Inhalt

VGH München, Urteil v. 06.12.2024 – 10 B 22.2177
Titel:

Erfolgreiche Fortsetzungsfeststellungsklage gegen einen Platzverweis im Rahmen einer Protestaktion

Normenketten:
GG Art. 8 Abs. 1
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4
BayVersG Art. 2 Abs. 1
BayPAG Art. 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Erst mit einer Auflösungsverfügung durch die Polizei, beispielsweise wegen einer Grundrechtskollision mit der Versammlungsfreiheit der Teilnehmer einer anderen Demonstration, oder bei Vorliegen einer Verhinderungsblockade endet der Grundrechtsschutz des Art. 8 Abs. 1 GG und ist der Erlass von Maßnahmen nach allgemeinem Polizeirecht, die – wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme – die Teilnahme an einer Versammlung beenden, möglich. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine von einer Versammlung zu unterscheidende bloße Ansammlung das bloße physische Zusammentreffen von zumindest zwei Personen aus einem äußeren Anlass heraus ohne innere Verbindung, wie etwa bei Schaulustigen bei einem Autounfall oder Wartenden an einer Ampel, bei denen die individuelle, wenn auch unter Umständen (zufällig) gleichgerichtete Zweckverfolgung nicht zu einem gemeinsamen Anliegen wird (Anschluss an VGH Kassel BeckRS 2020, 5639). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Unerheblich für die Frage des Vorliegens einer Versammlung ist zudem eine fehlende Kooperationsbereitschaft von Gegendemonstranten, beispielsweise durch Wegdrehen oder die Weigerung, einen Versammlungsleiter zu benennen; es ist gerade ein typisches Merkmal von spontanen Versammlungen und auch von nicht angemeldeten Versammlungen, dass es keinen Versammlungsleiter gibt bzw. dass sich niemand dazu bereit erklärt. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch nonverbal, durch schlüssiges Verhalten geäußert werden. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fortsetzungsfeststellungsklage, Berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse, Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts, Platzverweis, Versammlung, Gegendemonstration, Abgrenzung einer Versammlung von einer bloßen Ansammlung, Abgrenzung einer (bloßen) Störung einer Demonstration durch Gegendemonstranten von einer sogenannten Verhinderungsblockade, Ansammlung, Störung, Verhinderungsblockade, nonverbale Kommunikation
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 12.11.2021 – W 9 K 21.248
Fundstellen:
RÜ 2025, 287
LSK 2024, 36808
BeckRS 2024, 36808

Tenor

I. Unter Abänderung von Ziffer I. des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg wird festgestellt, dass der am 15. Dezember 2020 in der Nähe der S.str. ... in W. erteilte Platzverweis rechtswidrig war.
II. Unter Abänderung von Ziffer II. des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg trägt der Beklagte die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines ihm im Rahmen einer Protestaktion am 15. Dezember 2020 erteilten Platzverweises.
2
Am 15. Dezember 2020 gegen 17:30 Uhr fand die 81. „mobile Versammlung“ der Gruppe „Eltern-stehen-auf W.“ (im Folgenden: ESA) in der W.er Innenstadt statt. Die Teilnehmer versammelten sich unterhalb der A. M.brücke. Gleichzeitig konnten auf der A. M.brücke weitere ca. 40 Personen festgestellt werden, die von der Polizei als der linken Szene zugehörig und als Gegenprotest eingestuft wurden. Der Gegenprotest traf mit noch ungefähr 25 Teilnehmern nach einer Routenänderung des ESA-Aufzugs erst wieder im Bereich der S.straße auf den nach allen Seiten von Polizeikräften abgesicherten Aufzug der ESA. Teilnehmer des Gegenprotests riefen dabei unter anderem „Geht nach Hause“, „Verpisst Euch“, „Haltet Euer Maul“, „Haltet die Fresse“, „Solange Ihr es nicht schafft, Euch von Nazis und Holocaust-Leugnern zu distanzieren, überlassen wir Euch nicht diese Straße“, „Antisemitismus bedeutet keinen Frieden, Antisemitismus bedeutet keine Freiheit, Antisemitismus bedeutet keine Demokratie“ und „Mit Antisemiten gibt es keinen Frieden“. Auf Höhe der Elefantengasse gelangten fünf bis sieben Personen des Gegenprotests vor den Aufzug. Nach Aufforderung durch die Polizei räumten alle bis auf eine Person, den Kläger im Parallelverfahren 10 B 22.2178, den Weg frei. Diese Person wurde der Bereitschaftspolizei übergeben. Im weiteren Verlauf hat sich auch der Kläger im vorliegenden Verfahren vor den Aufzug gestellt. Er wurde von der Polizei zur Seite gedrängt und ebenfalls der Bereitschaftspolizei übergeben, die ihm den streitgegenständlichen Platzverweis erteilte.
3
Die daraufhin vom Kläger erhobene Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Platzverweises hat das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg nach Einvernahme von Zeugen in der mündlichen Verhandlung mit Urteil vom 12. November 2021 abgewiesen. Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei zulässig, da der Kläger einen unzulässigen Eingriff in die Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) geltend mache. Die Klage sei jedoch unbegründet, da der Kläger nicht Teilnehmer einer verfassungsrechtlich geschützten Versammlung gegen ESA gewesen sei und somit das Versammlungsgesetz keine Sperrwirkung entfalte. Hauptanliegen des Klägers und der weiteren Teilnehmer des Gegenprotests sei es gewesen, die Versammlung von ESA zu unterbinden und unmöglich zu machen. Nach Auffassung des Gerichts fehle es an einer nach außen sichtbaren inneren Verbundenheit der Gruppe des Klägers durch gemeinsames Verhalten. Von einer gemeinsamen Meinungsäußerung könne nicht gesprochen werden. Nach dem Gesamtbild der Rufe sei überwiegend von verbalen Ausfällen in Richtung der ESA auszugehen. Nachdem lediglich zwei Megaphone und keinerlei Banner oder sonstige Kundgebungsmaterialien mitgeführt worden seien, sei auch nicht anhand des sonstigen Auftretens des Gegenprotests eine gemeinsame Meinungskundgabe erkennbar gewesen. Ebenso sei der Platzverweis in tatbestandlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.
4
Zur Begründung seiner vom Senat mit Beschluss vom 11. Oktober 2022 wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassenen Berufung führt der Kläger aus, bei dem Gegenprotest habe es sich um eine Versammlung gehandelt. Auch nach Darstellung des Zeugen LPD W. hätten erkennbar 25 bis 30 Personen ihre Meinung mit kommunikativen Mitteln und mit einem gemeinsamen Kommunikationsanliegen durch lautes Rufen kundgetan. Der Kläger habe sich mit weiteren Menschen versammelt und sie hätten auf das antisemitische Gedankengut innerhalb der Mitglieder der ESA aufmerksam machen wollen. Sie hätten kommunizieren wollen, dass es in W. auch Menschen gebe, die die Meinungsäußerung der ESA zur sogenannten „Corona-Diktatur“ nicht teilen würden. Die Benutzung des mitgeführten Megaphons sei ihnen von der Polizei untersagt worden. Es habe sich nicht um eine sogenannte Verhinderungsblockade gehandelt.
5
Der Kläger beantragt,
6
das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 12. November 2021 abzuändern und festzustellen, dass der am 15. Dezember 2020 dem Kläger gegenüber verhängte Platzverweis in der Nähe der S.straße ... in W. rechtswidrig war.
7
Der Beklagte beantragt,
8
die Berufung zurückzuweisen.
9
Er verteidigt das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts. Zur Begründung verweist er zunächst auf sein Vorbringen im Zulassungsverfahren. Die Beteiligten hätten sich nicht kooperativ verhalten, sondern sich weggedreht und seien weggegangen. Der Schutz der Versammlungsfreiheit ende dort, wo es nicht um die kritische Teilnahme, sondern nur noch um die Verhinderung einer Versammlung gehe. In den Aussagen „Geht nach Hause“ sowie „Verpisst euch“ könne keine öffentliche Meinungsbekundung erkannt werden.
10
Am 2. Dezember 2024 fand mündliche Verhandlung vor dem Senat statt, in deren Rahmen die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten eingehend erörtert wurde.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten beider Instanzen sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung.

Entscheidungsgründe

12
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet, denn die Klage ist zulässig und begründet. Demgemäß ist das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 12. November 2021 abzuändern und auf die Klage des Klägers hin festzustellen, dass der ihm gegenüber am 15. Dezember 2020 in der Nähe der S.straße ... in W. erteilte Platzverweis rechtswidrig war.
13
1. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog zulässig. Sie ist statthaft, da der dem Kläger auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PAG erteilte Platzverweis ein Verwaltungsakt ist, der sich bereits vor Klageerhebung erledigt hat.
14
Der Kläger verfügt auch über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Platzverweises.
15
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann das berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein. Es ist typischerweise in den anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses gegeben (vgl. BVerwGE 158, 301 Rn. 29 m.w.N. = NVwZ 2017, 1466; NVwZ 2019, 649 Rn. 10 = Buchholz 442.066 § 47 TKG Nr. 5). Daneben kann das Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei Maßnahmen vorliegen, die sich zum einen typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie während des Andauerns der mit ihnen verbundenen Beschwer keiner Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugänglich sind, und die sich zum anderen als qualifizierte (tiefgreifende, gewichtige bzw. schwerwiegende) Grundrechtseingriffe darstellen können (BVerwG, U.v. 13.6.2024 – 1 C 2.23 – juris Rn. 12 f.; U.v. 24.4.2024 – 6 C 2.22 – juris Rn. 16, 20 ff.; U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 23). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 3.3.2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <89 f.>) gebietet die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes, wenn die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist. Demgegenüber besteht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht, wenn die Abweichungen bloße Modalitäten der Versammlungsdurchführung betroffen haben.
16
Zumindest im Hinblick auf die – den Vortrag des Klägers als richtig unterstellt – im Raum stehende schwerwiegende Verletzung seines Grundrechts aus Art. 8 GG (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 6 C 2.22 – juris Rn. 23; U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 23) durch seinen Ausschluss aus der (Gegen-)Versammlung wäre demnach von einem qualifizierten Grundrechtseingriff auszugehen. Durch den Platzverweis wäre seine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung im Rahmen einer Versammlung beendet worden und käme damit ein schwerwiegender Eingriff in den Kernbereich des Art. 8 GG in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2024 – 10 ZB 23.1058 – juris Rn. 8). Auch handelt es sich bei dem streitgegenständlichen Platzverweis um einen sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakt, der ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugänglich ist.
17
2. Die Klage ist begründet. Der dem Kläger erteilte Platzverweis war rechtswidrig und verletzte ihn somit in seinen Rechten gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog.
18
a) Die Anwendung der polizeirechtlichen Rechtsgrundlage des Art. 16 PAG ist bereits wegen des Vorrangs des Versammlungsrechts ausgeschlossen.
19
Unabhängig von der Frage, ob das Bayerische Versammlungsgesetz abschließende Regelungen für die Abwehr aller Gefahren, die im Zusammenhang mit Versammlungen auftreten können, enthält und deshalb wegen des Grundsatzes des Vorrangs des spezielleren Gesetzes die Anwendbarkeit des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes sperrt, ergibt sich die Begrenzung für die Anwendung des Landespolizeirechts („Polizeifestigkeit“) jedenfalls aus der Schutzwirkung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG (BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 27, 32 ff., 35 ff.). Für Beschränkungen der Versammlungsteilnahme stehen der Polizei lediglich die abschließend versammlungsgesetzlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote, für die im Interesse des wirksamen Grundrechtsschutzes strengere Anforderungen bestehen als für ein Einschreiten auf landespolizeirechtlicher Grundlage. Nach allgemeinem Polizeirecht erlassene Maßnahmen, die – wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme – die Teilnahme an einer Versammlung beenden, sind rechtswidrig, solange nicht die Versammlung gemäß Art. 15 Abs. 4 BayVersG aufgelöst oder der (einzelne) Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage (Art. 15 Abs. 5 BayVersG) von der Versammlung ausgeschlossen worden ist (BVerfG, B.v. 30.4.2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180 <1182>; B.v. 26.10.2004 – 1 BvR 1726/01 – NVwZ 2005, 80). Erst mit der Auflösungsverfügung durch die Polizei, beispielsweise wegen einer Grundrechtskollision mit der Versammlungsfreiheit der Teilnehmer der anderen Demonstration, oder bei Vorliegen einer Verhinderungsblockade endet der Grundrechtsschutz des Art. 8 Abs. 1 GG (Kniesel/Poscher in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Versammlungsrecht Rn. 440 ff.).
20
b) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und des Beklagten handelte es sich bei dem Gegenprotest am 15. Dezember 2020, bei dem der Kläger Teilnehmer war, um eine Versammlung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 BayVersG.
21
aa) Art. 8 Abs. 1 GG verleiht allen Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln (vgl. auch Art. 1 Abs. 1 BayVersG).
22
(1) Eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, B.v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 – BVerfGE 128, 226 <250> – juris Rn. 63 m.w.N.). Art. 2 Abs. 1 BayVersG definiert eine Versammlung als eine Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Der Schutz der Versammlungsfreiheit ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen Meinungen in verbaler Form kundgegeben oder ausgetauscht werden, insbesondere argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – auch schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <104>; B.v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05 – juris Rn. 32; B.v. 27.10.2016 – 1 BvR 458/10 – BVerfGE 143, 161 – juris Rn. 110). Eine (Gegen-)Versammlung kann auch dann vorliegen, wenn sich Teilnehmer mit einer Zusammenkunft (z.B. unter dem Motto „Gesicht zeigen“) gegen die Aussage des von einer anderen Versammlung ausgerufenen Mottos stellen wollen und die Anwesenheit erkennbar von dem Willen der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner geprägt ist. Die Versammlungseigenschaft einer Gruppe kann nicht deshalb verneint werden, weil nach ihrem Willen weder mit den Teilnehmern einer anderen Versammlung noch mit der Öffentlichkeit eine verbale Kommunikation stattfinden soll. Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch nonverbal, durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, geäußert werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass z.B. der physischen Präsenz in einer die gegenteilige politische Ausrichtung zu erkennen gebenden Aufmachung gepaart mit dem Schweigen der Gruppe eine eigenständige Aussage zukommen kann. Sofern sich der von der Gruppe geleistete Beitrag zu der öffentlichen Meinungsbildung darin erschöpfen sollte, Ablehnung gegenüber dem Versammlungsmotto einer anderen Gruppe zu bekunden, wäre dies unschädlich, da es auf die Wertigkeit der geäußerten Meinung nicht ankommt (BVerfG, B.v. 10.12.2010 – 1 BvR 1402/06 – juris Rn. 22, 23).
23
(2) Davon abzugrenzen ist eine Ansammlung als das bloße physische Zusammentreffen von zumindest zwei Personen aus einem äußeren Anlass heraus ohne innere Verbindung, wie etwa bei Schaulustigen bei einem Autounfall oder Wartenden an einer Ampel, bei denen die individuelle, wenn auch unter Umständen (zufällig) gleichgerichtete Zweckverfolgung nicht zu einem gemeinsamen Anliegen wird (VGH Kassel, B.v. 8.4.2020 – 8 B 913/20.N – BeckRS 2020, 5639 Rn. 25; Dürig /Herzog/Scholz, GG, Stand April 2024, Art. 8 Rn. 47; Kniesel/Poscher in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Versammlungsrecht Rn. 52). An die Gemeinsamkeit des Zweckes dürfen nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden (Dürig/Herzog/Scholz/ Depenheuer, GG, Stand April 2024, Art. 8 Rn. 47, 48). Allerdings ist es im Hinblick auf das Ziel einer kommunikativen Wirkung erforderlich, dass die Gemeinschaftlichkeit z.B. durch eine Erörterung in Rede und Gegenrede oder eine kollektive Meinungskundgabe für Außenstehende wahrnehmbar wird (vgl. zur Beurteilung des Gepräges einer Veranstaltung z.B. BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 42; zu Demonstrationen als gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen BVerfG, U.v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 – juris Rn. 63).
24
(3) Eine Bewertung des Inhalts des mit einer Veranstaltung verfolgten kommunikativen Anliegens bzw. der Eignung oder Sinnhaftigkeit einer Veranstaltung sowie der in ihrem Rahmen geplanten Aktionen und Ausdrucksformen im Hinblick auf den jeweils bezweckten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung steht den grundrechtsgebundenen staatlichen Stellen nicht zu (BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <109 ff.>, B.v. 21.9.2020 – 1 BvR 2152/20 – NVwZ 2020, 1505 Rn. 17). Unberührt hiervon bleibt allein die den zuständigen Behörden und den Gerichten obliegende rechtliche Beurteilung, ob eine Veranstaltung den Versammlungsbegriff erfüllt (BVerfG, B.v. 12.7.2001 – 1 BvQ 28/01 u. a. – NJW 2001, 2459 <2461>; BVerwG, U.v. 24.5.2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 23).
25
Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, ist entscheidend, ob eine derart gemischte Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist. Kann ein Übergewicht des einen oder des anderen Bereichs nicht zweifelsfrei festgestellt werden, bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung zu behandeln ist (BVerfG, B.v. 27.10.2016 – 1 BvR 458/10 – BVerfGE 143, 161 Rn. 112 f., BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1.22 – juris Rn. 42; U.v. 24.5.2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 21).
26
(4) Der Schutz des Art. 8 GG endet dort, wo es nicht um die – wenn auch kritische – Teilnahme an der Versammlung, sondern um deren Verhinderung geht. Die Beteiligung an einer Versammlung setzt zwar keine Unterstützung des Versammlungsziels voraus, sondern erlaubt auch Widerspruch und Protest. Wohl aber verlangt sie die Bereitschaft, die Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen und abweichende Ziele allein mit kommunikativen Mitteln zu verfolgen. Wer dagegen eine Versammlung in der Absicht aufsucht, sie durch seine Einwirkung zu verhindern, kann sich nicht auf das Grundrecht aus Art. 8 GG berufen. Das gilt auch, wenn er dabei seinerseits im Verein mit anderen auftritt. Der Umstand, dass mehrere Personen zusammenwirken, bringt diese nicht in den Genuss der Versammlungsfreiheit, wenn der Zweck ihres Zusammenwirkens nur in der Unterbindung einer Versammlung besteht (BVerfG, B.v. 11.6.1991 – 1 BvR 772/90 – BVerfGE 84, 203 <209 ff.> = juris Rn. 19). Geschützt sind dagegen Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer ihre Meinung zusätzlich oder ausschließlich auf andere Weise als in verbaler Form, etwa durch ihre bloße Anwesenheit z. B. in Gestalt einer Blockade zum Ausdruck bringen. Die Blockade darf dabei jedoch nicht Selbstzweck, sondern muss ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung des Protests und damit zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit sein (BVerfG, B.v. 24.10.2001 u.a. – 1 BvR 1190/90 – juris Rn. 39, 42). Der durch die Versammlungsfreiheit vermittelte Schutz wird nicht dadurch beseitigt, dass von einer Zusammenkunft Störungen für eine andere Versammlung ausgehen, die im Rahmen der die Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 2 GG beschränkenden Gesetze abgewehrt werden können (BVerfG, B.v. 30.4.2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180). Allenfalls ist eine Veranstaltung von dem Versammlungsbegriff ausgenommen, die auf die vollständige Verhinderung einer anderen Versammlung abzielt; eine bloße Störung genügt hierfür in keinem Fall. Der Versammlungscharakter einer Blockadeaktion, die nicht offensichtlich nur dem Nahziel dient, eine konkrete, vor Ort erfüllbare Forderung durchzusetzen, sondern in deren Verlauf es auch zu in den Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung einzuordnenden Bekundungen zu weiteren Zielen kommt, kann nur dann verneint werden, wenn das kommunikative Anliegen und der Einsatz entsprechender Kommunikationsmittel in handgreiflicher Weise einen bloßen Vorwand darstellen (BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1/22 – juris Rn. 50, 52).
27
bb) Nach diesen Maßstäben ist nach Auffassung des Senats bei der hier zu beurteilenden Veranstaltung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls davon auszugehen, dass der Kläger gemeinschaftlich mit den anderen Teilnehmern des Gegenprotests eine die Initiative der ESA ablehnende Meinung kundgeben und dabei zwar auch die Demonstration der ESA stören, aber jedenfalls nicht vollständig verhindern wollte.
28
(1) Nach dem Gesamteindruck lag bei der Gruppe um den Kläger eine innere Verbundenheit mit einer gemeinsamen Zweckverfolgung durch das gemeinsame Anliegen, gegen die Demonstration der ESA Stellung zu nehmen, vor, die auch nach außen hin erkennbar war. Es handelte sich nicht bloß um eine Ansammlung mit zufälliger Gleichartigkeit der Zweckverfolgung. Die Teilnehmer der Gegendemonstration trafen am 15. Dezember 2020 nicht nur zufällig zusammen, um dann individuell ihre Ablehnung der ESA-Demonstration zu äußern. Vielmehr war der Polizei bereits im Vorfeld bekannt, dass die linke Szene dazu aufgerufen habe, den Aufzug der ESA zu stören und sie hat deshalb auch besondere Vorkehrungen getroffen (vgl. Klageerwiderung des Polizeipräsidiums Unterfranken vom 9.3.2021, Bl. 18 ff. der Gerichtsakte W 9 K 21.248). Auch nach Absicht des Klägers wollte dieser sich gemeinsam mit anderen versammeln und seine ablehnende Haltung der ESA gegenüber zum Ausdruck bringen (vgl. Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, Bl. 113 ff.). Bei Versammlungsbeginn hat die Polizei zeitgleich zur Aufstellung der Teilnehmer der Initiative ESA unterhalb der A. M.brücke circa 40 Personen der linken Szene auf der A. M.brücke feststellen können. Diese Personen seien alle schwarz gekleidet mit Gesichtsmasken, z. T. Sonnenbrillen und Kopfbedeckungen, ausgestattet gewesen. Somit waren diese Personen auch für Außenstehende als Gruppierung erkennbar, auch wenn grundsätzlich eine Uniformität der Demonstrationsteilnehmer nicht erforderlich ist. Die Polizei ist offensichtlich auch von einem Gegenprotest dieser Gruppe ausgegangen, weil sie deshalb der ESA vorgeschlagen hat, statt der mobilen Demonstration eine stationäre Versammlung abzuhalten bzw. zumindest den Aufzugsweg abzuändern. Die Polizei hat des Weiteren festgestellt, dass sich nach der für den Gegenprotest überraschenden Routenänderung der ESA der Gegenprotest mit ungefähr 25 Personen erst wieder im Bereich der Kreuzung A.straße/S.straße habe formieren können (vgl. Klageerwiderung des Polizeipräsidiums Unterfranken vom 9.3.2021, Bl. 18 ff. der Gerichtsakte W 9 K 21.248). Auch wenn im Bereich der S.straße ... nicht mehr alle Teilnehmer der Gegendemonstration anwesend waren, lässt sich den Feststellungen der Polizei entnehmen, dass es sich bei den Gegendemonstranten um die gleiche Gruppierung wie anfangs auf der A. M.brücke handelte. Der damalige Einsatzleiter der Polizei, Zeuge LPD W. hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht insoweit ausgesagt, dass die Gruppe oben (auf der A. M.brücke) sich aufgelöst habe und erstmals an der Kreuzung W.straße/A.straße wieder verschiedene Kleingruppen aufgetaucht seien; sie hätten offensichtlich von der A. M.brücke „länger gebraucht“. Auch der Zeuge PM A. hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht (im Zusammenhang mit der fehlenden Anmeldung der Versammlung) ausgesagt, dass er die Personengruppe nicht juristisch als Versammlung eingestuft habe, er sei jedoch auch davon ausgegangen, dass es sich um eine einheitliche Gruppe von Linken gehandelt habe, die verbal gegen ESA vorgegangen sei.
29
Selbst wenn die Einsatzleitung und Einsatzkräfte der Polizei im weiteren Verlauf des dynamischen Geschehens keine Abstimmung bzw. kein koordiniertes Vorgehen zwischen den inzwischen gebildeten Kleingruppen wahrgenommen hat, zeigen diese Erkenntnisse doch, dass sich die Teilnehmer des Gegenprotests von Anfang an gemeinsam mit dem Ziel, den Demonstrationszug der ESA zu begleiten, versammelt und trotz Schwierigkeiten versucht haben, diesen Plan umzusetzen. Aufgrund der für sie überraschenden Routenänderung, des dynamischen Demonstrationsgeschehens wegen eines mobilen Aufzugs, der räumlich beengten Verhältnisse und der Absperrungen der Seitengassen durch die Polizei war eine Abstimmung bzw. ein koordiniertes Vorgehen für den Gegenprotest in dieser Phase naturgemäß schwierig. Da der ESA-Aufzug eine mobile Versammlung war, war es zwangsläufig auch für den Gegenprotest erforderlich, ständig in Bewegung zu sein. Im weiteren Verlauf des Aufzugs zeigte sich das koordinierte gemeinschaftliche Vorgehen auch darin, dass sich fünf bis sieben Gegendemonstranten gemeinsam vor den Aufzug der ESA stellten und somit nicht nur vereinzelt neben dem Aufzug der ESA herliefen. Ihre innere Verbundenheit brachten die Gegendemonstranten zudem mit ihren gleichgerichteten Äußerungen zum Ausdruck, mit denen sie ihre Ablehnung der ESA-Demonstration nach außen hörbar kundtaten. Nicht erforderlich ist dabei, dass alle Demonstrationsteilnehmer (die gleichen) Äußerungen von sich geben oder dasselbe tun. Gemeinsame Kundgabemittel, wie Transparente oder Plakate, sind nicht zwingende Voraussetzung für eine Versammlung, auch wenn sie grundsätzlich die Erkennbarkeit einer gemeinsamen Meinungskundgabe erleichtern. Im Übrigen hatten die Gegendemonstranten, wie der Zeuge S. in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, zumindest auch ein Megafon dabei, das er aber wegen der Anweisung der Polizei nicht benutzen durfte. Die auch nach außen hin erkennbare innere Verbundenheit der Gegendemonstranten zeigt sich auch in den Versuchen der Polizei, eine Versammlung zu konstituieren, einen Versammlungsleiter zu finden, der Gegendemonstration eine Versammlungsfläche zuzuweisen oder die Nachfragen, ob sie eine Versammlung abhalten wollte (vgl. Klageerwiderung des Polizeipräsidiums Unterfranken vom 9.3.2021, Bl. 18 ff. der Gerichtsakte W 9 K 21.248).
30
Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob die Versammlung hätte angezeigt werden müssen (BVerfG, B.v. 26.10.2004 – 1 BvR 1726/01 – juris Rn. 15). Unerheblich für die Frage des Vorliegens einer Versammlung ist zudem eine fehlende Kooperationsbereitschaft von Gegendemonstranten, beispielsweise durch Wegdrehen oder die Weigerung, einen Versammlungsleiter zu benennen. Der Versammlungscharakter hängt nicht davon ab, ob die Polizei eine Versammlungsleitung identifizieren kann und inwieweit diese ggf. mit den Einsatzkräften kooperiert oder nicht. Es ist gerade ein typisches Merkmal von spontanen Versammlungen (vgl. Art. 13 Abs. 4 BayVersG) und auch von nicht angemeldeten Versammlungen, dass es keinen Versammlungsleiter gibt bzw. dass sich niemand dazu bereit erklärt. Allerdings kann etwa bei Maßnahmen nach Art. 15 BayVersG (Beschränkungen, Verbote, Auflösung von Versammlungen) berücksichtigt werden, inwieweit der Veranstalter oder der Leiter mit der zuständigen Behörde zusammenarbeitet (Art. 14 BayVersG).
31
(2) Bei den Äußerungen der Gegendemonstranten handelte es sich um Meinungsäußerungen, mit denen die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung ihrer Haltung gegenüber der Versammlung der ESA erfahren und andererseits nach außen Stellung genommen haben (vgl. BVerfG, U.v. 22.2.2011 – 1 BvR 669/09 – juris Rn. 63). Dem steht nicht entgehen, dass offensichtlich auch verbale Ausfälligkeiten, wie Beleidigungen oder Schmähungen, zu vernehmen waren. Auch polemische und überspitzte Äußerungen und das Skandieren von Parolen gehören zur Meinungskundgabe. Dafür genügt grundsätzlich auch ein Dagegenhalten, also die Äußerung von Ablehnung.
32
Unabhängig davon sind jedenfalls auch Äußerungen gefallen, die offensichtlich ausdrücklich die gegenteilige Meinung der Gegendemonstranten auch inhaltlich zum Ausdruck gebracht haben. Von Ausdrücken wie „Verpisst euch“, „Haltet euer Maul“ und „Haltet die Fresse“ kann zwar nicht ohne weiteres von einer argumentativen Auseinandersetzung mit der Versammlung der ESA ausgegangen werden. Aber durch die Rufe wie „Antisemitismus bedeutet keinen Frieden, Antisemitismus bedeutet keine Freiheit, Antisemitismus bedeutet keine Demokratie“, „Solange Ihr es nicht schafft, Euch von Nazis und Holocaust-Leugnern zu distanzieren, überlassen wir Euch nicht diese Straße“ und „Mit Antisemiten gibt es keinen Frieden“ wird unstrittig eine ablehnende Meinung geäußert, die auf ein von den Gegendemonstranten der ESA zugeschriebenes antisemitisches Gedankengut inhaltlich Bezug nimmt.
33
Zudem haben der Kläger und die Mitdemonstranten auch ohne verbale Äußerungen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 10.12.2010 – 1 BvR 1402/06 – juris – Rn. 22) „Gesicht gezeigt“ und waren insoweit auch vom objektiven Empfängerhorizont aus betrachtet aufgrund ihrer Bekleidung und ihrer weiteren Aufmachung dem linken Spektrum erkennbar zugehörig, wie auch die Zeugen in der mündlichen Verhandlung ausgesagt haben. Eine verbale Kommunikation mit dem politischen Gegner ist insoweit nicht erforderlich. Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch nonverbal, durch schlüssiges Verhalten geäußert werden. Durch Begleiten des Demonstrationszuges der ESA und auch durch die Versuche eines oder mehrerer Gegendemonstranten, sich vor den Zug der ESA zu positionieren, zeigten sie ihre ablehnende Haltung. So sagte auch der Zeuge LPD W. aus, es sei klar – und wohl auch für die ESA erkennbar – gewesen, dass die Demonstranten gegen ESA gewesen seien, auch ohne dass für ihn selbst politische Äußerungen zu erkennen gewesen wären; Beleidigungen im strafrechtlichen Sinne seien nicht getätigt worden. Bei der aus der Mitte des Gegenprotests heraus zum Ausdruck gebrachten Ablehnung der der ESA zugeschriebenen politischen Positionen handelt es sich insoweit um Meinungsäußerungen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
34
(3) In dem Verhalten der Gegendemonstranten lag zudem keine dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG nicht mehr unterfallende sogenannte Verhinderungsblockade vor, wenn auch wohl beabsichtigt war, den Aufzug der ESA massiv zu stören.
35
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B.v. 11.6.1991 – 1 BvR 772/90 – juris Rn. 17; B.v. 30.4.2007 – 1 BvR 1090/06 – juris Rn. 19, 20) und des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 27.3.2024 – 6 C 1/22 – juris Rn. 52) kann allenfalls eine solche Veranstaltung von dem Versammlungsbegriff ausgenommen werden, die auf die vollständige Verhinderung einer anderen Versammlung abzielt; eine bloße Störung oder Erschwerung der Durchführung genügt hierfür nicht (vgl. auch Möstl/Schwabenbauer, BeckOK, Polizei- und Sicherheitsrecht, Stand 1.3.24, BayVersG Art. 8 Rn. 14; Welsch/Bayer, Rn. 226; PdK-Bay/Maurer BayVersG Art. 8 Erl. 3.1). Keine Voraussetzung einer Versammlung im Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist dabei, dass die Meinungskundgabe gegenüber einer Störwirkung im Vordergrund steht (BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 1 C 1/22 – juris Rn. 42, 50).
36
Bei den vereinzelten, eher symbolischen und nur kurz andauernden Versuchen der Teilnehmer des Gegenprotestes, sich vor den Aufzug der ESA zu stellen und diesen zu blockieren, handelt es sich bereits nicht um eine Blockadeaktion, die vom Versammlungsbegriff ausgenommen wäre. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich bei den öffentlichen Meinungsbekundungen der Gegendemonstranten um Äußerungen, die sich gegen die Positionen der ESA richteten. Anhaltspunkte dafür, dass dies nur einen bloßen Vorwand zur Kaschierung einer von einer entsprechenden politischen Positionierung gelösten Absicht zur Verhinderung der Demonstration der ESA darstellt haben könnte (vgl. BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1/22 – juris Rn. 50), sind nicht erkennbar. Bei dem Blockadeversuch in der S.straße ... haben sich circa fünf bis sieben Personen vor den Aufzug der ESA gestellt. Dadurch musste der Aufzug ungefähr drei bis fünf Minuten lang anhalten, wodurch auch mehrere Straßenbahnen und der Fahrzeugverkehr zum Stehen gekommen sind. Die zeitliche Dauer von zumindest mehr als 20 Minuten, ab der eine Verhinderungsabsicht in Betracht kommen könnte (Kniesel/Poscher in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Versammlungsrecht Rn. 441), war jedenfalls nicht erreicht. Eine Blockade, die rein symbolischer Natur und nach kürzester Zeit beendet ist, wird im Zweifel nicht mit Verhinderungsabsicht durchgeführt worden sein. Nach entsprechender, mehrmaliger Aufforderung durch die Polizei sind alle bis auf eine Person wieder zur Seite gegangen. Die verbliebene Person, die für sich allein jedenfalls kein Hindernis für die ESA-Demonstration dargestellt hätte, wurde von den Polizisten weggedrängt und der Bereitschaftspolizei übergeben. Auch bei dem weiteren Blockadeversuch haben sich die Personen nach Ansprache durch die Polizei wieder zurückgezogen. Die „Blockade“ konnte somit ohne größere Probleme von der Polizei aufgelöst werden bzw. die ESA-Demonstranten hätten auch ohne weiteres die Einzelperson umgehen können. Von einer planmäßigen, beabsichtigten Blockade zur vollständigen Verhinderung ist deshalb nicht auszugehen. Ein Verhindern der Demonstration der ESA kann erst recht nicht darin gesehen werden, dass die Gegendemonstranten durch lautstarke Rufe die Demonstration störten.
37
(4) Anhaltspunkte dafür, dass es sich um eine unfriedliche Demonstration gehandelt hat, liegen nicht vor. Ausreichend ist es insoweit nicht, dass es zu Behinderungen kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 1 C 1/22 – juris Rn. 57).
38
c) Da das Versammlungsrecht auf Maßnahmen gegenüber dem Kläger mangels Auflösung der Versammlung oder eines rechtmäßigen Ausschlusses aus ihr weiterhin anwendbar war, konnte ein Platzverweis nicht auf Art. 16 BayPAG gestützt werden.
39
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
40
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
41
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.