Titel:
Verwertung von Beweisergebnissen im Nachlassverfahren bei Wechsel in der Besetzung des Gerichts
Normenketten:
FamFG § 28 Abs. 4, § 29 Abs. 3, § 37 Abs. 2
ZPO § 355
Leitsätze:
Grundsätzlich hindert ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts die Verwertung eines zuvor gewonnenen Beweisergebnisses im Wege des Urkundenbeweises durch den neu hinzutretenden Richter nicht. Voraussetzung ist aber, dass der persönliche Eindruck des vernehmenden Richters von der Beweisperson durch Niederlegung aktenkundig ist und die Beteiligten Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen. (Rn. 11)
Auf eine Zustimmung der Beteiligten zur Verwertung der Zeugenaussagen im Wege des Urkundenbeweises kommt es im Amtsermittlungsverfahren nicht an. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beweisunmittelbarkeit, Erbschein, rechtliches Gehör, Urkundenbeweis, Amtsermittlungspflicht, Feststellungslast, Wechsel der Gerichtsbesetzung
Vorinstanz:
AG Mühldorf, Beschluss vom 12.04.2024 – VI 1158/21
Fundstellen:
ErbR 2025, 343
FGPrax 2025, 48
FDZVR 2025, 936372
LSK 2024, 36372
FDRVG 2025, 936372
BeckRS 2024, 36372
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 4) wird der Beschluss des Amtsgerichts Mühldorf a. Inn – Nachlassgericht – vom 12.04.2024, Az. VI 1158/21, aufgehoben.
2. Die Akten werden an das Amtsgericht Mühldorf a. Inn – Nachlassgericht – zur Entscheidung zurückgegeben.
Gründe
1
Der Erblasser verstarb am ... 09.2021 kinderlos und unverheiratet in M. am St.. Er hinterlässt seine Mutter, die Beteiligte zu 3), seine beiden Brüder, die Beteiligten zu 2) und 4), seine Halbschwester väterlicherseits, die Beteiligte zu 1), sowie fünf Halbgeschwister mütterlicherseits. Der Vater des Erblassers ist bereits am ... 10.2020 vorverstorben. Der Erblasser war bei seinem Tod Eigentümer eines Hauses sowie eines Pkw.
2
Mit Antrag vom 16.01.2023 beantragte die Beteiligte zu 1) zu Protokoll des Amtsgerichts Mühldorf a. Inn – Nachlassgericht – einen Erbschein dahingehend, dass der Erblasser aufgrund gesetzlicher Erbfolge beerbt wird von der Beteiligten zu 3) zu ½ sowie von den Beteiligten zu 1), 2) und 4) zu je 1/6 Sie begründete diesen Antrag damit, dass eine Verfügung von Todes wegen nicht vorhanden sei.
3
Mit Antrag vom 16.01.2023 beantragte der Beteiligte zu 4) zu Protokoll des Amtsgerichts Mühldorf a. Inn – Nachlassgericht – einen Erbschein dahingehend, dass der Erblasser aufgrund gewillkürter Erbfolge beerbt wird von den Beteiligten zu 2) und 4) zu je ½. Er begründet diesen Antrag damit, dass sich die Erbfolge nach einem nicht mehr auffindbaren eigenhändigen Testament des Erblassers aus dem Jahr 2017 richte. Dieses habe der Erblasser vor einer schweren Operation handschriftlich in der Unfallklinik Murnau verfasst und seitdem stets in seinem Geldbeutel aufbewahrt.
4
Das Nachlassgericht hat gemäß Verfügung vom 17.08.2023 sämtliche Beteiligten angehört und die Zeugen X1, X2 und X3 vernommen. Zum Jahreswechsel 2023/2024 ist ein Richterwechsel erfolgt.
5
Mit Schriftsatz vom 16.11.2023 hat der Beteiligte zu 4) mitgeteilt, dass er von dem Zeugen X3 erfahren habe, dass dieser vor der Einvernahme durch das Nachlassgericht von dem Zeugen X1 eingeschüchtert worden sei.
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Mit Beschluss vom 12.04.2024, dem Beteiligten zu 3) zugestellt am 10.05.2024, hat das Nachlassgericht den Erbscheinsantrag des Beteiligten zu 4) zurückgewiesen und die zur Begründung des Antrags der Beteiligten zu 1) vom 16.01.2023 erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet.
7
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Beteiligten zu 4) vom 06.06.2024. Er rügt, dass das Nachlassgericht an den Nachweis der Existenz des Testaments zu hohe Ansprüche gestellt habe. Im Übrigen habe es nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Zeugen L. und S. vor der mündlichen Verhandlung eingeschüchtert worden seien. Die nochmalige Einvernahme der Zeugen werde daher beantragt.
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Nach erneutem Richterwechsel zum 01.09.2024 hat das Nachlassgericht mit Beschluss vom 18.09.2024 der Beschwerde nicht abgeholfen und die Akten mit Verfügung vom selben Tag dem zuständigen Senat zur Entscheidung vorgelegt.
9
Die in formeller Hinsicht nicht zu beanstandende Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Nachlassgerichts vom 12.04.2024 hat in der Sache einen vorläufigen Erfolg. Die Sache ist unter Aufhebung des Beschlusses vom 12.04.2024 an das Nachlassgericht zurückzugeben, da das gesamte Verfahren an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel – Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs – leidet.
10
1. § 355 ZPO normiert den Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit. Zwar gehört dieser nicht zu den allgemein für das FamFG-Verfahren geltenden Grundsätzen (Sternal/Sternal, FamFG, § 30 Rn. 21 mwN). Im – hier vorliegenden – Fall der Anordnung einer förmlichen Beweisaufnahme durch das Nachlassgericht muss der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme allerdings beachtet werden (Sternal/Sternal, FamFG, § 30 Rn. 21 mwN).
11
Zwar hindert ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts nach Durchführung der Beweisaufnahme den neu hinzutretenden Richter nicht, das Beweisergebnis im Wege des Urkundenbeweises durch Verwertung der Vernehmungsniederschrift zu würdigen; dies setzt aber voraus, dass – wie auch im Verfahren nach der ZPO – der persönliche Eindruck des vernehmenden Richters von der Beweisperson durch Niederlegung aktenkundig ist, §§ 28 Abs. 4, 29 Abs. 3 FamFG, und die Beteiligten Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen, § 37 Abs. 2 FamFG (Sternal/Sternal, FamFG, § 30 Rn. 22 mwN).
12
2. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Nachlassgerichts vom 12.04.2024 nicht gerecht.
13
a) Sämtliche Zeugen wurden am 26.10.2023 vom Referatsvorgänger vernommen. Der entsprechenden Protokollierung der Zeugenaussagen (Bl. 103/107 d.A.) sind neben den Aussagen der Zeugen in der Sache keine weitergehenden Feststellungen zur Glaubwürdigkeit der Zeugen oder zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussage zu entnehmen.
14
b) Auf dieser Grundlage war es der Referatsnachfolgerin nicht möglich, sich ohne eine Wiederholung der Beweisaufnahme im Wege des Urkundenbeweises eine eigene Überzeugung hinsichtlich des Beweiswerts der einzelnen Aussagen und somit hinsichtlich der Frage der wirksamen Errichtung und Existenz eines Testaments zu bilden. Auf eine Zustimmung der Beteiligten zur Verwertung der Zeugenaussagen im Wege des Urkundenbeweises kommt es im hier vorliegenden Amtsermittlungsverfahren (§ 26 FamFG) nicht entscheidend an.
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(1) Allein die Tatsache, dass sich die Angaben der Beteiligten und Zeugen widersprechen bzw. diese „uneinheitlich betreffend der Existenz eines Testaments des Erblassers sind“, macht die Wiederholung nicht obsolet. Auch dass sämtliche Beteiligten ein eigenes Interesse an der Existenz bzw. Nichtexistenz des fraglichen Testaments haben, schmälert nicht zwangsläufig ihre Glaubwürdigkeit, insbesondere wenn ihre Angaben entsprechend detailliert sind. Umgekehrt kann jedoch eine Einschüchterung von oder Einflussnahme auf Zeugen die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen erheblich schmälern.
16
(2) Dass die Beteiligten keine genaueren Angaben dazu machen können, wann genau der Erblasser das Testament verfasst haben soll, stellt ebenfalls keinen hinreichenden Grund dar, von einer Wiederholung der Beweisaufnahme abzusehen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Kenntnis eines konkreten Datums keine zwingende Voraussetzung für den Beweis der Existenz und wirksamen Errichtung eines Testaments ist, kann dem Protokoll der Beweisaufnahme vom 26.10.2023 schon nicht entnommen werden, dass und welche konkreten Nachfragen diesbezüglich seitens des Gerichts erfolgt sind. Sollte das Nachlassgericht dem konkreten Errichtungsdatum entscheidendes Gewicht beimessen, wäre im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Frage nachzugehen, wann genau der betreffende Krankenhausaufenthalt in Murnau stattfand und welches Datum im August 2017 in diesem Zusammenhang auf einen Sonntag entfiel.
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(3) Erst wenn das Nachlassgericht auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage zu einer eigenen Überzeugung dahingehend gelangt ist, dass keiner der sich widersprechenden Aussagen ein höheres Gewicht beizumessen ist, kann aufgrund fortbestehender Zweifel nach Feststellungslastgrundsätzen entschieden werden.
18
3. Dass das Nachlassgericht es derzeit lediglich „für durchaus möglich“ hält, dass der Erblasser das – unterstellt vorhandene – Testament vernichtet hat, stellt keine tragbare Entscheidungsgrundlage dar.
19
Eine Kostenentscheidung ist bei der erfolgreichen Beschwerde nicht veranlasst.
20
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor.
Erlass des Beschlusses (§ 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG): Übergabe an die Geschäftsstelle am 19.12.2024.