Titel:
Kostenerstattung (Abweisung), Vorrang-/Nachrangverhältnis, Verhältnis Jugendhilfe und Sozialhilfe, Körperliche Behinderung, Epilepsie, Sprachstörung, Teilhabebeeinträchtigung
Normenketten:
SGB X § 104
SGB VIII § 10
SGB IX § 2
SGB XII a.F. § 53
SGB IX § 99
Schlagworte:
Kostenerstattung (Abweisung), Vorrang-/Nachrangverhältnis, Verhältnis Jugendhilfe und Sozialhilfe, Körperliche Behinderung, Epilepsie, Sprachstörung, Teilhabebeeinträchtigung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 36390
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein Sozialhilfeträger, begehrt vom Beklagten, einem Jugendhilfeträger, Erstattung von Kosten, die er für das Kind L.B. für Schulbegleitung sowie den Besuch einer heilpädagogischen Tagesstätte (künftig: HPT) im Zeitraum vom 13. September 2016 bis 30. Juni 2019 sowie vom 1. Januar 2020 bis 31. Juli 2024 aufgewendet hat.
2
Bei dem am ... Juni 2010 geborenen Leistungsempfänger L.B. wurde spätestens seit dem Jahr 2015 fortlaufend frühkindlicher Autismus (ICD-10: F 84.0) diagnostiziert.
3
Mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales (künftig: ZBFS) vom 22. September 2015 wurde bei L.B. eine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (künftig: GdB) von 50 Prozent und Merkzeichen H festgestellt.
4
In einem Arztbrief des Klinikums A. vom 12. Oktober 2015 wurde bei L.B. zudem eine benigne Epilepsie des Kindesalters (Rolando-Epilepsie) diagnostiziert.
5
In einer „Analyse sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen“ der K.-Klinik vom 11. Januar 2016 wurde insbesondere festgestellt, dass bei L.B. eine stark ausgeprägte Sprachstörung im rezeptiven und expressiven Bereich sowie deutliche Auffälligkeiten im Kommunikations- und Interaktionsverhalten vorliegen würden, die seine Teilhabe an kommunikativen Situationen stark beeinträchtigen. In einem ärztlich-psychologischen Bericht der K.- Klinik vom 26. Januar 2016 wurde ergänzend ausgeführt, dass L.B. wesentlich in seiner Fähigkeit eingeschränkt sei, an der Gesellschaft teilzuhaben, so dass Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII gewährt werden solle.
6
Der Kläger gewährte für L.B. mit (teilweise als vorläufig bezeichneten) Bescheiden vom 21. März 2016, 11. September 2017, 14. März 2018, 8. Mai 2019, 23. Juli 2020, 5. Mai 2021, 17. März 2022 und 7. Juni 2023 insgesamt für den Zeitraum vom 13. September 2016 „bis zum Ende des Schulbesuchs“ Eingliederungshilfe in Form von Schulbegleitung zunächst im SPZ in W. und ab dem Schuljahr 2021/2022 in der Mittelschule in W.
7
Der Beklagte hielt in einem Aktenvermerk vom 9. Februar 2017 über ein Gespräch des Allgemeinen Sozialen Dienstes (künftig: ASD) mit L.B. und dessen Eltern insbesondere fest, dass sich die Sprache von L.B. nach dem Epilepsieanfall im Oktober 2015 verschlechtert habe.
8
Erstmals mit Schreiben an den Beklagten vom 27. Februar 2017 bat der Kläger um Fallübernahme und Bearbeitung in eigener Zuständigkeit zum nächstmöglichen Zeitpunkt sowie Kostenerstattung gemäß §§ 102 ff. SGB X ab 13. September 2016. Bei L.B. liege ausschließlich eine seelische Behinderung vor. Daher sei der Beklagte gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII zuständig. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Schreiben vom 13. März 2017 ab und leitete zudem einen Antrag auf teilstationäre Unterbringung von L.B. in der HPT in P. gemäß § 14 SGB X an den Kläger weiter.
9
Im Folgenden gewährte der Kläger für L.B. zudem mit Bescheiden vom 11. September 2017, 9. Oktober 2018, 30. April 2019, 2. März 2020 und 27. April 2021 für den Zeitraum vom 12. September 2017 bis zunächst 31. August 2022 „vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe“ durch Übernahme der Kosten für die Förderung in der HPT in P. und meldete mit Schreiben an den Beklagten vom 23. November 2017 auch hierfür einen Kostenerstattungsanspruch bis zur Fallübernahme an.
10
Mit Änderungsbescheid des ZBFS vom 24. April 2019 wurde bei L.B. eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 80 Prozent und den Merkzeichen G, B und H festgestellt. Ergänzend teilte das ZBFS mit Schreiben vom 16. Oktober 2024 mit, dass das Merkzeichen G aufgrund des Autismus vergeben worden sei, da L.B. nicht verkehrssicher sei und keine Gefahren einschätzen könne.
11
Mit Schriftsatz vom 8. August 2019, eingegangen am 12. August 2019, erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte zuletzt (im Schriftsatz vom 11. Oktober 2024),
12
1. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für den Leistungsberechtigten L.B. in der Zeit vom 13. September 2016 bis zum 30. Juni 2019 aufgewendeten Eingliederungshilfeleistungen i.H.v. 109.362,49 € zuzüglich Zinsen i.H.v. 5% über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.
13
2. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für den Leistungsberechtigten L.B. in der Zeit vom 1. Januar 2020 bis 31. Juli 2024 aufgewendeten Eingliederungshilfeleistungen i.H.v. 180.292,74 € zuzüglich Zinsen i.H.v. 5% über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.
14
Zur Begründung führte der Kläger im Wesentlichen aus, dass ihm für die seit 13. September 2016 für die Schulbegleitung und für die seit 12. September 2017 für den Besuch der HPT aufgewendeten Eingliederungshilfeleistungen für L.B. gegenüber dem Beklagten ein Kostenerstattungsanspruch gem. § 104 SGB X zustehe. L.B. leide infolge von Autismus an einer seelischen Behinderung und habe somit Ansprüche auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII und § 53 SGB XII. Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII sei der Jugendhilfeanspruch nach § 35a SGB VIII vorrangig. Ein ausnahmsweiser Vorrang des Sozialhilfeanspruchs gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII bestehe nicht. Denn L.B. sei nicht geistig behindert. Zudem stelle die Sprachstörung keine körperliche Behinderung gemäß § 1 Nr. 6 EinglH-VO dar. Vielmehr entspreche sie einer sprachlichen Entwicklungsstörung i.S.d. Kapitels F 80 der ICD-10. Auch die Aussprachstörung sei, auch wenn sie als Dyslalie zu klassifizieren sei, keine körperliche Behinderung. Denn auch Dyslalie sei Kapitel F der ICD zugeordnet (Artikulationsstörungen F 80.0) und damit den seelischen Störungen. Bezüglich der Epilepsie bestehe aufgrund von Anfallsfreiheit keine Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit i.S.d. § 1 Nr. 3 EinglHV. Soweit der Beklagte darauf abstelle, dass die Epilepsie zu einer körperlichen Behinderung führe, weil sie Ursache der Sprachstörung sein könnte, sei dies irrelevant. Denn wenn die Sprachstörung eine seelische Störung sei, sei sie dies wegen § 3 Nr. 2 EinglHV auch dann, wenn die Ursache eine körperliche Schädigung bzw. Fehlfunktion wie Epilepsie sei. Der Kläger habe die Erstattung der Eingliederungshilfeleistungen für die Betreuung in der HPT und die Schulbegleitung auch jeweils i.S.d. § 111 SGB X rechtzeitig geltend gemacht. Bezüglich der Schulbegleitung sei der Leistungszeitraum noch nicht abgeschlossen, so dass die Frist nach § 111 Satz 1 SGB X insoweit noch nicht begonnen habe.
15
Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2020 erwiderte der Beklagte auf die Klage und beantragte
17
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII allein für die Leistungsgewährung zuständig sei, da L.B. nicht nur seelisch, sondern auch körperlich und geistig behindert sei. In den Klinikberichten sowie im Aktenvermerk vom 9. Februar 2017 werde eine schlechte Verständlichkeit von L.B. bei deutlicher Aussprachestörung erwähnt. Die Voraussetzungen von § 1 Nr. 6 EinglH-VO seien damit erfüllt.
18
In einer „Analyse sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen“ der K.-Klinik vom 28. Oktober 2020 wurden u.a. Fortschritte bei der Artikulation festgestellt. Im Vergleich zur Altersnorm bestünden aber weiterhin massive Einschränkungen auf rezeptiver sowie expressiver Ebene. In einem ärztlich-psychologischen Bericht der K.-Klinik vom 16. Dezember 2020 wurde ergänzend erstmalig eine Lese- und Rechtschreibstörung (ICD-10: F 81.0); (künftig: LRS) diagnostiziert. Zudem bestehe weiterhin eine Entwicklungsstörung insbesondere des Sprechens und der Sprache. Außerdem wurde erneut ausgeführt, dass Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII gewährt werden solle.
19
Mit Datum vom 4. Oktober 2021 teilten die Eltern von L.B. dem Kläger mit, dass dieser ab 11. Oktober 2021 die HPT in P. nicht mehr besuchen werde.
20
Mit Schriftsatz vom 24. Januar 2024 erklärte der Kläger und mit Schriftsatz vom 2. Februar 2024 der Beklagte, dass mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren Einverständnis besteht.
21
Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie den Inhalt der vorgelegten Behördenakten der Parteien sowie die vom ZBFS vorgelegten Unterlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
22
Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
23
Die zulässige Leistungsklage ist unbegründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der für die Schulbegleitung im Zeitraum vom 13. September 2016 bis 30. Juni 2019 und vom 1. Januar 2020 bis 31. Juli 2024 sowie für den Besuch der HPT in P. im Zeitraum vom 12. September 2017 bis 30. Juni 2019 und vom 1. Januar 2020 bis 10. Oktober 2021 für L.B. angefallenen Kosten.
24
Der Verwaltungsrechtsweg ist für die Entscheidung über den geltend gemachten Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X in Verbindung mit § 114 Satz 2 Alt. 2 SGB X eröffnet. Ein Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Beklagten kann sich ausschließlich nach den Regelungen des SGB VIII ergeben.
25
Die Klage ist als Leistungsklage zulässig. Insbesondere konnte der ursprünglich unter Ziffer 2 erhobene Feststellungsantrag in zulässiger Weise auf einen Leistungsantrag umgestellt werden. Dies stellt lediglich eine – aufgrund des Zeitablaufs erforderliche – Konkretisierung des ursprünglichen Klageantrags dar (vgl. § 91 VwGO; VG München, U.v. 20.3.2024 – M 18 K 19.931 – juris Rn. 44; Wöckel in: Eyermann, 16. Auflage 2022, VwGO, § 91 Rn. 11).
26
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände (VGH BW, U.v. 23.2.2024 – 12 S 775/22 – juris Rn. 32). Hinsichtlich des materiellen Rechts ist daher maßgeblich auf die Rechtslage für den Zeitraum vom 13. September 2016 bis 30. Juni 2019 sowie vom 1. Januar 2020 bis 31. Juli 2024 abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 6/11 – juris Rn. 6). Die in dem vorliegenden Verfahren maßgeblichen Normen haben zwar zum Teil – insbesondere mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz) vom 23. Dezember 2016 (BTHG – BGBl. I 2016, 3234) – Abwandlungen bzw. neue Bezeichnungen erhalten, inhaltlich jedoch – soweit vorliegend relevant – keine Änderung erfahren. Das Gericht verzichtet daher aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit bei den nachfolgenden Bezugnahmen auf gesetzliche Regelungen auf den Zusatz der jeweils geltenden Fassung.
27
Dem Kläger steht für den streitgegenständlichen Zeitraum kein Anspruch auf Kostenerstattung gegen den Beklagten nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu. Denn der Kläger hat nicht als nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht. Vielmehr war er für die Bewilligung der o.g. Eingliederungshilfemaßnahmen für L.B. gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorrangig zuständig.
28
1. Der geltend gemachte Anspruch nach § 104 SGB X ist nicht bereits wegen des Vorrangs des § 14 SGB IX a.F. bzw. § 16 SGB IX ausgeschlossen.
29
Denn Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch nach § 14 SGB IX a.F. bzw. § 16 SGB IX ist, dass der Erstattungsberechtigte als an sich unzuständiger Leistungsträger geleistet hat (vgl. BayVGH, B.v. 24.2.2014 – 12 ZB 12.715 – juris Rn. 29), mithin allein aufgrund der Weiterleitung im Außenverhältnis zuständig geworden ist (vgl. VG München, U.v. 20.3.2024 – M 18 K 19.931 – juris Rn. 48; VG München, U.v. 17.7.2024 – M 18 K 19.5332 – juris Rn. 31). Daran fehlt es hier, da gemäß § 53 SGB XII a.F. bzw. § 99 SGB IX auch der Kläger für Eingliederungshilfemaßnahmen aufgrund seelischer Behinderungen zuständig ist. Bei L.B. lag bereits aufgrund des bei ihm diagnostizierten frühkindlichen Autismus – zwischen den Parteien auch unstreitig – eine solche seelische Behinderung vor (vgl. z.B. die Arztberichte der K.- Klinik vom 26. Januar 2016 und 1. August 2017 sowie Gutachten der Praxis Dr. N. v. 5. März 2023). Der Kläger hat vorliegend somit nicht als unzuständiger, sondern allenfalls als nachrangiger Leistungsträger geleistet.
30
2. Der Kläger war jedoch gegenüber L.B. nicht nachrangig zur Leistungserbringung verpflichtet, so dass ein Anspruch nach § 104 SGB X ausscheidet.
31
Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Leistungsberechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und – wie hier – weder die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen noch der (vorrangige) Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Voraussetzung für einen Anspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist demnach, dass Leistungspflichten zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris Rn. 26).
32
Das Verhältnis konkurrierender Leistungsansprüche der Jugendhilfe und der Sozialhilfe hat der Gesetzgeber ausdrücklich in § 10 Abs. 4 SGB VIII geregelt (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 5 C 19/08 – juris Rn. 20). Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII bzw. SGB IX grundsätzlich vor. Abweichend hiervon gehen sozialhilferechtliche Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer derartigen Behinderung bedroht sind, den Leistungen der Jugendhilfe vor.
33
Vorliegend bestand hinsichtlich des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums ein solcher, die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII auslösender Anspruch des Leistungsempfängers L.B. gegen den Kläger.
34
Denn zur Überzeugung des Gerichts lag bei L.B. im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum eine körperliche Behinderung vor, die einen Eingliederungshilfeanspruch gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 oder 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 oder Abs. 3 SGB IX begründete.
35
Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
36
Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX haben Personen, die durch eine Behinderung i.S.d. § 2 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung – also einer solchen, durch die sich nicht wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt sind – können nach § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten (Ermessensanspruch).
37
§ 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII löst den Vorrang der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII a.F. bzw. SGB IX auch dann aus, wenn eine körperliche oder geistige Behinderung vorliegt, die nicht die Wesentlichkeitsschwelle des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX überschreitet, sondern „nur“ die Voraussetzungen des Ermessensanspruchs nach § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX erfüllt. Hierfür spricht sowohl der Wortlaut von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, dessen Änderungshistorie, als auch die Abkehr des Bundesverwaltungsgerichts von der sog. „Schwerpunkttheorie“ (vgl. ausführlich: OVG Saarl, B.v. 14.10.2024 – 1 A 119/23 – juris Rn. 33 ff.; VG München, U.v. 23.10.2024 – M 18 K 19.4075 – Rn. 34 ff. m.w.N.). Somit ist für die Anwendung der Vorrangregelung nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII lediglich eine – nicht unbedingt wesentliche – körperliche oder geistige Behinderung, die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX definiert ist, zu fordern.
38
2.1. Eine solche körperliche Behinderung, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte, lag bei L.B. im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum bereits aufgrund der bei ihm diagnostizierten Epilepsie vor.
39
Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, die vom Gehirn ausgeht. Je nach Schweregrad und Verlauf können Epilepsien zu körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigung führen (vgl. Orientierungshilfe BAGüS, Anhang 2).
40
Bei L.B. wurde seit dem Jahr 2015 durchgehend (zuletzt in einem Gutachten der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. N. vom 5. März 2023) eine benigne Epilepsie des Kindesalters (ICD-10: G 40.08 bzw. ICD-10: G 40.08+G) diagnostiziert. Zudem wurde in Arztberichten der Klinik S. in V. vom 27. Juli 2016 und 17. Oktober 2016 angenommen, dass bei L.B. für die Neigung zu Anfällen und EEG-Veränderungen eine spontane Remission i.S.e. Rolandischen Disposition mit Beendigung der Pubertät anzunehmen sei. Nach zwei Epilepsieanfällen im Oktober 2015 und nachdem sich 2016 erneut Auffälligkeiten und epilepsietypische Potentiale im Wach-EEG gezeigt hatten (vgl. Arztberichte Klinik S. in V. vom 27. Juli 2016 sowie 17. Oktober 2016) blieb L.B. unter Medikation anfallsfrei. Zudem wurde seit dem EEG-Befund vom 22. Juni 2017 auch jeweils ein ruhiger Kurvenverlauf und kein Anhalt für Hirnfunktionsstörung festgestellt (vgl. auch EEG-Befunde vom 6. Dezember 2018 und 6. Dezember 2019). In den EEG-Befunden vom 29. Oktober 2020 und 16. März 2023 wurden schließlich auch keine epilepsietypischen Potentiale und ein normales Wach-/ Müdigkeits-EEG festgestellt.
41
Unabhängig davon kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die Epilepsiediagnose über den streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr aufrechterhalten wurde. Zudem hatte L.B. auch bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraums die Pubertät noch nicht abgeschlossen, so dass auch noch nicht von einer spontanen Remission i.S.e. Rolandischen Disposition ausgegangen werden kann.
42
Vielmehr wurde im o.g. Gutachten vom 5. März 2023 insbesondere ausgeführt, dass bei L.B. die Verursachung der aus der LRS folgenden Teilhabebeeinträchtigung wesentlicher als den Diagnosen Autismus und ADHS der benignen Epilepsie des Kindesalters zuzurechnen sei, da sich im Intelligenzprofil ein extrem reduzierter Wert im Sprachverständnis finde. Insofern sei aus gutachtlicher Sicht die Eingliederungshilfe einer LRS-Therapie gemäß § 53 SGB XII zu gewähren. Die bei L.B. feststellbaren Störungen (Achse I und Achse IV, hier: benigne Epilepsie des Kindesalters) würden in einer Erheblichkeit vorliegen, dass die Teilhabe an der Gesellschaft über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten beeinträchtigt sei bzw. unmittelbar drohe. Die genannte Beeinträchtigung der Teilhabe durch die LRS sei maßgeblich durch die körperliche Behinderung infolge der benignen Epilepsie des Kindesalters verursacht.
43
Dem entspricht auch, dass die Eltern von L.B. bereits im Jahr 2017 gegenüber dem Beklagten ausgeführt hatten, dass sich der erste Epilepsieanfall im Oktober 2015 ähnlich wie ein Schlaganfall geäußert und das Sprachzentrum gestört habe. Durch diesen Epilepsieanfall habe sich die Sprache von L.B. verschlechtert.
44
Aus Sicht des Gerichts ist vor allem angesichts der o.g. eindeutigen Aussagen im Gutachten vom 5. März 2023, die offenbaren, dass die Epilepsie bei L.B. auch im Jahr 2023 noch deutliche Langzeitfolgen verursachte, davon auszugehen, dass die körperliche Behinderung bei L.B. infolge der Epilepsie noch bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraums zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte. Dieses Gutachten ist insoweit auch deswegen besonders aussagekräftig, weil Dr. N. angesichts seiner Ausführungen bei „Anamnese“ (Seite 2 des o.g. Gutachtens) bei Vornahme seiner gutachtlichen Einschätzung insbesondere die o.g. EEG-Ergebnisse und die langjährige Anfallsfreiheit von L.B. bekannt waren.
45
Ob die Teilhabebeeinträchtigung wesentlich i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX war, kann dahinstehen (s.o.). Daher spricht auch die Klassifizierung nach der bis 31. Dezember 2019 geltenden (und seither über § 99 Abs. 4 Satz 2 SGB IX fortgeltenden) Eingliederungshilfeverordnung, die Definitionen für wesentliche Behinderungen i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX enthält, nicht gegen die Annahme, dass eine körperliche Behinderung im oben erläuterten Sinne gegeben war.
46
Dasselbe gilt für die – nicht bindende (vgl. VG München, U.v. 23.10.2024 – M 18 K 19.4075 – juris Rn. 43) – Orientierungshilfe BAGüS vom 24. November 2009. Auch wenn der Kläger im Schreiben an den Beklagten vom 23. November 2017 bzgl. der Epilepsie bei L.B. lediglich eine Einstufung in Stufe 3 nach Kehl-Kork für angemessen erachtete und damit nicht von einer wesentlichen Behinderung ausging, ist angesichts der obigen Ausführungen im Gutachten vom 5. März 2023 zumindest von einer körperlichen Behinderung, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung während des streitgegenständlichen Zeitraums führte, auszugehen.
47
2.2. Zudem lag bei L.B. – entgegen der Rechtsansicht des Klägers – aufgrund seiner Artikulationsstörungen, die Sprachstörungen im expressiven Bereich darstellen, im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum eine körperliche Behinderung vor, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte.
48
Der Kläger trug hierzu insbesondere vor, dass bei L.B. bezüglich seiner Sprachstörungen keine körperliche Behinderung vorliege, weil die insoweit in den Arztberichten verwendeten Terminologien einer sprachlichen Entwicklungsstörung i.S.v. Kapitel F 80 der ICD-10 entsprechen würden und die Aussprachstörung i.S.e. fehlerhaften Verwendung der s-Laute, auch wenn sie als Dyslalie zu klassifizieren sei, den Artikulationsstörungen gemäß ICD-10: F80.0 zuzuordnen sei.
49
Die „umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache“ gemäß ICD-10: F 80 unterfallen Kapitel V der ICD-10, in der „Psychische und Verhaltensstörungen“ definiert werden. Die Einstufung als psychische Störung nach ICD-10, dem multiaxialen Klassifikationssschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters der WHO, ist rechtlich auch als herrschende wissenschaftliche Meinung zu betrachten, schon im Interesse einer einheitlichen verwaltungsrechtlichen Handhabung (vgl. bereits VG München, U.v. 13.11.2013 – M 18 K 12.3906 – juris Rn. 36 m.w.N.).
50
Vorliegend wurden in den Arztberichten „expressive und rezeptive Sprachstörungen“ sowie „sprachliche Entwicklungsstörungen“ beschrieben, jedoch insoweit zunächst keine ausdrückliche Diagnose nach ICD-10: F 80 gestellt. Im ärztlichen Bericht der K.- Klinik vom 29. März 2019 wurde dann erstmals eine „kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung (ICD-10: F 83.0)“ diagnostiziert. Diese wird in der ICD-10 definiert als „Restkategorie für Störungen, bei denen eine gewisse Mischung von umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, schulischer Fertigkeiten und motorischer Funktionen vorliegt, von denen jedoch keine so dominiert, dass sie eine Hauptdiagnose rechtfertigt (…) Sie ist (…) dann zu verwenden, wenn Funktionsstörungen vorliegen, welche die Kriterien von zwei oder mehreren Kategorien von F 80.-, F 81.- und F 82 erfüllen.“ Später wurde bei L.B. in Bezug auf seine Sprachstörungen zudem eine LRS (F 81.0 bzw. F 81.0G) diagnostiziert (siehe Bericht der K.-Klinik vom 16. Dezember 2020 und das o.g. Gutachten vom 5. März 2023).
51
Das Gericht stimmt dem Kläger insoweit zu, dass die bei L.B. bestehenden Sprachstörungen im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum die Voraussetzungen für „umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache“ nach ICD-10: F 80 erfüllt haben dürften; insbesondere ist davon auszugehen, dass bei L.B. zumindest eine Artikulationsstörung i.S.v. ICD-10: F 80.0, bei dem auch die vom Kläger erwähnte Dyslalie genannt wird, vorlag.
52
Trotzdem stellen die bei L.B. im streitgegenständlichen Zeitraum vorhandenen Artikulationsstörungen eine körperliche Behinderung im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 oder 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 oder Abs. 3 SGB IX dar, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte.
53
Denn hinsichtlich der Abgrenzung von körperlichen Behinderungen zu psychischen Störungen im Sinne des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist die EinglH-VO maßgeblich, da durch sie der Leistungsumfang der Rehabilitationsträger gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 oder 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 oder Abs. 3 SGB IX konkretisiert wird, § 99 Abs. 4 Satz 1 SGB IX.
54
In § 1 Nr. 6 EinglH-VO wird ausdrücklich und ohne weitere Einschränkungen definiert, welche Ausprägungen von Sprachstörungen „körperliche Gebrechen“ und somit eine körperliche Behinderung darstellen (zur Relevanz der EinglH-VO für die Abgrenzung von körperlichen und seelischen Behinderungen im Bereich der Sprachstörungen: VG München, U.v. 13.11.2013 – M 18 K 12.3906 – juris Rn. 36). Hingegen enthält die ICD-10 zu „körperlichen Sprachstörungen“ keine vorliegend anwendbaren Klassifizierungen; insbesondere sind von ICD-10: R 47 nur Sprech- und Sprachstörungen erfasst, die andernorts nicht klassifiziert sind und Stottern (Stammeln) i.S.v. ICD-10: F 98.5 sowie „umschriebene entwicklungsbedingte Störungen des Sprechens und der Sprache“ i.S.v. ICD-10: F 80 werden dort ausdrücklich als exkludiert aufgeführt.
55
§ 1 Nr. 6 EinglH-VO i.V.m. Ziffer 5.1.6. der Orientierungshilfe BAGüS enthält allerdings Definitionen für wesentliche Teilhabebeeinträchtigungen i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX (s.o.). In Bezug auf den Ermessensanspruch gemäß § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX, für den eine solche wesentliche Teilhabebeeinträchtigung gerade nicht erforderlich ist (s.o.), orientiert sich die Feststellung einer Behinderung zwar ebenfalls an §§ 1 bis 3 EinglH-VO; diese muss jedoch im Vergleich dazu nur in abgeschwächter Form vorliegen (vgl. z.B. LSG BW, B.v. 8.7.2008 – L 2 SO 1990/08 ER-B – juris Rn. 14).
56
Die bei L.B. im streitgegenständlichen Zeitraum gegebene „unartikulierte Sprache“ wird in der Legaldefinition für „körperliche Gebrechen“ in § 1 Nr. 6 EinglH-VO i.V.m. Ziffer 5.1.6. der Orientierungshilfe BAGüS ausdrücklich erwähnt. Eine „unartikulierte Sprache“ kann somit eine körperliche Behinderung darstellen. Eine solche körperliche Behinderung liegt auch nicht erst dann vor, wenn eine starke Ausprägung der unartikulierten Sprache gegeben ist. Denn zwar ist in § 1 Nr. 6 EinglH-VO und in Ziffer 5.1.6. der Orientierungshilfe BAGüS von einer Sprache die Rede, die „stark unartikuliert“ ist. Durch das Wort „stark“ wird jedoch lediglich die Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung infolge körperlicher Gebrechen definiert. Eine wesentliche Teilhabebeeinträchtigung i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX ist angesichts der obigen Ausführungen jedoch gerade nicht erforderlich.
57
a) Eine solche körperliche Sprachbehinderung lag bei dem Leistungsberechtigten für den im Klageantrag unter Ziffer 1 geltend gemachten Zeitraum vom 13. September 2016 bis 30. Juni 2019 vor.
58
So wurde in einer „Analyse sprachlicher/ kommunikativer Kompetenzen“ der K.- Klinik vom 11. Januar 2016 festgestellt, dass bei L.B. eine stark ausgeprägte Sprachstörung im rezeptiven und expressiven Bereich sowie deutliche Auffälligkeiten im Kommunikations- und Interaktionsverhalten vorliegen würden, die seine Teilhabe an kommunikativen Situationen stark beeinträchtige. Beim Versprachlichen von Inhalten werde das Geschehen nur eingeschränkt verständlich dargestellt. Für Zuhörer seien die Informationen zur Orientierung nicht ausreichend. Im expressiven Bereich habe er insbesondere eine Aussprachestörung, reduzierten aktiven Wortschatz und Dysgrammatismus. Im Bereich der Artikulation liege Schetismus vor. Im ärztlich-psychologischen Bericht der K.- Klinik vom 26. Januar 2016 wurde ergänzend ausgeführt, dass L.B. expressiv oft nur schwer verständlich sei. Er sei wesentlich in seiner Fähigkeit eingeschränkt, an der Gesellschaft teilzuhaben. Die körperlichen Fähigkeiten sowie die seelische Gesundheit würden mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Daher solle Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII gewährt werden.
59
Auch den Berichten der K.- Klinik aus 2017 und 2018 lässt sich keine derart starke Verbesserung der Sprachstörungen im expressiven Bereich, insbesondere der Artikulationsprobleme, entnehmen, dass in diesem Zeitraum nicht mehr vom Bestehen einer körperlichen Behinderung, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt, auszugehen wäre. Denn laut einer „Analyse sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen“ der K.-Klinik vom 3. Juli 2017 habe die Sprachuntersuchung trotz qualitativer und quantitativer Verbesserungen gegenüber dem Vorbefund weiterhin eine stark ausgeprägte Sprachstörung im rezeptiven und expressiven Bereich sowie deutliche Auffälligkeiten im Kommunikations- und Interaktionsverhalten gezeigt. Bei der Artikulation liege weiterhin ein Schetismus vor. Außerdem spreche L.B. verwaschen. Seine Verständlichkeit sei dadurch beeinträchtigt. Trotz einer Verbesserung gegenüber dem Vorbefund sei sein aktiver Wortschatz weiterhin eingeschränkt. Für Zuhörer seien die Informationen zur Orientierung weiterhin nicht ausreichend. Im ärztlich-psychologischen Bericht der K.- Klinik vom 1. August 2017 wurde ergänzend ausgeführt, dass in der Schule nicht zuletzt wegen sprachlicher Schwierigkeiten eine enge Anleitung und Begleitung von L.B. erforderlich sei. Es sei eine schlechte Verständlichkeit von L.B. bei einer noch deutlichen Aussprachestörung aufgefallen. Es sei von Mehrfachbehinderung auszugehen. Schließlich wurde in einer „Analyse sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen“ der K.- Klinik vom 7. Dezember 2018 ausgeführt, dass zwar geringe Verbesserungen eingetreten seien, jedoch überwiegend auf rezeptiver Ebene. Aufgrund der weiterhin stark eingeschränkten rezeptiven und expressiven sprachlichen Fähigkeiten sei weiter eine gezielte sprachtherapeutische Intervention erforderlich, u.a. eine Schetismustherapie zur Ausspracheverbesserung.
60
Auch der sonstige Akteninhalt bestätigt, dass die Artikulationsprobleme von L.B. in den Jahren 2016 bis 2018 eine körperliche Behinderung darstellten, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte.
61
So dokumentierte der Beklagte in einem Aktenvermerk vom 9. Februar 2017 zu einem Gespräch zwischen einer Mitarbeiterin des ASD und L.B. sowie dessen Eltern, dass es für L.B. laut dessen Eltern schwierig sei, Kontakt zu anderen Kindern aufzunehmen. Die Kinder würden sich sprachlich schnell abwenden, da sie L.B. nicht verstehen würden. Auch die Mitarbeiterin des ASD stellte fest, dass ein Gespräch mit L.B. nur schwer möglich gewesen sei. Wenn L.B. geantwortet habe, seien einzelne Wörter nur sehr schwer zu verstehen gewesen. Eine Kontaktaufnahme mit anderen Kindern scheine vor dieser sprachlichen Einschränkung nur schwer möglich. Im Bericht der Logopädischen Praxis Dr. M. vom 18. Mai 2017 wurde zwar von Fortschritten bei L.B. berichtet, jedoch auch fortbestehende deutliche Beeinträchtigungen im sprachlichen Bereich geschildert. Im Bereich der Artikulation liege eine partielle Dyslalie mit Rhotazismus, Schetismus und Chitismus vor. Auch im Folgebericht vom 2. Mai 2018 wurde trotz weiterer Verbesserungen im Bereich der Artikulation eine fortbestehende partielle Dyslalie mit Rhotazismus und Schetismus festgestellt. Der Beklagte hielt zudem in einem Aktenvermerk vom 19. März 2018 zu einer Hospitation am 2. März 2018 im SPZ in W. fest, dass es für L.B. laut der Klassenleitung ohne Schulbegleitung nicht möglich sei, den Schulalltag zu schaffen. L.B. spreche undeutlich und verwaschen. Buchstaben würden „verschluckt“. Ein Gespräch sei kaum möglich gewesen. Von Seiten der HPT sei in einem Telefonat am 12. März 2018 ausgeführt worden, dass die Kommunikation zwischen L.B. und Kindern sehr schwierig sei, da die Gruppe ihn nicht verstehe. Die Erzieher müssten fast immer die Anliegen von L.B. an die Kinder „übersetzen“. Die Hortpsychologin sehe eine Sprachstörung im Behinderungsbereich. Schließlich wurde in einem Entwicklungsbericht der Kinderhilfe O. vom 25. Mai 2018 festgestellt, dass die Erzählungen von L.B. für Zuhörer ohne Kenntnis darüber, worüber er gerade erzähle, nur schwer nachvollziehbar seien.
62
Auch die dem Gericht vorliegenden Unterlagen aus dem Jahr 2019 sprechen dafür, dass bei L.B. aufgrund seiner Artikulationsprobleme bis zum 30. Juni 2019 eine körperliche Behinderung vorlag, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte.
63
Denn im Bericht der Logopädischen Praxis Dr. M vom 24. Januar 2019 wurde festgestellt, dass im Bereich der Artikulation noch immer eine partielle Dyslalie mit Schetismus in der Spontansprache vorliege. Zudem wurde in einer schulischen Stellungnahme des SPZ in W. vom 29. März 2019 ausgeführt, dass L.B. am Gruppenverband der Klasse nicht teilhaben könne, da er u.a. in seiner Kommunikationsfähigkeit stark eingeschränkt sei. Er habe sprachlich Schwierigkeiten, an Gesprächen im Unterricht teilzuhaben. Seine sprachlichen Äußerungen würden meist nur aus einzelnen Wörtern oder kurze Phrasen bestehen. Zur Teilhabe am Klassenverband sei er auf Hilfe zur Integration angewiesen. Sprachlich und emotional sei er alleine dazu nicht in der Lage. Im Entwicklungsbericht der Kinderhilfe O. vom 27. Mai 2019 wurden zwar Verbesserungen im sprachlichen Bereich erwähnt. Jedoch wurde gleichzeitig betont, dass sein Sprachniveau weiterhin nicht altersgerecht sei. Seine Erzählungen seien für Zuhörer ohne Kenntnis, wovon L.B. erzähle, weiterhin nur schwer nachvollziehbar. Schließlich wurde im ärztlich-psychologischen Bericht der K.-Klinik vom 29. März 2019 betont, dass L.B. in der Schule wegen seiner sprachlichen Probleme weiterhin bei den Aufgaben eng angeleitet und begleitet werden müsse. Zwar habe er sich weiterhin positiv entwickelt. Jedoch bestünden weiterhin eine ausgeprägte expressive und rezeptive Sprachstörung und deutliche Auffälligkeiten im Kommunikations- und Interaktionsverhalten. Die Sprachtherapie solle, insbesondere auch zur Verbesserung der Aussprache, fortgesetzt werden. Die K.- Klinik stellte in diesem ärztlichen Bericht zudem fest, dass die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweiche und dass daher § 35a SGB VIII zutreffend sei. Der Umstand, dass in diesem Arztbericht – anders als noch in den Vorberichten der K.- Klinik (s.o.) – nicht mehr festgestellt wurde, dass auch die körperlichen Fähigkeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen, schließt nicht aus, dass bei L.B. zu diesem Zeitpunkt zumindest noch eine „andere körperliche Behinderung“ i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX vorlag. Aus Sicht des Gerichts bestand bei L.B. aufgrund seiner Sprachstörungen auch in der ersten Hälfte des Jahres 2019 noch eine solche „andere körperliche Behinderung“. Denn die oben dargestellten sonstigen Berichte und Stellungnahmen aus diesem Zeitraum offenbarten, dass bei L.B. weiterhin expressive Sprachstörungen vorlagen, die seine Kommunikationsfähigkeit mit anderen Personen sowie seine Teilhabe am Unterricht und im Klassenverband beeinträchtigten.
64
b) Auch in dem mit dem Klageantrag unter Ziffer 2 geltend gemachten Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis 31. Juli 2024 lagen bei L.B. weiterhin Sprachstörungen im expressiven Bereich vor, die jedenfalls eine „andere körperliche Behinderung“ gemäß § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX darstellten, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte.
65
Denn in der schulischen Stellungnahme des SPZ in W. vom 25. Februar 2020 wurde ausgeführt, dass L.B. zur Ermöglichung der Teilhabe am Unterricht im Klassenverband auch wegen seiner sprachlichen Problematik weiterhin Schulbegleitung benötige. Zudem wurde im Entwicklungsbericht der Kinderhilfe O. vom 6. Mai 2020 erneut festgestellt, dass das Sprachniveau von L.B. nicht altersgerecht sei und dass seine Erzählungen für Zuhörer ohne Kenntnis, wovon er erzähle, nur schwer nachvollziehbar seien. In den Berichten der Logopädischen Praxis Dr. M vom 10. September 2019 und 14. Januar 2020 wurde jeweils u.a. festgestellt, dass im Bereich der Artikulation noch immer eine partielle Dyslalie mit Schetismus in der Spontansprache vorliege. In einer „Analyse sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen“ der K.- Klinik vom 28. Oktober 2020 wurden bei L.B. zwar Fortschritte bei der Artikulation festgestellt. Jedoch wurde weiterhin betont, dass er im Vergleich zur Altersnorm weiterhin auch auf expressiver Ebene massive Einschränkungen habe und ein spezifisch sprachtherapeutischer Behandlungsbedarf vorliege. Im ärztlich-psychologischen Bericht der K.- Klinik vom 16. Dezember 2020, wurde ergänzend insbesondere ausgeführt, dass weiterhin eine Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache bestehe. Es gebe weiterhin große Schwierigkeiten bei sprachlichen Anforderungen. Der Umstand, dass in diesem Arztbericht – wie bereits im Vorbericht vom 29. März 2019 (s.o.) – nicht mehr festgestellt wurde, dass die körperlichen Fähigkeiten von L.B. mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen, schließt wiederum nicht aus, dass bei L.B. noch eine „andere körperliche Behinderung“ i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX vorlag. Aus Sicht des Gerichts bestand bei L.B. aufgrund seiner Sprachstörungen auch im Dezember 2020 noch eine solche „andere körperliche Behinderung“. Denn die oben dargestellten sonstigen Berichte und Stellungnahmen aus dem Jahr 2020 offenbarten, dass bei L.B. weiterhin expressive Sprachstörungen vorlagen, die seine Kommunikationsfähigkeit mit anderen Personen sowie seine Teilhabe am Unterricht im Klassenverband beeinträchtigten.
66
Schließlich wurden auch im Entwicklungsbericht der Kinderhilfe O. vom 27. April 2021 weiterhin Probleme von L.B. im Bereich der expressiven Sprache festgestellt. So wurde dort insbesondere ausgeführt, dass L.B., obwohl er sich in den vorangegangenen sechs Monaten sprachlich immens verbessert habe, sprachlich weiterhin auffällig sei und sein Wortschatz immer noch gering sei. Die Klärung von Meinungsverschiedenheiten mit anderen Kindern sei für ihn eine große Herausforderung. Er bedürfe hierbei meist Unterstützung in der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und dabei, herauszubekommen, was er wolle. Dies zu erkennen und für Andere verständlich zu formulieren, falle L.B. noch immer schwer. Bei „möglichen weiteren Förderzielen“ wurde insbesondere „sprachliche Ausdrucksfähigkeit fördern“ und „freies Sprechen und Erzählen üben“ genannt. Zusammenfassend wurde ausgeführt, dass L.B. sich zwar seit September 2020 sehr positiv entwickle, dass er aber aufgrund seiner Beeinträchtigungen weiterhin auf intensive Unterstützung angewiesen sei. Um die Fortschritte, insbesondere auch in seiner Kommunikationsfähigkeit weiterhin fördern zu können, werde die Weiterführung der Betreuung in der heilpädagogischen Gruppe empfohlen.
67
Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass bei L.B. auch in den Jahren 2020 und 2021 noch eine Sprachstörung im expressiven Bereich vorlag, die eine „andere körperliche Behinderung“ i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX darstellte.
68
Für den Zeitraum vom Jahr 2022 bis zum 31. Juli 2024 liegen dem Gericht zwar keine Unterlagen mit detaillierten Ausführungen zu den Sprachstörungen von L.B. im expressiven Bereich vor. Jedoch wurde z.B. im Bericht der Therapeutin vom 1. März 2023, bei der L.B. wegen seiner LRS seit 19. Oktober 2022 in Behandlung war, zumindest ausgeführt, dass der Wortschatz von L.B. weiterhin nicht altersgemäß entwickelt sei und dass er sich im mündlichen Sprachausdruck schwertue. Zudem ergibt sich aus dem einzigen dem Gericht für das Jahr 2022 bis 31. Juli 2024 vorliegenden Arztbericht, nämlich dem Gutachten der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. N. vom 5. März 2023, dass L.B. auch in diesem Zeitraum noch Probleme im Bereich der expressiven Sprache hatte und es im sprachlichen Bereich sogar zu Rückschritten gekommen war. Denn dort wurde ausgeführt, dass L.B. nur einen geringen Wortschatz habe und oft Probleme habe, sich detailliert auszudrücken. Bis Sommer 2021 habe er im SPZ in W. Ergotherapie und Logopädie erhalten. Beides sei seitdem beendet, was vor allem zu Rückschritten in der Sprache geführt habe. Ein neuer Platz in einer der beiden Therapiemaßnahmen sei aktuell nicht zu bekommen. L.B. bekomme nach seinem Wechsel vom SPZ in W. an die Mittelschule in W. noch keinen richtigen Kontakt zu seinen Mitschülern. Manchmal würden ihn Kinder aus der Nachbarschaft zum Spielen holen. Dabei könne L.B. dann aber oft nicht wiedergeben, wie die Kinder heißen.
69
Daher ist davon auszugehen, dass bei L.B. auch vom Jahr 2022 bis 31. Juli 2024 noch eine Sprachstörung im expressiven Bereich vorlag, die eine „andere körperliche Behinderung“ i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX darstellte.
70
2.3. Der Kläger war daher für die im streitgegenständlichen Zeitraum bewilligte Eingliederungshilfe für Schulbegleitung sowie den Besuch der HPT bereits aufgrund der bei L.B. in diesem Zeitraum bestehenden körperlichen Behinderung aufgrund von Epilepsie bzw. Sprachstörungen vorrangig zuständig. Daher kann dahinstehen, ob in diesem Zeitraum eine körperliche Behinderung von L.B. auch aufgrund von motorischen Beeinträchtigungen vorlag und ob bei ihm eine geistige Behinderung vorlag.
71
3. Auch ein Anspruch nach § 102 SGB X kommt nicht in Betracht, obwohl der Kläger die streitgegenständlichen Bescheide teilweise als „vorläufig“ bezeichnet hat, da der Kläger bei der allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Betrachtung (vgl. hierzu: BayVGH, 24.2.2014 – 12 ZB 12.715 -juris Rn. 24) keine vorläufige Leistung erbracht hat. Denn eine vorläufige Leistung ist in der hier zugrundeliegenden Konstellation des Vorrang-/Nachrangverhältnisses von Kläger und Beklagtem als Sozialleistungsträger bzw. Jugendhilfeträger systemwidrig und damit ausgeschlossen. Im Anwendungsbereich des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII kann es keine vorläufige Leistung geben, weshalb sich die Erstattungsforderung vorliegend nur nach § 104 SGB X richten kann (vgl. VG München, U.v. 17.7.2024 – M 18 K 19.5332 – juris Rn. 44; Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 10 SGB VIII, Stand: 30.08.2023, Rn. 110).
72
4. Auch die zwischen dem Kläger und den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten in Bayern geschlossene Kooperationsvereinbarung, auf die sich die Parteien immer wieder ausdrücklich bezogen, führt zu keiner anderen Bewertung der Zuständigkeiten. Denn die gesetzliche Zuständigkeitsregelung kann nicht durch eine solche Vereinbarung abbedungen werden, sodass das Gericht diese – wie bereits mehrfach entschieden – für unwirksam erachtet (vgl. zuletzt: VG München, U.v. 20.3.2024 – M 18 K 19.931 – juris Rn. 72).
73
Der Kläger war somit für die im streitgegenständlichen Zeitraum bewilligte Eingliederungshilfe in Form von Schulbegleitung und Besuch einer HPT durch L.B. vorrangig zuständig und hat keinen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten.
74
Die Klage war somit abzuweisen.
75
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
76
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.