Titel:
Gegendemonstration und Platzverweis
Normenketten:
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 8 Abs. 1
PAG Art. 16 S. 1
ZPO § 172 Abs. 1
VWGO § 56 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 4
Leitsätze:
1. Eine Bewertung des Inhalts des mit einer Veranstaltung verfolgten kommunikativen Anliegens bzw. der Eignung oder Sinnhaftigkeit einer Veranstaltung im Hinblick auf den jeweils bezweckten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung steht den grundrechtsgebundenen staatlichen Stellen nicht zu. Unberührt hiervon bleibt allein die den zuständigen Behörden und Gerichten obliegende rechtliche Beurteilung, ob eine Veranstaltung den Versammlungsbegriff erfüllt. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Verfolgen die vereinzelt neben einer Demonstration herlaufenden Personen jeweils gleichgerichtete Zwecke, bringen jedoch ihre etwaigen Anliegen nicht erkennbar "gemeinsam" zum Ausdruck, sondern allenfalls individuell, fehlt die notwendige innere Verbundenheit für Art. 8 Abs. 1 GG. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. An einen mündlichen Platzverweis iSd Art. 16 S. 1 PAG dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Insbesondere genügt für die Bestimmtheit wegen der Eilbedürftigkeit und des dynamischen Demonstrationsgeschehens die Beschreibung "Nähe des Aufzugs". (Rn. 33 – 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fortsetzungsfeststellungsklage, Platzverweis, Gegendemonstration, Versammlungseigenschaft, Teilhabe an öffentlicher Meinungsäußerung, Verhindern einer Versammlung, Sperrwirkung des Versammlungsrechts, Zustellung, EGVP-Adresse, Versammlung, Ansammlung, Bestimmmtheitsgrundsatz
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 12.11.2021 – W 9 K 21.523
Fundstelle:
BeckRS 2024, 36823
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit zweier ihm im Rahmen einer Protestaktion am 14. April 2021 erteilten Platzverweise.
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Am 14. April 2021 um 18 Uhr fand – wie bereits des Öfteren – eine „mobile Versammlung“ der Gruppe „Eltern-stehen-auf Würzburg“ (im Folgenden: ESA) in der Würzburger Innenstadt statt. Der Kläger hat gleichzeitig mit sieben bis neun weiteren Personen den Aufzug rechts und links davon begleitet. Dem Kläger wurde von der Polizei in der Eichhornstraße und in der Karmelitenstraße/Juliuspromenade ein Platzverweis räumlich für die Nähe des Aufzugs und zeitlich bis zum Ende des Aufzugs erteilt. Anschließend wurde er kurzzeitig in Gewahrsam genommen.
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Am 15. April 2021 hat der Kläger beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg Klage erhoben zuletzt mit dem Antrag, festzustellen, dass die ihm am 14. April 2021 erteilten Platzverweise in der Eichhorn- und Karmelitenstraße nicht rechtmäßig waren. Zur Begründung hat er geltend gemacht, der Kläger und die weiteren begleitenden Personen hätten ihre Meinung kundgetan und gerufen, dass ESA eine Gruppe von Antisemiten sei und sie ihre Ansichten nicht teilen würden. Auch die pseudowissenschaftlichen Ausführungen seien kommentiert worden. Es seien nicht ganz so häufig Schimpfwörter gefallen wie am 15. Dezember 2020, aber mehrfach der Slogan „Geht nach Hause“. Die Versammlungsgesetze würden als Spezialgesetze dem allgemeinen Polizeirecht vorgehen. Er habe infolge der Platzverweise sein Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit aufgeben müssen.
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Der Beklagte führte aus, Beginn der Versammlung sei um 18:00 Uhr am Unteren Markt in Würzburg gewesen. Vereinzelt hätten Personen den Aufzug begleitet. Die Personengruppe habe nicht einheitlich agiert, sei nicht dauerhaft als Gruppe gelaufen und habe keinerlei Meinung ausgedrückt. Der Kläger habe häufig den Abstand zu den begleitenden Einsatzkräften verkürzt. Im Bereich der Eichhornstraße habe er den nötigen Abstand trotz Ermahnung nicht gewahrt und angefangen, unkontrolliert zu gestikulieren. Schließlich sei ihm ein Platzverweis erteilt worden. Zunächst sei er dem Platzverweis nachgekommen. Im Bereich der Juliuspromenade sei er jedoch erneut zum Aufzug hinzugekommen. Nach Ermahnung sei gegen ihn ein weiterer Platzverweis ausgesprochen und er sei schließlich in Gewahrsam genommen worden.
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Mit Urteil vom 12. November 2021 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Diese sei als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog zulässig. Es sei davon auszugehen, dass es sich auch beim zweiten Platzverweis um einen eigenständigen Verwaltungsakt und nicht lediglich um eine wiederholende Verfügung handle. Aufgrund der glaubhaften Aussagen des Zeugen PHM F. gehe das Gericht davon aus, dass bei der Gruppe des Klägers eine innere Verbundenheit sowie eine auf Kommunikation angelegte Entfaltung, gleichsam eine Meinung bildende Relevanz des Verhaltens der Gruppe, nicht vorgelegen habe. Der Kläger habe sich mal alleine, mal mit einer weiteren Person seitlich zum ESA-Aufzug bewegt. Der Zeuge habe den Eindruck eines Zusammenhalts verneint. Auch der Kläger habe nicht vorgetragen, dass er in direkter Nähe mindestens einer weiteren Person den ESA-Aufzug begleitet oder dass sonst eine hör- oder sichtbare Verbindung zu den übrigen Mitläufern bestanden habe. Vereinzelt, gleichsam wahllos neben einer mobilen Versammlung in einer belebten Fußgängerzone mitlaufende Personen seien folglich bereits nach ihrem äußeren Erscheinungsbild und Auftreten grundsätzlich nur schwerlich geeignet, den Eindruck einer gemeinschaftlichen Kundgebung zu erwecken. Darüber hinaus könne eine gemeinschaftliche meinungsbildende Verbindung dieser Einzelpersonen auch nicht durch die von ihnen getätigten Äußerungen hergestellt werden. Je mehr bereits der äußere Eindruck der Personen nicht den Anschein der gemeinschaftlichen Kundgebung erwecke, desto höhere Anforderungen seien an die Art und Weise des gemeinschaftlichen Kommunikationsvorbringens zu stellen. In konstantem Abstand laufende Einzelpersonen, die beispielsweise einheitliche Zeichen trügen oder Kundgebungsmaterialien wie Plakate mit inhaltlich gleichlautenden Aufschriften mit sich führten, könnten durchaus eine gemeinschaftliche Kundgebung darstellen. Für eine solche „Uniformität“ der ESA-Kritiker hinsichtlich ihrer Ausdrucksformen bestünden jedoch keine Anhaltspunkte. Der Kläger habe zwar vorgetragen, es sei auch gerufen worden, ESA sei eine Gruppe von Antisemiten, habe aber eingeräumt, dass auch Schimpfwörter und mehrfach die Aufforderung „Geht nach Hause“ gefallen seien. Von einer gemeinsamen Meinungsäußerung, also von einheitlichen Werturteilen, die meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit wirken sollten, könne bei dieser Gemengelage nicht gesprochen werden. Für einen Außenstehenden sei es nicht erkennbar, dass eine Person, die womöglich konstruktive Kritik an ESA übe, in Verbundenheit mit einer anderen, eventuell sogar auf der anderen Seite des Aufzugs befindlichen Person stehe, die sich mit ESA lediglich in Form von herablassend geäußerter Ablehnung auseinandersetze. In der Gesamtschau ergebe sich das Bild, dass der Kläger nicht im Kollektiv, sondern als Einzelperson seine Kritik gegen ESA habe kundtun wollen. Auch in tatbestandlicher Hinsicht seien die Platzverweise nicht zu beanstanden. Der Kläger habe gegen das Abstandsverbot des § 1 Abs. 1 Satz 2 12. BayIFSMV verstoßen. Dauer und Bestimmtheit der Platzverweise seien nicht zu beanstanden. Die Platzverweise seien auch verhältnismäßig gewesen.
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Zur Begründung seiner vom Senat mit Beschluss vom 26. April 2024 wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten zugelassenen Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor, die Berufung sei nicht zu verwerfen, da die Begründungsfrist eingehalten worden sei. Der Beschluss zur Zulassung der Berufung sei vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof an einen Anwalt übersandt worden, der den Kläger nicht vertrete und der kein Empfangsbekenntnis abgegeben habe. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts könne nicht dahinstehen bleiben, ob stets dieselben acht Personen den ESA-Aufzug begleitet hätten. Es sei widersprüchlich, wenn das Gericht die Aussage des POK S. heranziehe und feststelle, dass Personen seitlich zum ESA-Aufzug mitgelaufen seien. Hierin liege gerade das einheitliche und als Gruppe dauerhafte Agieren. Ziel sei es gewesen, den Aufzug zu begleiten, und nicht, ihn zu verhindern. Es sollte deutlich gemacht werden, dass es auch andere Meinungen gebe. Da die Polizei mehrere Personen erkannt habe, die den Aufzug im Sinne eines Gegenprotests begleitet hätten, sei eine Unterscheidung zwischen Protestierenden und Personen beim Einkaufen möglich gewesen. Bei einer Gegendemonstration zu einer mobilen Kundgebung dürfe nicht außer acht bleiben, dass auch eine Gegendemonstration schwieriger zu erkennen sei. Das Verwaltungsgericht habe nicht nachvollziehbar begründet, dass der Platzverweis ausreichend bestimmt gewesen sein solle. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung habe der Zeuge PHM F. angegeben, er habe dem Kläger mitgeteilt, bis zum Ende des Aufzugs dürfe er nicht die Nähe des Aufzugs aufsuchen. Dies reiche nicht aus, um dem Kläger klarzumachen, wo er sich nicht aufhalten dürfe. Bei einer mobilen Kundgebung stelle sich die Frage, welcher Ort konkret nicht aufgesucht werden solle; der Kläger habe nicht wissen können, welchen Weg die ESA-Kundgebung nehmen würde. Ein Platzverweis wäre dagegen bestimmbar gewesen, wenn er entweder für einzelne Straßen oder für die gesamte Würzburger Innenstadt ausgesprochen worden wäre.
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das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 12. Oktober 2021 abzuändern und festzustellen, dass der am 14. April 2021 dem Kläger gegenüber verhängte Platzverweis in der Eichhornstraße in Würzburg und der in der Karmelitenstraße in Würzburg verhängte Platzverweis rechtswidrig waren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Mangels (fristgerechte) Berufungsbegründung sei die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Im Übrigen werde auf die Stellungnahme im Zulassungsverfahren verwiesen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Die dem Kläger am 14. April 2021 in Würzburg erteilten Platzverweise waren rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog). Das Verwaltungsgericht hat die Fortsetzungsfeststellungsklage demnach zu Recht abgewiesen.
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1. Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde die Begründungsfrist vom Kläger eingehalten. Nach § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO ist eine vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Mangelt es an diesem Erfordernis, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 5 VwGO).
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Der erste Versand des Zulassungsbeschlusses am 2. Mai 2024 erfolgte an die EGVP-Adresse eines Anwalts, der lediglich eine Bürogemeinschaft mit dem bevollmächtigten Anwalt des Klägers gebildet hat, jedoch in diesem Verfahren nicht selbst bevollmächtigt und somit nicht empfangsberechtigt war (§ 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 172 Abs. 1 ZPO; Althammer in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024, § 85 ZPO Rn. 18). Diese Zustellung war insoweit nicht wirksam. Erst mit Zustellung an den bevollmächtigten Rechtsanwalt über EGVP am 15. August 2024 begann die Begründungsfrist zu laufen und wurde mit Eingang des Begründungsschriftsatzes vom 23. August 2024 eingehalten.
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2. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Fortsetzungsfeststellungsklage zu Recht abgewiesen, da die dem Kläger in der Eichhornstraße und in der Karmelitenstraße/Juliuspromenade erteilten Platzverweise rechtmäßig waren.
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a) Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog zulässig. Sie ist statthaft, da die dem Kläger auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PAG erteilten Platzverweise Verwaltungsakte sind, die sich bereits vor Klageerhebung erledigt haben.
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Der Kläger verfügt auch über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog erforderliche berechtigte Fortsetzungsfeststellungsinteresse.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann das berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein. Es ist typischerweise in den anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses gegeben (vgl. BVerwGE 158, 301 Rn. 29 m.w.N. = NVwZ 2017, 1466; NVwZ 2019, 649 Rn. 10 = Buchholz 442.066 § 47 TKG Nr. 5). Daneben kann das Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei Maßnahmen vorliegen, die sich zum einen typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie während des Andauerns der mit ihnen verbundenen Beschwer keiner Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugänglich sind, und die sich zum anderen als qualifizierte (tiefgreifende, gewichtige bzw. schwerwiegende) Grundrechtseingriffe darstellen können (BVerwG, U.v. 13.6.2024 – 1 C 2.23 – juris Rn. 12 f.; U.v. 24.4.2024 – 6 C 2.22 – juris Rn. 16, 20 ff.; U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 23). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 3.3.2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <89 f.>) gebietet die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes, wenn die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist. Demgegenüber besteht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht, wenn die Abweichungen bloße Modalitäten der Versammlungsdurchführung betroffen haben.
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Zumindest im Hinblick auf die – den Vortrag des Klägers als richtig unterstellt – im Raum stehende schwerwiegende Verletzung seines Grundrechts aus Art. 8 GG (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 6 C 2.22 – juris Rn. 23; U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 23) durch seinen Ausschluss aus der (Gegen-)Versammlung wäre demnach von einem qualifizierten Grundrechtseingriff auszugehen. Durch die Platzverweise wäre seine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung im Rahmen einer Versammlung beendet worden und käme damit ein schwerwiegender Eingriff in den Kernbereich des Art. 8 GG in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2024 – 10 ZB 23.1058 – juris Rn. 8). Auch handelt es sich bei den streitgegenständlichen Platzverweisen um sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte, die ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugänglich sind.
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b) Die Klage ist jedoch unbegründet, da die erteilten Platzverweise nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PAG rechtmäßig waren.
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aa) Die Anwendung der polizeirechtlichen Rechtsgrundlage des Art. 16 PAG scheitert nicht bereits am Vorrang des Versammlungsrechts. Die Rechtsfigur der Sperrwirkung des Versammlungsrechts („Polizeifestigkeit“) gegenüber der Anwendung von Vorschriften des allgemeinen Landespolizeirechts (BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 1 C 1/22 – juris Rn. 27, 32, 35 ff.) greift nicht, da es sich bei dem Gegenprotest am 14. April 2021 nicht um eine Versammlung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG handelte.
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(1) Art. 8 Abs. 1 GG verleiht allen Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln (vgl. auch Art. 1 Abs. 1 BayVersG).
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(a) Eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, B.v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 – BVerfGE 128, 226 <250> – juris Rn. 63 m.w.N.). Art. 2 Abs. 1 BayVersG definiert eine Versammlung als eine Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Der Schutz der Versammlungsfreiheit ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen Meinungen in verbaler Form kundgegeben oder ausgetauscht werden, insbesondere argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – auch schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <104>; B.v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05 – juris Rn. 32; B.v. 27.10.2016 – 1 BvR 458/10 – BVerfGE 143, 161 – juris Rn. 110). Eine (Gegen-)Versammlung kann auch dann vorliegen, wenn sich Teilnehmer mit einer Zusammenkunft (z.B. unter dem Motto „Gesicht zeigen“) gegen die Aussage des von einer anderen Versammlung ausgerufenen Mottos stellen wollen und die Anwesenheit erkennbar von dem Willen der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner geprägt ist. Die Versammlungseigenschaft einer Gruppe kann nicht deshalb verneint werden, weil nach ihrem Willen weder mit den Teilnehmern einer anderen Versammlung noch mit der Öffentlichkeit eine verbale Kommunikation stattfinden soll. Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch nonverbal, durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, geäußert werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass z.B. der physischen Präsenz in einer die gegenteilige politische Ausrichtung zu erkennen gebenden Aufmachung gepaart mit dem Schweigen der Gruppe eine eigenständige Aussage zukommen kann. Sofern sich der von der Gruppe geleistete Beitrag zu der öffentlichen Meinungsbildung darin erschöpfen sollte, Ablehnung gegenüber dem Versammlungsmotto einer anderen Gruppe zu bekunden, wäre dies unschädlich, da es auf die Wertigkeit der geäußerten Meinung nicht ankommt (BVerfG, B.v. 10.12.2010 – 1 BvR 1402/06 – juris Rn. 22, 23).
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(b) Davon abzugrenzen ist eine Ansammlung als das bloße physische Zusammentreffen von zumindest zwei Personen aus einem äußeren Anlass heraus ohne innere Verbindung, wie etwa bei Schaulustigen bei einem Autounfall oder Wartenden an einer Ampel, bei denen die individuelle, wenn auch unter Umständen (zufällig) gleichgerichtete Zweckverfolgung nicht zu einem gemeinsamen Anliegen wird (VGH Kassel, B.v. 8.4.2020 – 8 B 913/20.N – BeckRS 2020, 5639 Rn. 25; Dürig /Herzog/Scholz, GG, Stand April 2024, Art. 8 Rn. 47; Kniesel/Poscher in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Versammlungsrecht Rn. 52). An die Gemeinsamkeit des Zweckes dürfen nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden (Dürig/Herzog/Scholz/ Depenheuer, GG, Stand April 2024, Art. 8 Rn. 47, 48). Allerdings ist es im Hinblick auf das Ziel einer kommunikativen Wirkung erforderlich, dass die Gemeinschaftlichkeit z.B. durch eine Erörterung in Rede und Gegenrede oder eine kollektive Meinungskundgabe für Außenstehende wahrnehmbar wird (vgl. zur Beurteilung des Gepräges einer Veranstaltung z.B. BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 42; zu Demonstrationen als gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen BVerfG, U.v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 – juris Rn. 63).
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(c) Eine Bewertung des Inhalts des mit einer Veranstaltung verfolgten kommunikativen Anliegens bzw. der Eignung oder Sinnhaftigkeit einer Veranstaltung sowie der in ihrem Rahmen geplanten Aktionen und Ausdrucksformen im Hinblick auf den jeweils bezweckten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung steht den grundrechtsgebundenen staatlichen Stellen nicht zu (BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <109 ff.>, B.v. 21.9.2020 – 1 BvR 2152/20 – NVwZ 2020, 1505 Rn. 17). Unberührt hiervon bleibt allein die den zuständigen Behörden und den Gerichten obliegende rechtliche Beurteilung, ob eine Veranstaltung den Versammlungsbegriff erfüllt (BVerfG, B.v. 12.7.2001 – 1 BvQ 28/01 u. a. – NJW 2001, 2459 <2461>; BVerwG, U.v. 24.5.2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 23).
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Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, ist entscheidend, ob eine derart gemischte Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist. Kann ein Übergewicht des einen oder des anderen Bereichs nicht zweifelsfrei festgestellt werden, bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung zu behandeln ist (BVerfG, B.v. 27.10.2016 – 1 BvR 458/10 – BVerfGE 143, 161 Rn. 112 f., BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 42; U.v. 24.5.2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 21).
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(2) Nach diesen Maßstäben ist nach Auffassung des Senats bei der hier zu beurteilenden Veranstaltung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht davon auszugehen, dass der Kläger mit den anderen Personen, die seitlich der Demonstration der ESA nebenherliefen, eine Gegendemonstration gebildet hat, weil es insoweit an einer inneren Verbundenheit mit einer gemeinsamen Zweckverfolgung gefehlt hat. Es wird insoweit gemäß § 130b Satz 2 VwGO auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des Verwaltungsgerichts Bezug genommen (Bl. 12 bis 14 UA) und ergänzend Folgendes ausgeführt:
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Im Gegensatz zu einer früheren Demonstration am 15. Dezember 2020 (10 B 22.2178) war bei dem Protest am 14. April 2021 schon nicht erkennbar, dass sich die Gegendemonstranten planmäßig und verabredet bereits zu Beginn der Demonstration der ESA gemeinsam versammelt hätten. Nach der Stellungnahme des POK S. vom 14. April 2021 (Bl. 21 der Gerichtsakte W 9 K 21.523) haben sich nur vereinzelt auch Kritiker am Startplatz der Demonstration der ESA eingefunden. Aus den Zeugenaussagen der Polizisten ergibt sich nicht, dass die Personen, die die Demonstration der ESA begleitet haben, als Gruppe mit beispielsweise gleicher Kleidung bzw. Aufmachung einer bestimmten Szene zugehörig erkennbar gewesen seien. Die Personen liefen nicht in Gruppen bzw. Kleingruppen neben der Demonstration her, sondern nur vereinzelt links und rechts des Aufzugs. So spricht PHM F. in der Zeugeneinvernahme in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht davon, dass vereinzelte Personen abseits dieser Versammlung gewesen und parallel mitgelaufen seien. Er habe auch nicht differenzieren können, wer gegen die Versammlung und wer einkaufen gewesen sei. So war es im Gegensatz zu der früheren Demonstration offensichtlich auch nicht erforderlich, Maßnahmen zu treffen, um ein Zusammentreffen der beiden Gruppierungen zu verhindern.
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Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ausgeführt, dass sie ungefähr acht bis zehn Personen gewesen seien, die die Demonstrationen der ESA regelmäßig begleitet und auch ihre Meinung kundgetan hätten. Im Gegensatz zur früheren Demonstration war jedoch ein koordiniertes Vorgehen nicht im Ansatz erkennbar. Gemeinsames Agieren, wie beispielsweise bei der Demonstration am 15. Dezember 2020 durch gemeinsame mehrmaligen Versuche von Blockaden, konnte nicht festgestellt werden, worauf auch POK S. in seiner Stellungnahme vom 14. April 2021 hinwies. (Gemeinsame) Kundgabemittel wurden ebenfalls nicht mitgeführt. Ob im vorliegenden Verfahren die Rufe der neben dem Demonstrationszug mitlaufenden Personen überhaupt als Meinungsäußerung beurteilt werden können, kann insoweit dahinstehen. In der Stellungnahme von POK S. heißt es im Übrigen, die bis zu acht mitlaufenden Personen hätten sich teils ruhig verhalten, teils hätten sie lautstark Schmähungen in Richtung der Versammlungsteilnehmer gerufen. Im Falle der ruhig mitlaufenden Personen ist unklar, ob sie dabei die gegen die ESA gerichteten Protestrufe oder die Anliegen der ESA unterstützen wollten oder nur zum beobachtenden Publikum gehörten. Es ist demnach nicht feststellbar, dass die ca. acht Personen einen gemeinsamen kommunikativen Zweck verfolgt hätten, insbesondere nicht im Sinne einer kollektiven Meinungskundgabe.
31
Zusammenfassend ergibt sich vielmehr der Gesamteindruck, dass zwar möglicherweise ein Teil oder alle der vereinzelt neben der Demonstration herlaufenden Personen jeweils gleichgerichtete Zwecke verfolgt haben mögen; ihre etwaigen Anliegen haben sie jedoch nicht erkennbar „gemeinsam“ zum Ausdruck gebracht, sondern allenfalls individuell verfolgt. Eine innere Verbundenheit war nicht ersichtlich. Somit war der Kläger nicht Teilnehmer einer Gegendemonstration und kann sich insoweit nicht auf den Schutz des Versammlungsgrundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen.
32
(3) Die beiden Platzverweise nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PAG waren rechtmäßig. Auch insoweit wird gemäß § 130b Satz 2 VwGO auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil (Bl. 14 ff. UA) Bezug genommen.
33
Soweit der Kläger im Berufungsverfahren (allein) darauf abstellt, dass die Platzverweise nicht ausreichend bestimmt gewesen seien, ist dies nicht nachvollziehbar. Der Zeuge in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat insoweit angegeben, dass er dem Kläger mitgeteilt habe, er dürfe bis zum Ende des Aufzugs nicht wieder die Nähe des Aufzugs aufsuchen. Der Kläger hat dieser Aussage nicht widersprochen. Mit dieser Formulierung des Platzverweises ist nicht gegen das Bestimmtheitsgebot nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG verstoßen worden. Maßgebend sind gerade bei mündlichen polizeilichen Anordnungen, die ohne Verzug an Ort und Stelle getroffen werden müssen, die konkreten Umstände des Einzelfalles. An einen mündlichen Platzverweis nach Art. 16 Satz 1 PAG dürfen dabei keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Es kommt vor allem darauf an, wie der Betroffene die Maßnahme verstehen muss (BayVGH, U.v. 20.03.2001 – 24 B 99.2709 – juris Rn. 49).
34
In Anbetracht der Eilbedürftigkeit der Maßnahmen und des dynamischen Demonstrationsgeschehens war die Beschreibung „Nähe des Aufzugs“ ausreichend. Damit war für den Kläger klar erkennbar, dass er den Bereich des Demonstrationszuges der ESA meiden musste. Andere Möglichkeiten, wie beispielsweise die sofortige Aushändigung eines Lageplans mit Eintragung des geplanten Demonstrationszuges, waren in dieser Situation nicht möglich. Zwar wäre es grundsätzlich auch denkbar gewesen, wie der Kläger meint, den Platzverweis für einzelne Straßen oder die gesamte Innenstadt auszusprechen. Dies wäre jedoch in Anbetracht weniger einschneidender Möglichkeiten, nämlich eine Begrenzung wie durch die erteilten Platzverweise ausgesprochen, unverhältnismäßig gewesen.
35
Soweit durch die Platzverweise die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) berührt wurden, waren die Platzverweise jedenfalls nicht unverhältnismäßig. Sie stellten allenfalls eine räumlich und zeitlich geringfügige Einschränkung dar und zielten vor allem nicht darauf ab, die Meinungsäußerung als solche zu verbieten. Im Hinblick auf die Gesundheitsgefährdung Dritter (Versammlungsteilnehmer und Einsatzkräfte der Polizei) angesichts der Corona-Pandemie und auf die mehrmalige vorherige Ermahnung des Klägers, die vorgeschriebenen Abstände einzuhalten, waren die Platzverweise angemessen und verhältnismäßig.
36
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
37
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
38
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.