuletzt ihr Schreiben an das Landratsamt vom 10. August 2017, in dem sie sich über mögliche berufliche Konsequenzen erkundigte. Die durch den Sachverständigen festgestellte Störung der Exekutivfunktionen hat sich in der konkreten Tatsituation nicht in relevantem Maß auf das Vermögen der Beklagten ausgewirkt, das Unrecht ihrer konkreten Handlungen einzusehen.
37
Eine vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit wurde auch vom Sachverständigen nicht diskutiert und scheidet aus.
38
3. Im Rahmen der dem Gericht obliegenden Maßnahmebemessung wäre die Zurückstufung nach Art. 10 BayDG die gebotene Maßnahme. Da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen – die Beklagte befindet sich noch im Eingangsamt –, ist auf eine Kürzung der Dienstbezüge nach Art. 9 BayDG zu erkennen.
39
3.1 Welche Disziplinarmaßnahme erforderlich ist, richtet sich gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BayDG nach der Schwere des Dienstvergehens, der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit, dem Persönlichkeitsbild und dem bisherigen dienstlichen Verhalten. Aus den gesetzlichen Vorgaben folgt die Verpflichtung, die Disziplinarmaßnahme aufgrund einer prognostischen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller im Einzelfall belastenden und entlastenden Gesichtspunkte zu bestimmen. Dies entspricht dem Zweck der Disziplinarbefugnis als einem Mittel der Sicherung der Funktion des öffentlichen Dienstes. Danach ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, welche Disziplinarmaßnahme in Ansehung der Persönlichkeit des Beamten geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten.
40
Bei der Gesamtwürdigung sind die im Einzelfall bemessungsrelevanten Tatsachen nach Maßgabe des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 56 BayDG zu ermitteln und mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Bewertung einzubeziehen. Als maßgebendes Bemessungskriterium ist die Schwere des Dienstvergehens richtungsweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Das bedeutet, dass das festgestellte Dienstvergehen nach seiner Schwere einer der im Katalog des Art. 6 BayDG aufgeführten Disziplinarmaßnahmen zuzuordnen ist. Davon ausgehend kommt es für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Disziplinarmaßnahme geboten ist. Ein endgültiger Verlust des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BayDG ist anzunehmen, wenn aufgrund der prognostischen Gesamtwürdigung auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen seine Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wiedergutzumachen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden (BVerwG, U.v. 2.12.2021 a.a.O. Rn. 46-48).
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3.2 Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ist nach der Schwere des verfahrensgegenständlichen Dienstvergehens die Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis (vgl. BVerwG, U.v. 2.12.2021 a.a.O. Rn. 51). Die Beklagte hat sich wiederholt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung betätigt und ist nicht für diese eingetreten. Zu Recht hebt der Kläger darüber hinaus hervor, dass die Beklagte ihr mit der Verfassung nicht im Einklang stehendes Verhalten auch nach einem schriftlichen Hinweis der Polizei, der ihr an sich „die Augen öffnen“ und zur Warnung hätte gereichen sollen, unbeirrt fortgesetzt hat.
42
Allerdings bestehen in Ansehung der Persönlichkeit der Beklagten, dem konkreten Hintergrund des Dienstvergehens und dem Verhalten der Beklagten im Nachgang hierzu mildernde Umstände von erheblichem Gewicht, die trotz der Schwere des Dienstvergehens die Verhängung der Höchstmaßnahme als unangemessen erscheinen lassen und dazu führen, dass das Dienstvergehen keinen endgültigen Vertrauensverlust zur Folge hat.
43
Bei der prognostischen Frage, ob bei einem Beamten auf Grund eines schweren Dienstvergehens ein endgültiger Vertrauensverlust im Sinne des Art. 14 Abs. 2 Satz 1 BayDG eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis alle für diese Einschätzung bedeutsamen belastenden und entlastenden Bemessungsgesichtspunkte und damit nicht nur die bislang von der Rechtsprechung „anerkannten“ Milderungsgründe. Dies gebieten sowohl das gesetzliche Bemessungskriterium der Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Ob die festgestellten Prognosegrundlagen den Schluss auf einen noch verbliebenen Rest an Vertrauen in die Person des Beamten bzw. darauf zulassen, dass auch eine mildere als die nach dem Dienstvergehen an sich indizierte Disziplinarmaßnahme dennoch den erwünschten erzieherischen Einfluss auf den Beamten haben kann, ist eine Frage der Gesamtabwägung im Einzelfall (vgl. BVerwG, U.v. 3.5.2007 – 2 C 9.06 – NVwZ-RR 2007, 695/696 Rn. 21, 23; B.v. 22.9.2006 – 2 B 52.06 – BeckRS 2006, 26119 Rn. 5; U.v. 23.2.2012 − 2 C 38.10 – NVwZ-RR 2012, 479 Rn. 14 f.; U.v. 25.7.2013 – 2 C 63.11 – NVwZ-RR 2014, 105 Rn. 28, 32; U.v. 29.10.2013 – 1 D 1.12 – NVwZ-RR 2014, 356 Rn. 41).
44
3.2.1 Durchgreifend zu Gunsten der Beklagten wirkt sich aus, dass sie sich von ihrem Verhalten und den Ideologien der Reichsbürgerbewegung bereits seit Langem und bis heute glaubhaft distanziert hat.
45
Voraussetzung für eine glaubhafte Distanzierung sind das Einräumen des gegen die demokratische Grundordnung gerichteten Verhaltens und eine Auseinandersetzung mit der dabei zum Ausdruck gekommenen verfassungsfeindlichen Haltung (BVerwG, U.v. 12.5.2022 – 2 WD 10.21 – juris Rn. 37; OVG NW, B.v. 24.10.2018 – 3d B 1383/18 – juris Rn. 15 ff.; BayVGH, U.v. 25.10.2021 – 16a D 19.1042 – juris Rn. 28).
46
Die Beklagte hat ihr Verhalten und dessen Verfassungswidrigkeit eingeräumt. So hat sie bereits in ihrer persönlichen Anhörung vor der Disziplinarbehörde am 4. September 2018 die ihr zur Last liegenden Dienstpflichtverletzungen als „sehr dummen Fehler“ bezeichnet, den sie zutiefst bereue. Sie sei der Auffassung, dass Deutschland ein souveräner Staat sei. Zwei Tage nach dieser Anhörung hat sie sich mit Schreiben vom 6. September 2018 bei dem Sachbearbeiter des Landratsamts, den sie diverser Straftaten bezichtigt hatte, entschuldigt und sich zugleich erkundigt, ob sie den Staatsangehörigkeitsausweis zurückgeben könne, da sie ihn nicht brauche. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat sie ebenfalls bekundet, sie bereue ihr Verhalten sehr und schäme sich dafür; die damaligen Äußerungen entsprächen so gar nicht ihrer heutigen Meinung und es tue ihr sehr leid (Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem VG vom 8.10.2021, S. 2 und S. 5).
47
Eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem damaligen Verhalten ist hingegen allenfalls in Ansätzen erkennbar. Die Beklagte erscheint auch heute noch in gewisser Hinsicht „ratlos“ hinsichtlich ihres damaligen Verhaltens, wenn sie gegenüber dem Verwaltungsgericht und dem Sachverständigen angibt, sie könne sich ihre Äußerungen heute nicht mehr erklären, da diese ja keinen Sinn ergäben (Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem VG vom 8.10.2021, S. 5; Gutachten vom, S. 26: “Auffällig war eine gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich ihres Verhaltens im Rahmen der ihr zur Last gelegten Vorwürfe.“). Auch konnte sie sich ausweislich ihrer Stellungnahme an die Disziplinarbehörde vom 27. Juli 2018 jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, zu dem bereits kein Kontakt mehr mit Herrn S. bestand, noch nicht erklären, weshalb und inwiefern sie die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes in Frage gestellt, einen Verstoß gegen die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten begangen haben oder der Reichsbürgerbewegung zuzuordnen sein sollte. Darüber hinaus hat sie ihren Antrag auf Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises mehrfach – auch noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat – damit erklärt, dass auf Internetseiten von verschiedenen Landratsämtern, z. B. Neuburg-Schrobenhausen, zu lesen gewesen sei, dass man für die Verbeamtung einen Staatsangehörigkeitsausweis benötigt, wobei sie die in dem entsprechenden Antrag gemachten Angaben ausblendet. Schließlich gestalteten sich die Ausführungen der Beklagten zu ihrem Verständnis von der freiheitlich demokratischen Grundordnung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat weitgehend oberflächlich und stereotyp, zumal sie im Wesentlichen lediglich ihre diesbezüglichen Angaben aus der persönlichen Anhörung vor der Disziplinarbehörde wiederholt hat. Strategien dazu, wie sie persönlich mit Verschwörungstheorien umgehen werde, scheint sie kaum entwickelt zu haben (vgl. Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Senat, S. 3). Hieraus ergibt sich insgesamt, dass die Beklagte ihr damaliges Verhalten noch nicht in jeder Hinsicht reflektiert hat.
48
Dem Senat verbleiben gleichwohl keine Zweifel, dass sich die Beklagte von den in ihrem Antrag auf Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises gemachten Angaben und den Inhalten der verfahrensgegenständlichen Schreiben glaubhaft distanziert hat. Aussagen oder sonstige Hinweise darauf, dass die Beklagte die hierin zum Ausdruck gekommenen reichsbürgertypischen Ansichten weiterhin gutheißt, gibt es nicht. Auch hat sie nach den im Jahr 2017 begangenen Dienstpflichtverletzungen keine weiteren Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die eine verfassungswidrige Gesinnung nahelegen. Außer Herrn S., zu dem nach den glaubhaften Angaben der Beklagten bereits seit April 2018 kein Kontakt mehr besteht, hatte sie keine nachgewiesenen Kontakte zur Reichsbürgerbewegung oder anderen verfassungsfeindlichen Organisationen. Schließlich hat sie der Disziplinarbehörde und der Polizei die Daten von Herrn S. übermittelt und durch die Vorlage der mit ihm geführten WhatsApp-Chats zur Aufklärung des Sachverhalts aktiv beigetragen. Hinsichtlich der inneren Auseinandersetzung mit dem früheren Verhalten dürfen die Anforderungen in Ansehung der Persönlichkeit der Beklagten nicht überspannt werden. Die mangelnde intensive innere und ernsthafte Auseinandersetzung mit ihren Verfehlungen und die Externalisierungstendenzen dürften auf die Persönlichkeitsstruktur der Beklagten zurückzuführen sein. So bescheinigt ihr das Sachverständigengutachten eine eingeschränkte Reflexions- und Introspektionsfähigkeit, Widersprüchlichkeiten in der Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie eine generell sehr eingeschränkte Kommunikation ihrer eigenen Probleme (s. Gutachten S. 28 und S. 37).
49
3.2.2 Entlastend muss sich des Weiteren auswirken, dass die Beklagte aus einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis zu Herrn S. heraus und damit überwiegend fremdmotiviert handelte.
50
Die Beklagte hat weder den Antrag auf Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises noch die ihr vorgeworfenen Schreiben aus eigenem Antrieb verfasst, sondern wurde von Herrn S. durchaus offensiv hierzu motiviert. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass für die Beklagte eine Sehnsucht nach emotionaler Bindung und zunächst auch der Wunsch nach einer Beziehung mit Herrn S. handlungsleitend waren. Zwar wurde ihr nach eigenen Angaben bereits etwa im September/Oktober 2017 klar, dass es mit einer Beziehung nichts werden würde; bis Anfang April 2018 habe aber noch Kontakt zu Herrn S. bestanden, weil sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht von ihm habe lösen können, zumal er ihr auch nach Oktober 2017 noch Freundschaft und gemeinsame schöne Unternehmungen in Aussicht gestellt habe. Das Abhängigkeitsverhältnis der Beklagten zu Herrn S. zeigt sich auch an dem Umstand, dass sie sich – auch noch nachdem ihr klar war, dass sich der Wunsch nach einer Partnerschaft nicht erfüllen werde – von Herrn S. finanziell ausnutzen ließ. So übernahm sie ihren Angaben gegenüber dem Gutachter zufolge im Rahmen der wenigen persönlichen Treffen stets die Rechnung, auch für die Übernachtungen im Hotel. Darüber hinaus hat sie ihm 5000 Euro geliehen, von denen sie nur 4150 Euro zurückerhielt. Nachdem Herr S. ihr seine Privatinsolvenz offenbart hatte, hat die Beklagte – laut WhatsApp-Sprachnachricht im Januar/Februar 2018 – ein Konto eröffnet und ihm die EC-Karte hierfür gegeben.
51
Dieses Verhalten der Beklagten resultierte nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigengutachtens aus einer Persönlichkeitsakzentuierung mit abhängigen Persönlichkeitszügen. Der psychiatrische Gutachter führt hierzu nachvollziehbar aus, dass es der Beklagten in ihrer Biografie bisher nicht ausreichend gelungen ist, sich von abhängigen Beziehungsmustern zu ihren Eltern und Freunden zu lösen. Neben einer allgemein abhängigen und konfliktvermeidenden Beziehungsgestaltung ist bei ihr nach den gutachterlichen Feststellungen auch von einer unreif entwickelten Sexualität auszugehen. In der Kindheit und Jugend war es ihr nur in Teilen möglich, sich zu einer autonom agierenden Person zu entwickeln, die sich zum einen in konfliktbehafteten Situationen behaupten kann und die sich zum anderen ihrer psychosexuellen Identität bewusst ist und diese frei ausleben kann. Darüber hinaus zeichnet sich die Persönlichkeit der Beklagten durch eine schlecht ausgebildete Konfliktfähigkeit sowie allgemein konfliktvermeidendes Verhalten aus. Das Gutachten stellt weiter fest, dass zwar keine Persönlichkeitsstörung im Sinne der ICD-10, aber qualitative Auffälligkeiten in der Persönlichkeitsorganisation der Beklagten in Gestalt deutlich ausgeprägter abhängiger Persönlichkeitsmerkmale vorliegen. Demnach erfüllt die Beklagte mehrere Kriterien einer abhängigen Persönlichkeitsstörung nach ICD-10, nämlich in Gestalt einer generellen Furcht, verlassen zu werden oder auf sich selber angewiesen zu sein, einer Tendenz, eigene Bedürfnisse unter diejenigen der anderen unterzuordnen, sowie der Erlaubnis oder Ermunterung an andere, wichtige Entscheidungen in ihren Leben für sie zu treffen (s. Gutachten S. 33 ff.).
52
Vor diesem Hintergrund folgt der Senat den Ausführungen des Sachverständigen, dass die Beklagte – angetrieben von dem frustrierten Bedürfnis nach einer sexuell, aber auch emotional befriedigenden Beziehung und auch dem Wunsch, sich doch noch von ihrem Elternhaus lösen zu können – die Aussagen des Herrn S. zum Thema Bundesrepublik Deutschland übernahm. Die Entkräftung aufkommender leiser Zweifel durch Herrn S. gelang umso leichter, weil die Beziehung zu ihm bei der Beklagten das unbefriedigte Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit erfüllte, welches aus psychodynamischer Perspektive in einer gesunden Entwicklung durch die väterliche Rolle erfüllt wird. Die neu gewonnene vermeintliche Sicherheit durch Herrn S. ermöglichte es der Beklagten zudem, sich von der Mutter abzugrenzen und „endlich eine Sache allein durchzuziehen“ (vgl. Angaben der Beklagten unter B)7 S. 23 des Gutachtens). In diesem unbedingten Wunsch nach Emanzipation von ihrer Herkunftsfamilie und der Erfüllung ihrer sexuellen und partnerschaftlichen Bedürfnisse setzte die Beklagte die Beziehung zu Herrn S. unbeirrt fort und ignorierte sämtliche Warnungen von außen durch die Mutter, den Bruder aber auch durch das anlaufende Disziplinarverfahren.
53
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beklagte durch die Reifungsdefizite in ihrer psychosexuellen Entwicklung und insbesondere im Kontext der Beziehung zu Herrn S. im relevanten Zeitraum nicht so autonom handeln konnte, wie sie dies außerhalb einer derart gelagerten Beziehung hätte tun können, so dass am ehesten von einem fremdmotivierten Handeln auszugehen ist (Gutachten S. 44 f.).
54
3.2.3 Offen bleiben kann im vorliegenden Fall, ob die laut dem Gutachten nicht auszuschließende krankhafte seelische Störung (dysexekutives Syndrom / Störung der Exekutivfunktionen) im Zusammenwirken mit der Persönlichkeitsakzentuierung mit abhängigen Persönlichkeitszügen zu einer verminderten Schuldfähigkeit führt.
55
§ 21 StGB setzt voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB bei Tatbegehung erheblich eingeschränkt war. Bei der Steuerungsfähigkeit geht es um die Fähigkeit, entsprechend der Unrechtseinsicht zu handeln, also um Hemmungsvermögen, Willenssteuerung und Entscheidungssteuerung. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen (BGH, B.v. 30.9.2021 – 5 StR 325/21 – NStZ-RR 2022, 7/8 und LS. 1). Die daran anknüpfende Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung „erheblich“ war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte ohne Bindung an die Einschätzung Sachverständiger in eigener Verantwortung zu beantworten haben (BVerwG, B.v. 15.7.2019 – 2 B 8.19 – juris Rn. 11). Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise (BayVGH, U.v. 20.9.2021 – 16b D 19.1302 – juris Rn. 37 m.w.N.).
56
Wie bereits ausgeführt stellten die abhängigen Persönlichkeitszüge und der Wunsch nach einer emotional und sexuell erfüllenden Beziehung nach den Feststellungen des psychiatrischen Gutachtens für die Beklagte einen starken Antrieb dar, sich mit Herrn S. einzulassen, und führten zu einer Relativierung seiner Aussagen und einer herabgesetzt kritischen Haltung ihm gegenüber. Gleichzeitig fiel es der Beklagten durch die Einschränkungen der Exekutivfunktionen schwerer, sich diesen Anreizen und Impulsen zu widersetzen und ihr Verhalten an der bestehenden Rechtsordnung auszurichten (Gutachten S. 42). Die Fähigkeit der Beklagten, Anreize zu dem ihr zur Last liegenden Verhalten, zu dem sie von Herrn S. motiviert wurde, und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden, dürfte vor diesem Hintergrund erheblich eingeschränkt gewesen sein.
57
Ursächlich für die Verminderung der Steuerungsfähigkeit war mithin jedenfalls die Persönlichkeitsakzentuierung mit abhängigen Persönlichkeitszügen sowie – nicht ausschließbar – eine bereits im relevanten Zeitraum bestehende Einschränkung der Exekutivfunktionen. Zwar erfüllt nur das dysexekutive Syndrom das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung gemäß § 20 StGB, welches für sich genommen nicht zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit führte. Eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit dürfte allerdings bereits dann anzunehmen sein, wenn die festgestellte krankhafte seelische Störung im Zusammenwirken mit der Persönlichkeitsakzentuierung bei den Dienstpflichtverletzungen die Fähigkeit der Beklagten, sich normgerecht zu verhalten, im Vergleich zu einem voll schuldfähigen Menschen in erheblichem Maße eingeschränkt hat. Beide Ursachen sind in einer Gesamtbetrachtung zu würdigen, wobei es genügt, wenn die seelische Störung maßgebenden Einfluss auf die Steuerungsfähigkeit hatte (vgl. BGH, B.v. 30.7.2019 – 2 StR 172/19 – NStZ-RR 2020, 71/72; B.v. 25.1.2012 – 5 StR 482/11 – NStZ-RR 2012, 140/141; B.v. 9.4.1991 – 4 StR 120/91 – BeckRS 1991, 31082705).
58
Legt man – wie bereits ausgeführt – zugrunde, dass nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ vom Vorliegen der Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB auszugehen ist, und geht man mit dem Sachverständigen des Weiteren davon aus, dass es der Beklagten durch die Einschränkungen der Exekutivfunktionen schwerer fiel, sich dem Anreiz und Impuls zu widersetzen, Herrn S. Aussagen zu relativieren und diesen zu folgen, ist ein maßgebender Einfluss der seelischen Störung auf die Steuerungsfähigkeit zu bejahen. Da die abhängige Persönlichkeitsstruktur im Zusammenwirken hiermit insgesamt wohl zu einer erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit bei der Begehung der Dienstpflichtverletzungen geführt hat, dürfte vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB auszugehen sein.
59
Letztlich kann dies vorliegend aber offen bleiben. Denn Entlastungsgründe können sich aus allen Umständen ergeben, die in ihrer Gesamtheit geeignet sind, die Schwere des Pflichtenverstoßes erheblich herabzusetzen (BVerwG, U.v. 25.10.2007 – 2 C 43.07 – NVwZ-RR 2008, 335 Rn. 20 m.w.N.). Hierzu zählen entgegen der Auffassung des Klägers etwa auch gesundheitliche Beeinträchtigungen, die keine Minderung der Schuldfähigkeit zur Folge haben (vgl. etwa BVerwG, U.v. 15.12.2005 – 2 A 4.04 – NVwZ-RR 2006, 485 Rn. 67) oder auch die Beendigung problematischer Beziehungen (vgl. BVerwG, U.v. 25.8.2009 – 1 D 1.08 – NVwZ 2010, 713 Rn. 79). Vorliegend erreichen die glaubhafte Distanzierung der Beklagten und der Umstand, dass sie – begünstigt durch eine Persönlichkeitsakzentuierung mit abhängigen Persönlichkeitszügen – aus einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis heraus fremdmotiviert handelte, jedenfalls in ihrer Gesamtheit das Gewicht eines anerkannten Milderungsgrundes. Diese Umstände sind geeignet, die Schwere des Pflichtenverstoßes erheblich herabzusetzen.
60
4. Nach alledem geht der Senat von einem verbliebenen Restvertrauen in die Beklagte sowie davon aus, dass weitere Pflichtenverstöße gleicher Art nicht zu besorgen sind. Da – wie bereits ausgeführt – eine Zurückstufung bei der sich noch im Eingangsamt befindenden Beklagten nicht in Betracht kommt, wäre an sich nach Art. 9 Abs. 1 Satz 3 BayDG auf eine Kürzung der Dienstbezüge über einen Zeitraum von fünf Jahren zu erkennen. Mit dem Verwaltungsgericht hält der Senat vor dem Hintergrund der unverhältnismäßig langen Dauer jedenfalls des gerichtlichen Disziplinarverfahrens allerdings eine Kürzung für einen Zeitraum von drei Jahren zur erzieherischen Einwirkung auf die Beklagte für ausreichend, zugleich aber auch für geboten und verhältnismäßig. In Fällen, in denen – wie hier – eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme geboten ist, ist eine gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßende, unangemessene Verfahrensdauer bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sowie vor dem Hintergrund der damit notwendigerweise einhergehenden psychischen Belastung mildernd zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 10.12.2015 – 2 C 50.13 – juris Rn. 44 m.w.N.). Das über zwei Instanzen betriebene Disziplinarklageverfahren hat fünfeinhalb Jahre und damit auch unter Berücksichtigung des Erfordernisses einer psychiatrischen Begutachtung unverhältnismäßig lange gedauert, ohne dass die Beklagte hierzu durch von ihr zu vertretendes verfahrensverzögerndes Verhalten beigetragen hat.
61
Der Kürzungsbruchteil von 1/10 entspricht der ständigen Rechtsprechung für Beamte der dritten und vierten Qualifikationsebene, ehemals des gehobenen und höheren Dienstes (vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2001 – 1 D 29.00 – NVwZ-RR 2001, 768/769). Eine Abweichung hiervon ist vorliegend nicht geboten.
62
5. Nach alldem war die Berufung des Klägers mit der Kostenfolge des Art. 72 Abs. 1 Satz 1 BayDG zurückzuweisen. Das Urteil ist mit seiner Verkündung rechtskräftig geworden (Art. 64 Abs. 2 BayDG).