Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 11.10.2024 – W 5 K 23.967
Titel:

isolierte Abweichung von einer örtlichen Bauvorschrift (Gestaltungssatzung), Anbringung einer wandparallelen Photovoltaikanlage, Vorhaben zur Nutzung erneuerbarer Energien

Normenketten:
BayBO Art. 63 Abs. 3 S. 1
BayBO Art. 63 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
BayBO Art. 81 Abs. 1 Nr. 1
Schlagworte:
isolierte Abweichung von einer örtlichen Bauvorschrift (Gestaltungssatzung), Anbringung einer wandparallelen Photovoltaikanlage, Vorhaben zur Nutzung erneuerbarer Energien
Fundstelle:
BeckRS 2024, 36337

Tenor

I. Unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheids der Stadt R. vom 12. Juni 2023 wird die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die mit Schreiben vom 10. März 2023 beantragte isolierte Abweichung von der Gestaltungssatzung zu erteilen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt die Erteilung einer isolierten Abweichung von der Erhaltungs- und Gestaltungssatzung der Stadt R. für die Anbringung einer wandparallelen PV-Anlage an das Wohnhaus auf dem Grundstück Fl.Nr. …6 der Gemarkung R., O. *3 in R. (Baugrundstück).
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1. Das Baugrundstück, das mit einem Wohnhaus bebaut ist, liegt im Geltungsbereich der Erhaltungs- und Gestaltungssatzung für die Altstadt R. vom 6. März 2023 der Stadt R. (Beklagte). Diese trifft in „Teil B – Gestaltungssatzung“ unter Ziffer „9. Gebäude/Fassade 9.1. Fassadenmaterial“ u.a. folgende Regelung: „7. Abweichend zugelassen: In Abstimmung mit der Stadt R. sind Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energie (Solarthermie- und Photovoltaikanlagen) als wandparallele Anlagen an vom öffentlichen Raum nicht einsehbaren Fassadenflächen möglich. Die Module müssen eine matte Oberfläche haben und ohne sichtbare, glänzende Einfassungen sein. Die Farbe der Module muss der Fassadenfläche entsprechen oder dunkelgrau sein.“ Unter „15. Schlussbestimmungen – Abweichungen“ findet sich die Formulierung, dass von den Vorschriften dieser Satzung die Stadt R. Abweichungen nach Art. 63 BayBO zulassen kann.
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Mit Formblattantrag vom 10. März 2023, eingegangen bei der Beklagten am 14. März 2023, beantragte die Klägerin die Erteilung einer „isolierten Abweichung/Ausnahme/Befreiung“ von örtlichen Bauvorschriften, von der Erhaltungs- und Gestaltungssatzung/Altstadt R. vom 23. Dezember 2022, Punkt 9.1, Unterpunkt 7, für die Erstellung einer wandparallelen PV-Fassadenanlage. Zur Begründung wurde angegeben, dass keine geeigneten und zulässigen Dachflächen für eine PV-Anlage zur Eigenstromnutzung am vorliegenden Standort vorhanden seien. Ausweislich der beigefügten Skizze sollen die 10 PV-Module mit einer Gesamtbreite von ca. 6 m und einer Höhe von ca. 3 m an der südwestlichen Giebelwand angebracht werden.
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Das Planungsbüro H.-L. als Sanierungsberater der Beklagten äußerte sich im Rahmen der Beratung vom 3. Februar 2023 unter dem 27. Februar 2023: Das Anwesen der Klägerin liege außerhalb des Denkmalensembles „Altstadt R.“ und innerhalb des Bodendenkmals …2 sowie im förmlich festgesetzten Sanierungsgebiet „Altstadt R.“ und im räumlichen Geltungsbereich der Erhaltungs- und Gestaltungssatzung der Stadt R. Das Gebäude sei nicht historisch. Die geplante PV-Anlage sei nicht zulässig, da diese vom öffentlichen Raum aus einsehbar sei. Der PV-Anlage werde aus städtebaulicher Sicht nicht zugestimmt. Eventuelle Abweichungen von der Gestaltungssatzung seien nur im Rahmen eines Antrags auf isolierte Abweichung von örtlichen Bauvorschriften möglich, sofern die Stadt R. dem Antrag zustimme.
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2. Der Stadtrat der Beklagten lehnte in seiner Sitzung vom 5. Juni 2023 den Antrag ab.
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Mit Bescheid vom 12. Juni 2023 entschied die Beklagte wie folgt:
„2. Die isolierte Befreiung von den Festsetzungen der Erhaltungs- und Gestaltungssatzung, für das Anwesen O. *3 (Fl.-Nr. …6) der Gemarkung R. gemäß Antrag vom 10.3.2023 in Bezug auf die Punkte 9. Gebäude/Fassade und hier 9.1 Fassadenmaterial Unterpunkt 7. der Satzung wird nicht erteilt.“
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Zur Begründung wurde ausgeführt: Gemäß Ziffer 9 Abs. 1 Nr. 7 der Gestaltungssatzung seien in Abstimmung mit der Stadt R. Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energie (Solarthermie- und Photovoltaikanlagen) als wandparallele Anlagen an vom öffentlichen Raum nicht einsehbaren Fassadenflächen möglich. Die beantragte PV-Anlage sei von der Antragstellerin mit der Skizze auf Seite 5 der Notiz zur Beratung vom 3. Februar 2023 im Schreiben vom 27. Februar 2023 der Sanierungsberaterin Frau H. beschrieben worden. Diese Anordnung der PV-Anlage stelle eine Abweichung von der Gestaltungssatzung dar, da sie in dieser Form vom öffentlichen Raum aus einsehbar sei. Somit bedürfe sie einer isolierten Befreiung von örtlichen Bauvorschriften. Die Antragsunterlagen seien von der Sanierungsberaterin in der Stellungnahme vom 27. Februar 2023 geprüft worden. Der Stadtrat habe in der Sitzung vom 5. Juni 2023 dem Antrag auf isolierte Befreiung von örtlichen Bauvorschriften in diesem Fall nicht zugestimmt. Die Stellungnahme der Sanierungsberaterin sei bei der Beurteilung des Sachverhaltes berücksichtigt worden.
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Der am 14. März 2023 durch die Klägerin gestellte Antrag auf eine sanierungsrechtliche Genehmigung gemäß § 144 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB für die Anbringung einer wandparallelen PV-Anlage an der südlichen Außenwand des bestehenden Gebäudes wurde mit Ziffer 1 des Bescheids vom 12. Juni 2023 abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Klage ist Gegenstand des Verfahrens W 5 K 23.966.
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3. Am 13. Juli 2023 ließ die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage erheben mit dem zuletzt gestellten Antrag:
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheids vom 12. Juni 2023 verpflichtet, die mit Schreiben vom 10. März 2023 beantragte,  isolierte Abweichung von der Ortsgestaltungssatzung zu erteilen.
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Zur Begründung der Klage wurde vorgetragen: Die zulässige Klage sei begründet. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Erteilung der isolierten Abweichung nach Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO i.V.m. der Ortsgestaltungssatzung. Die Stadt habe ihr Ermessen im Rahmen von Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO rechtsfehlerhaft ausgeübt. Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO solle die Behörde Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar seien. Dies gelte gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BayBO insbesondere für Vorhaben zur Energieeinsparung und Nutzung erneuerbarer Energien. Bereits mit dieser expliziten Erwähnung der erneuerbaren Energien in Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BayBO werde der Wille des Gesetzgebers erkennbar, diesem Belang stets ein erhöhtes Gewicht im Rahmen einer Ermessensausübung beizumessen. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung werde noch deutlicher in § 2 EEG normiert. Danach lägen die Errichtung und der Betrieb von Anlagen zur Förderung erneuerbarer Energien im überragenden öffentlichen Interesse und dienten der öffentlichen Sicherheit. Die Beklagte habe im Rahmen ihrer Abwägungsentscheidung diesen überragend wichtigen Belang der Förderung erneuerbarer Energien völlig unzureichend und somit fehlerhaft gewichtet. Offensichtlich sei der Beklagten die Anordnung des § 2 EEG bei Ihrer Entscheidung nicht ausreichend bekannt gewesen. Es fehle jeder Hinweis darauf, dass Belange vorlägen, die ausnahmsweise das hohe Gewicht der Förderung erneuerbarer Energien überwiegen würden. Erkennbar sei lediglich, dass die Beklagte primär das Ziel verfolgt habe, das historische Stadtbild zu wahren. Dieses Ziel müsse aber genau durch dieses Vorhaben so stark erschüttert werden, dass es ausnahmsweise den überragend wichtigen Belang der Förderung erneuerbarer Energien überwiege. Eine solch große Beeinträchtigung der Wahrung des Stadtbildes sei durch das Vorhaben jedoch nicht zu erwarten. Die PV-Anlage sei zwar vom öffentlichen Raum aus sichtbar, jedoch liege das Gebäude nicht an einer exponierten Stelle. Ein überragend wichtiger Belang, der dem § 2 EEG entgegenstehe, liege daher nicht vor. Soweit die Beklagte sich darauf berufe, die Befreiung nach Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO verstoße gegen die Grundzüge der Planung, verkenne sie, dass es auf etwaige „Grundzüge der Planung“ tatbestandlich schon nicht ankomme. Aus der gesamten Akte sei nicht eine vage Andeutung zu entnehmen, dass der Belang der Nutzung erneuerbarer Energien erkannt worden wäre.
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4. Die Beklagte ließ durch ihren Bevollmächtigten den Antrag stellen,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde vorgetragen: Der Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 2023 sei rechtmäßig und verletze auch in Ziffer 2 die Klägerin nicht in ihren Rechten. Es bestehe kein Anspruch auf die Erteilung der begehrten Befreiung. Die Beklagte berufe sich auf die wirksame Erhaltungs- und Gestaltungssatzung. Unabhängig davon, ob eine Befreiung aus § 31 Abs. 2 BauGB oder Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1, Abs. 3 BayBO begehrt würden, bestehe jedenfalls schon kein Anspruch auf eine solche Befreiung bzw. Abweichung. Wie bereits im gesamten Verwaltungsverfahren erläutert worden sei, verletze die geplante PV-Fassadenanlage die Grundzüge der Planung und würde den Sinn einer Gestaltungssatzung, nämlich den Erhalt des Ortsbildes, unterlaufen. Es lägen deshalb schon die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine etwaige Befreiung bzw. Abweichung nicht vor. Deshalb sei der Belang der Förderung der erneuerbaren Energien auch nicht übersehen oder unzureichend gewichtet worden. Somit stelle sich die Frage eines Anspruchs bzw. der Ermessensreduzierung auf null nicht, so dass eine Befreiung bzw. Abweichung nicht erteilt werden könne, unabhängig von der Tatsache, dass auch die Förderung von erneuerbaren Energien durchaus in der Entscheidung Einklang gefunden habe.
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5. In der mündlichen Verhandlung wurde die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf das Sitzungsprotokoll vom 11. Oktober 2024, auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die Gerichtsakte im Verfahren W 5 K 23.966 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die als Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) zulässige Klage ist begründet.
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Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung einer Abweichung von der Erhaltungs- und Gestaltungssatzung/Altstadt R. vom 6. März 2023 (Gestaltungssatzung). Ziffer 2 des Bescheids der Beklagten vom 12. Juni 2023 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Die Beklagte, die für die Erteilung einer Abweichung für das verfahrensfreie Bauvorhaben nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a. aa., Art. 63 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 BayBO i.V.m. Ziffer 15 Abs. 1 Satz 1 der Gestaltungssatzung der Beklagten, Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG zuständig war, hat die Erteilung einer Abweichung von dieser Satzung zu Unrecht abgelehnt.
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Die von der Klägerin geplante Errichtung einer wandparallelen PV-Anlage an der südwestlichen Giebelwand ihres Wohnhauses bedarf einer Abweichung i.S.v. Ziffer 15 Abs. 1 der Gestaltungssatzung der Stadt R. Denn das beantragte Vorhaben steht im Widerspruch zu Ziffer 9.1 Unterpunkt 7 der Gestaltungssatzung, wonach Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien als wandparallele Anlagen nur an vom öffentlichen Raum nicht einsehbaren Fassadenflächen „möglich“ – also zulässig – sind. Allerdings kann die Stadt R. gemäß Ziffer 15 Abs. 1 ihrer Gestaltungssatzung von den Vorschriften dieser Satzung Abweichungen nach Art. 63 BayBO zulassen.
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1. Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 BayBO i.V.m. Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO soll die Gemeinde eine Abweichung von örtlichen Bauvorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar ist.
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Dies setzt jedoch – auf Tatbestandsseite – eine atypische, grundstücksbezogene Fallgestaltung voraus, die sich dadurch auszeichnet, dass sie vom Satzungsgeber nicht ausreichend erfasst oder bedacht worden ist; wirtschaftliche Erschwernisse oder eine besondere persönliche Fallgestaltung des Bauherrn rechtfertigen eine Abweichung nicht (VG München, U.v. 12.3.2024 – M 1 K 20.2131 – BeckRS 2024, 6544 Rn. 24; zum Ganzen: BayVGH, U.v. 10.5.2022 – 1 B 19.362 – BeckRS 2022, 12028 Rn. 41). Eine solche Atypik setzt mit anderen Worten einen Unterschied des zu entscheidenden Falls vom normativen Regelfall voraus (BayVGH, B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 3).
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Mit Gesetz zur Vereinfachung baurechtlicher Regelungen und zur Beschleunigung sowie Förderung des Wohnungsbaus im Jahr 2021 hat der Gesetzgeber allerdings ausdrücklich geregelt, unter welchen Voraussetzungen eine Abweichung erteilt werden soll. Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BayBO in der seit dem Gesetz zur Änderung des Baukammerngesetzes und weiterer Rechtsvorschriften (ÄndG 2023) geltenden Fassung soll bei Vorhaben zur Energieeinsparung und Nutzung erneuerbarer Energien eine Abweichung erteilt werden. Mit diesem Regelbeispiel hat der Gesetzgeber demnach eine atypische Situation konkret festgelegt, unter der eine Abweichung von den Anforderungen der BayBO und der aufgrund der BayBO erlassenen Vorschriften zugelassen werden soll (vgl. BayVGH, U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – BeckRS 2023, 17178 Rn. 27; Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Aug. 2024, Art. 63 Rn. 25a; Weinmann in BeckOK BauordnungsR Spannowsky/Manssen, 30. Ed. 1.7.2024, Art. 63 Rn. 42k).
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Die Regelung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BayBO ist zwar erst nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheids (12.6.2023), nämlich zum 1. August 2023 in Kraft getreten. Bei der – hier gegebenen – Verpflichtungsklage ist aber als der maßgebliche Zeitpunkt der der Sach- und Rechtslage der letzten mündlichen Verhandlung anzusehen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 113 Rn. 217).
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2. Neben den formell-rechtlichen Anforderungen – es liegt ein hinreichender Antrag der Klägerin auf Erteilung einer isolierten Befreiung i.S.v. Art. 63 Abs. 2 BayBO vor – sind auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 BayBO gegeben (s.u. 2.1. und 2.2.). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung dieser Abweichung (s.u. 2.3.). Im Einzelnen:
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2.1. Bei der Anbringung der wandparallelen PV-Anlage an das Wohnhaus der Klägerin handelt es sich um ein Vorhaben zur Nutzung erneuerbarer Energien i.S.v. Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Var. 2 BayBO.
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Zu den erneuerbaren oder regenerativen Energien zählt gemäß der Begriffsbestimmung in § 3 Abs. 2 GEG u.a. die technisch durch im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang mit dem Gebäude stehenden Anlagen zur Erzeugung von Strom aus solarer Strahlungsenergie oder durch solarthermische Anlagen zur Wärme- oder Kälteerzeugung nutzbar gemachte Energie, also Photovoltaik und solarthermische Anlagen (vgl. Weinmann in BeckOK BauordnungsR Spannowsky/Manssen, 30. Ed. 1.7.2024, Art. 63 Rn. 42o; Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Aug. 2024, Art. 63 Rn. 41e). Bei der von der Klägerin geplanten wandparallelen Photovoltaik-Anlage handelt es sich zweifelsohne um eine im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang mit dem Wohngebäude der Klägerin stehende Anlage zur Erzeugung von Strom aus solarer Strahlungsenergie.
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2.2. Auch die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind gegeben. Die (isolierte) Abweichung von der Gestaltungssatzung der Beklagten für die Errichtung der wandparallelen PV-Anlage an der südwestlichen Giebelwand des Wohnhauses der Klägerin ist auch unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO). Dem liegen die folgenden rechtlichen Erwägungen zugrunde:
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Erster Schritt der Prüfung des Antrags auf Abweichung ist die Frage, ob diese „unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung“ mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Dabei ist zunächst der Zweck der jeweiligen Anforderung – dies ist der Standard, den die betroffene und zur Disposition gestellte materielle bauordnungsrechtliche Norm gewährleisten will – durch Auslegung zu ermitteln, wenn er in der Norm selbst nicht schon explizit ausformuliert ist (Weinmann in BeckOK BauordnungsR Spannowsky/Manssen, 30. Ed. 1.7.2024, Art. 63 Rn. 19). Hier erweist sich die Beschränkung in Ziffer 9.1 Unterpunkt 7 der Gestaltungssatzung, dass Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energie als wandparallele Anlagen nur an vom öffentlichen Raum nicht einsehbaren Fassadenflächen zulässig sind, als unmittelbarer Ausfluss des in Ziffer 6 der Gestaltungssatzung niedergelegten allgemeinen Gestaltungsgrundsatzes, wonach das gewachsene Erscheinungsbild der historischen Altstadt mit den angrenzenden Erweiterungsbereichen in seiner Eigenart und Gestalt zu erhalten und zu schützen, zu verbessern und weiterzuentwickeln ist.
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„Berücksichtigen“ der jeweiligen Anforderung bedeutet weniger als „beachten“. Es ist also die strenge normative Bindung gelockert (vgl. BayVGH, B.v. 17.2.2002 – BeckRS 2002, 26265 Rn. 16). Berücksichtigen bedeutet vielmehr, dass Bauherr und Bauaufsichtsbehörde den mit der Norm verfolgten Zielen so weit wie möglich Rechnung tragen (vgl. Dhom/Simon in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 154. EL Juni 2024, Art. 63 Rn. 21). Dabei ist zunächst zu fragen, ob das von der Norm des materiellen Bauordnungsrechts bzw. hier der Gestaltungssatzung abweichende Bauvorhaben die mit der jeweiligen Norm verfolgten Ziele ebenso gut oder besser, aber auf andere als gesetzlich vorgeschriebene Weise erreicht (Fallgruppe 1) oder ob hierdurch die mit der Norm verfolgten Ziele verfehlt werden (Fallgruppe 2), also hinter dem verfolgten Schutzniveau zurückgeblieben wird (vgl. BayVGH, B.v. 17.2.2002 – BeckRS 2002, 26265 Rn. 16; Dhom/Simon in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 154. EL Juni 2024, Art. 63 Rn. 22; Weinmann in BeckOK BauordnungsR Spannowsky/Manssen, 30. Ed. 1.7.2024, Art. 63 Rn. 20). Vorliegend ist davon auszugehen, dass das von der Klägerin geplante Vorhaben einer wandparallelen PV-Anlage die mit der Gestaltungssatzung verfolgten Ziele verfehlt, also hinter dem Schutzniveau zurückbleibt.
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Allerdings ist auch in dieser Fallkonstellation, nämlich der der Verfehlung des Normziels, da nicht ein striktes „beachten“, gefordert wird, sondern nur ein „berücksichtigen“, eine Abweichung nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Vielmehr ist ein Zurückbleiben hinter dem von der Norm angestrebten Schutzniveau vertretbar, wenn dessen Einhaltung aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht geboten ist. Die Zulassung der Abweichung setzt also eine von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung, mithin einen von der Regel abweichenden atypischen Fall, voraus (vgl. Weinmann in BeckOK BauordnungsR Spannowsky/Manssen, 30. Ed. 1.7.2024, Art. 63 Rn. 22; BayVGH, U.v. 15.12.2008 – 22 B 07.143 – BeckRS 2009, 30181). Dies ist bei dem hier gegebenen Vorhaben zur Nutzung erneuerbarer Energien i.S.v. Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Var. 2 BayBO als gesetzlich geregeltem Fall der Atypik zu bejahen.
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Vorliegend wurden von Klägerseite darüber hinaus objektive Umstände vorgetragen, die unter Würdigung der Belange mit Blick auf das normative Ziel eine isolierte Abweichung von der gemeindlichen Gestaltungssatzung rechtfertigen können. So hat die Klägerin bereits in ihrem Antrag dargelegt, dass keine geeigneten und zulässigen Dachflächen für eine PV-Anlage am vorliegenden Standort verfügbar seien. So ist die südöstliche Dachfläche des Wohnhauses der Klägerin stärker vom öffentlichen Verkehrsraum einsehbar – nämlich von der Hauptstraße (O.) aus – als die beantragte Fassadenanlage, die nur von einer Neben straße (Ecke B.Ra.) aus einsehbar ist. Hierauf hat auch die Sanierungsplanerin der Beklagten in ihrer Stellungnahme vom 7. Juni 2022 hingewiesen: „Die südöstliche Dachfläche des bestehenden Hauptgebäudes eignet sich aufgrund ihrer Orientierung zum Straßenraum nicht“ (Bl. 21 der Behördenakte). Des Weiteren ist die Anbringung einer PV-Anlage auf dieser Dachfläche auch durch die dort errichtete große Gaube und den Versatz, den das Dach in seinem südlichen Bereich macht, wie sich insbesondere den Lichtbildaufnahmen auf Bl. 10 und Bl. 22 der Behördenakte entnehmen lässt, stark limitiert. Eine Anbringung der PV-Anlage auf der Nordwestseite des Daches ist aufgrund der Ausrichtung im Hinblick auf den Energieertrag mit der beantragten Anlage nicht vergleichbar. Darüber hinaus hat in die Abwägung auch einzufließen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Anwesen weder um ein Einzeldenkmal handelt, es sich auch außerhalb des Denkmalensembles „Altstadt R.“ befindet und als „nicht historisch“ anzusehen ist (so die Sanierungsplanerin in ihrer Stellungnahme vom 27.2.2023, Bl. 7 der Behördenakte).
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Schließlich spricht für die Abwägungsentscheidung zugunsten des Vorhabens, dass hier nicht von einem Verstoß gegen die in Ziffer 6 (Spiegelstriche 1 bis 3) der Gestaltungssatzung der Beklagten niedergelegten einzelnen Gestaltungsgrundsätze gesprochen werden kann. So ist schon kein Anhaltspunkt dafür vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, dass das Bauvorhaben gegen die Vorgabe, dass bauliche Anlagen dem Art. 8 BayBO „Baugestaltung“ entsprechen müssen (Ziffer 6 Spiegelstrich 1), verstoßen würde. Eine Verletzung des weiteren Grundsatzes, wonach bei Baumaßnahmen an Einzeldenkmälern sowie bei Maßnahmen innerhalb des denkmalsgeschützten Ensembles eine denkmalschutzrechtliche Erlaubnis einzuholen ist (Spiegelstrich 2), scheidet hier schon aufgrund der Lage bzw. der fehlenden Denkmaleigenschaft des streitgegenständlichen Gebäudes aus. Ein Verstoß gegen die Vorgabe, wonach Neubauten und neue Anbauten unter Berücksichtigung von charakteristischen Gestaltungsprinzipien und der umgebenden Bebauung auch als zeitgenössische Architektur erkennbar sein sollen (Spiegelstrich 3), ist ebenfalls nicht erkennbar.
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Nach allem ist hier auch die Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO gegeben. Auch die Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange spricht nicht gegen die Erteilung der Abweichung.
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Soweit von Beklagtenseite vorgebracht wird, dass die geplante PV-Anlage die Grundzüge der Planung verletze, kann sie damit schon deshalb nicht durchdringen, weil das Nichtberühren der Grundzüge der Planung im Rahmen der Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO (auch i.V.m. Art. 81 BayBO) – anders als bei der Erteilung einer Befreiung i.S.v. § 31 Abs. 2 BauGB – gerade keine Tatbestandsvoraussetzung darstellt.
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2.3. Sind – wie hier – die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erfüllt, so muss die Bauaufsichtsbehörde die Abweichung im Regelfall zulassen. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung der Abweichung. Bei der Regelung des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO handelt es sich um eine „Soll-Vorschrift“. Es ist im Regelfall keine Ermessensentscheidung zu treffen. Eine Soll-Vorschrift verpflichtet die Behörde, grundsätzlich so zu verfahren, wie es im Gesetz bestimmt ist; wenn keine Umstände vorliegen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, bedeutet das „Soll“ ein „Muss“ (vgl. BVerwG, U.v. 2.7.1992 – 5 C 39.90 – BVerwGE 90, 275 = BeckRS 1992, 30440196). Das durch eine Soll-Vorschrift eingeräumte Ermessen beschränkt sich grundsätzlich auf die Frage, was im Ausnahmefall zu geschehen hat (vgl. Weinmann in BeckOK BauordnungsR Spannowsky/Manssen, 30. Ed. 1.7.2024, Art. 63 Rn. 68a; s.a. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 25. Aufl. 2024, § 40 Rn. 34 f.). Hier wurde von Beklagtenseite nichts für einen derartigen Ausnahmefall vorgetragen. Ein solcher ist auch sonst nicht ersichtlich.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.