Titel:
Dublin III-Verfahren, Belgien: Systemische Mängel im belgischen Asylverfahren für alleinreisende Männer
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Die erheblichen, dauerhaften und mindestens auf Gleichgültigkeit beruhenden Versäumnisse des belgischen Staats im Zuge der Aufnahmekrise stellen in Bezug auf die Gruppe der alleinreisenden Männer einen andauernden, systemischen Mangel im Asylsystem Belgiens dar. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Obdachlosigkeit unter männlichen Asylsuchenden ist kein Randphänomen, sondern ein seitens der belgischen Behörden zumindest in Kauf genommenes Massenphänomen. Der Einzelrichter ist auch davon überzeugt, dass diese systemischen Mängel für den Kläger im konkreten Einzelfall die reale und erhebliche Gefahr eines Verstoßes gegen seine Rechte nach Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK bedeuten; ihm droht infolge der Aufnahmekrise in Belgien eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin: Belgien, Aufnahmekrise in Belgien, Systemische Mängel im belgischen Asylverfahren in Bezug auf alleinreisende Männer, Art. 3 EMRK bei Rücküberstellung nach Belgien, drohende Obdachlosigkeit unter Verstoß gegen Art. 4 GRCh
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35985
Tenor
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. Januar 2024 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich im Klagewege gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig sowie die Anordnung seiner Abschiebung nach Belgien im Rahmen des Dublin-Verfahrens.
2
Der Kläger ist nach eigenen Angaben dem Volk der Dendi zugehöriger Staatsangehöriger Benins islamischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 25. Oktober 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am 26. Oktober 2023 schriftlich Kenntnis erlangte. Der Kläger stellte am 13. November 2023 einen förmlichen Asylantrag.
3
Bei einer am 26. Oktober 2023 durchgeführten Eurodac-Recherche stellte das Bundesamt in Bezug auf den Kläger einen Treffer der Kategorie 1 für Belgien fest (* …*) nach Antragstellung und Fingerabdrucknahme am 23. Oktober 2023.
4
Im Rahmen seiner Erstbefragung am 13. November 2023 gab der Kläger an, keine Familie in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat zu haben. Er habe Benin erstmalig am 9. September 2023 verlassen und sei innerhalb von 20 Monaten (gemeint sind wohl 2 Monate) über Togo, Frankreich und Belgien schließlich am 25. Oktober 2023 in Deutschland eingereist. Zuerst sei er am 1. Oktober 2023 in Frankreich eingereist und habe sich dort 20 Tage in … aufgehalten, wo er obdachlos gewesen sei. Er sei am 23. Oktober 2023 in Belgien eingereist und habe dort internationalen Schutz beantragt. Er habe am Bahnhof gelebt. In Belgien seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden.
5
Im Rahmen der Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags am 17. November 2023 gab der Kläger unter anderem an, ohne Reisepass von Togo nach Frankreich geflogen zu sein und am 30. September 2023 in … gelandet zu sein. Er habe im Dezember 2022 ein Visum für Frankreich beantragt, der Antrag sei aber abgelehnt worden. Der Kläger sei nach der Landung wegen seines fehlenden Reisepasses und Visums 15 Tage von der französischen Polizei festgehalten worden und habe sodann ein Dokument erhalten, wonach er Frankreich innerhalb von 48 Stunden verlassen sollte. Er habe keine Unterkunft gehabt und habe deswegen vier Tage in … unter Brücken übernachtet. Sodann sei er mit dem Zug über Belgien nach Deutschland gefahren. Am 22. Oktober 2023 sei der Kläger in der Stadt … in Belgien angekommen. Danach sei er mit dem Zug in eine andere, ihm nicht mehr bekannte Stadt in Belgien gefahren und habe dort am 23. Oktober einen Asylantrag gestellt. Eine Anhörung zu seinen Asylgründen habe in Belgien nicht stattgefunden, jedoch seien dem Kläger Fingerabdrücke abgenommen worden. Er habe in Belgien keine Unterkunft erhalten, weil er schon volljährig sei. Die belgischen Behörden hätten gesagt, er solle sich selbst eine Unterkunft suchen. Es sei für den Kläger schwierig gewesen, etwas zu essen zu finden. Er habe am Bahnhof dieser ihm nicht bekannten Stadt geschlafen. Den Antrag in Belgien habe er nur gestellt, um sich dort einige Zeit ausruhen zu können, er sei sehr müde gewesen. Auf Nachfrage gab der Kläger an, er leide an einem Magengeschwür, an Hämorrhoiden und an Augenjucken. Er sei deswegen in ärztlicher Behandlung und habe gegen die Hämorrhoiden eine Salbe bekommen. Das in der Flüchtlingsunterkunft erhaltene Heft, in dem alle gesundheitlichen Probleme aufgelistet seien, habe der Kläger vergessen.
6
Das Bundesamt richtete am 14. Dezember 2023 auf der Grundlage des festgestellten Eurodac-Treffers ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an Belgien, das die belgischen Behörden mit Schreiben vom 19. Dezember 2023 ebenfalls unter Bezugnahme auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO annahmen.
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Mit Bescheid vom 23. Januar 2024 wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und seine Abschiebung nach Belgien angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 18 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids, der dem Kläger am 30. Januar 2024 ausgehändigt wurde, wird Bezug genommen.
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Hiergegen hat der Kläger am 31. Januar 2024 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts Klage erhoben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt (AN 14 S 24.50065).
- 1.
-
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23.01.2024, Az. …, wird aufgehoben.
- 2.
-
Es wird beantragt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 bis 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
10
Die Beklagte beantragt,
11
Der Einzelrichter hat mit Beschluss vom 23. Februar 2024 (AN 14 S 24.50065) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids angeordnet.
12
Daraufhin führte das Bundesamt mit Schriftsatz vom 6. Mai 2024 aus, die Aufnahmebedingungen in Belgien wiesen für die Personengruppe der alleinstehenden Männer keine systemischen Schwachstellen auf (mit Bezugnahme auf VG Osnabrück, B.v. 15.4.2024 – 5 B 26/24 und VG Trier, U.v. 27.2.2024 – 2 L 623/24.TR). Der belgische Staat stelle neben einer Unterkunft eine Versorgung mit Nahrung und Kleidung sowie eine kostenlose medizinische Versorgung sicher. Zur unbedingten Gewährleistung einer schnellstmöglichen Bereitstellung von Unterkünften für vulnerable Personengruppen würden diese aktuell bei der Vergabe von Unterkünften priorisiert. Der Umstand, dass einer Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung stehe, genüge, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters böten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse ließen (so VG Köln, B.v. 19.4.2024 – 19 L 2283/23.A mit Bezug auf BVerwG, B.v. 28.3.2022 – 1 B 9.22 – juris Rn. 14).
13
Das Gericht hat das Verfahren mit Beschluss vom 17. Oktober 2024 auf den Einzelrichter übertragen.
14
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Bundesamtsakte sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2024 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
15
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2024 trotz des Ausbleibens der Beteiligten entschieden werden. Die Beteiligten wurden gemäß § 102 Abs. 2 VwGO in der Ladung auf die Möglichkeit der Verhandlung und Entscheidung auch bei Ausbleiben eines Beteiligten hingewiesen.
16
Die zulässige Klage ist auch begründet, daher ist der streitgegenständliche Bescheid aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die hier erhobene Anfechtungsklage ist die statthafte Klageart gegen die hier in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9/17 – juris Rn. 15). Daneben ist sie auch hinsichtlich der Nebenentscheidungen in den Ziffern 2 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheids statthaft, denn diese sind im Fall der Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung ebenfalls aufzuheben (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – 10 K 22.50479 – juris Rn. 64). Die Klage ist auch fristgerecht erhoben worden und im Übrigen zulässig.
18
Der ebenfalls erhobene Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes in Bezug auf Italien ist im wohlverstandenen Interesse (§ 88 VwGO) des damals nicht anwaltlich vertretenen und nicht rechtskundigen Klägers, der zu Protokoll der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die Klage erhob, als Hilfsantrag zu verstehen (vgl. zur Zulässigkeit des Hilfsantrags BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 20).
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Die Klage ist auch begründet.
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Der Bescheid vom 23. Januar 2024 ist im maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten, § 113 Absatz 1 Satz 1 VwGO.
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I. Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist rechtswidrig.
22
1. Belgien ist zwar an sich der für das Asylverfahren des Klägers nach der Dublin III-VO zuständige Mitgliedstaat.
23
Das Bundesamt hat am 14. Dezember 2023 ein Wiederaufnahmegesuch an die belgischen Behörden gestellt und damit die sich aus Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO ergebende zweimonatige Frist seit der Feststellung des Eurodac-Treffers am 26. Oktober 2023 gewahrt. Die belgischen Behörden haben daraufhin die Bereitschaft zur Übernahme des Klägers erklärt. Auf die Zuständigkeit Belgiens gemäß den Kriterien von Kapitel III der Dublin III-VO kommt es grundsätzlich nicht an, da im Wiederaufnahmeverfahren eine solche Prüfung nicht mehr stattfindet (vgl. EuGH, U.v. 2.4.19 – C-582/17 und C-583/17 – juris).
24
2. Allerdings droht dem Kläger bei einer Überstellung nach Belgien eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung aufgrund dort bestehender systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sodass der Kläger nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht nach Belgien überstellt werden kann. Infolgedessen ist Belgien nicht i.S.d. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG der nach Maßgabe der Dublin III-VO zuständige Staat.
25
a) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C 4 11/10 und C 493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) entspricht.
26
Diese Vermutung kann widerlegt werden, weshalb den nationalen Gerichten die Prüfung obliegt, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O.). An die Feststellung systemischer Mängel sind hohe Anforderungen zu stellen. Einzelne Grundrechtsverletzungen oder Verstöße gegen Art. 3 EMRK der zuständigen Mitgliedstaaten genügen nicht. Von systemischen Mängeln ist vielmehr erst dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris; B.v. 6.6.2014 – 10 B 25/14 – juris).
27
Mit Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 – hat der Europäische Gerichtshof die Maßstäbe – aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters von Art. 4 GRCh für Asylbewerber und Anerkannte in gleicher Weise – für Rückführungen im Dublin-Raum präzisiert. Aufgrund des fundamental bedeutsamen EU-Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens darf ein Asylbewerber hiernach grundsätzlich immer in den Mitgliedstaat rücküberstellt werden, der nach der Dublin III-VO für die Bearbeitung seines Antrages zuständig ist bzw. ihm bereits Schutz gewährt hat, es sei denn, er würde dort ausnahmsweise aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände für längere Zeit dem „real risk“ einer Lage extremer materieller Not ausgesetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. des insoweit inhaltlich gleichen Art. 3 EMRK verstößt, das heißt seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 38).
28
Die vom Europäischen Gerichtshof geforderte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre etwa dann anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O. Rn. 92 unter Verweis auf EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S./Belgien und Griechenland; vgl. auch BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris).
29
Diese Schwelle ist selbst durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situation nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O. Rn. 93.). Es lässt sich allerdings nicht völlig ausschließen, dass ein Asylbewerber oder Schutzberechtigter nachweisen kann, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die ihm eigen sind und im Fall seiner Überstellung bedeuten würden, dass er sich aufgrund seiner besonderen Verletzlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O).
30
b) Die Bedingungen in Belgien stellen sich derzeit wie folgt dar:
31
Das Recht auf Aufnahme und Unterbringung sowie materielle Versorgung besteht in Belgien grundsätzlich ab der Asylantragstellung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Belgien, Stand: 19.12.2023, S. 13). Allerdings besteht in Belgien seit dem Jahr 2021 aufgrund langjähriger Versäumnisse im Zuge der sogenannten „Aufnahmekrise“ (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Belgien, Stand: 19.12.2023, S. 7) ein Mangel an Plätzen in den Aufnahmezentren der ersten Stufe. Grund für die Aufnahmekrise ist nach den Angaben mehrerer Nichtregierungsorganisationen die langjährige Vernachlässigung der Aufnahmezentren, von denen einige geschlossen wurden und deren Personal während niedrigerer Auslastungszeiten entlassen wurde. Auch Personal von der für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständigen Föderalen Agentur für die Aufnahme von Asylbewerbern (Fedasil) hat in den Jahren 2021 und 2022 verschiedentlich gestreikt, um die zu geringe Aufnahmekapazität und ihre Arbeitsbedingungen anzuprangern (AIDA, Country Report Belgium, 2022 update, S. 100). Alleinstehenden männlichen Asylbewerbern wird infolgedessen systematisch der Zugang zum Aufnahmesystem verweigert und sie müssen sich auf eine Warteliste setzen lassen (BFA, a.a.O., S. 14).
32
So verkündete Fedasil im September 2021, dass das Aufnahmenetzwerk unter Druck sei und die Belegungsrate am 9. September 2021 bei 96% gelegen habe (AIDA, Country Report Belgium, 2022 update, S. 100 f., S. 36). Vor diesem Hintergrund werden Familien, Minderjährige und andere vulnerable Gruppen bevorzugt behandelt mit der Folge, dass alleinreisenden männliche Asylantragstellern auch nach Asylantragstellung systematisch der Zugang zu den Aufnahmezentren verweigert wird, so auch im ganzen Jahr 2023. Sie erhalten nach der Registrierung ihres Asylantrags keine auf ihren Einzelfall bezogene Entscheidung bzgl. der Aufnahme, sondern werden lediglich über den Mangel an Plätzen in den Aufnahmezentren informiert und angewiesen, sich in eine Warteliste einzutragen. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt etwa sechs Monate (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 103). Im Februar 2024 waren 3.122 Personen auf der Warteliste registriert, wobei die Wartezeit derzeit weiter anwächst; im März 2024 wurden Einladungen für die Aufnahme in eine Aufnahmeeinrichtung an Personen versandt, die neun Monate zuvor Asylanträge gestellt hatten (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 105). Im August 2024 sollen 3.900 Personen auf der Warteliste gewesen sein (vgl. Bericht der Brussels Times vom 23.9.2024, https://www.brusselstimes.com/1237656/ organisations-repeat-calls-for-belgium-to-comply-with-council-of-europe-reception-ruling, aufgerufen am 22.11.2024). Laut Fedasil befanden sich im November 2024 2.650 alleinstehende Männer auf der Warteliste für einen Aufnahmeplatz (vgl. Bericht des European Migration Network v. 12.11.2024, https://emnbelgium.be/news/belgian-reception-network-reaches-capacity-36077-places, aufgerufen am 22.11.2024). Fedasil gab an, im Jahr 2023 8.816 Personen am Tag der Registrierung ihres Asylbegehrens nicht in Aufnahmeeinrichtungen aufgenommen zu haben (Fedasil, Pressemitteilung vom 15.2.2024, https://www.fedasil.be/en/news/reception-asylum-seekers/reception-network-under-pressure-0, aufgerufen am 22.11.2024).
33
Seit dem Beginn der Aufnahmekrise im Oktober 2021 wurden insbesondere auf den Druck von Nichtregierungsorganisationen hin zwar verschiedene Anstrengungen zu ihrer Lösung unternommen. So wurden beispielsweise 2021 und 2022 neue Aufnahmeplätze eröffnet, die aber für die Gesamtzahl der Asylbewerber nicht ausreichten. Der Zuwachs von 3.388 Aufnahmeplätzen im Jahr 2023 (Fedasil, Pressemitteilung vom 15.2.2024, https://www.fedasil.be/en/news/reception-asylum-seekers/reception-network-under-pressure-0, aufgerufen am 22.11.2024) hat ebenfalls nicht ausgereicht, um die Aufnahmekrise zu beenden. Im Jahr 2024 wurden die Aufnahmekapazitäten auf insgesamt 36.077 Aufnahmeplätze weiter ausgebaut, die aber ebenfalls nicht ausreichen (vgl. Bericht des European Migration Network v. 12.11.2024, https://emnbelgium.be/news/belgian-reception-network-reaches-capacity-36077-places, aufgerufen am 22.11.2024).
34
In der Vergangenheit konnten die Asylsuchenden Zugang zu den Aufnahmezentren häufig allein über die Gerichte erlangen, wobei es auch dann nach einer stattgebenden Gerichtsentscheidung noch mindestens drei Monate dauerte, bis sie tatsächlich diesen Zugang bekamen (AIDA, Country Report Belgium, 2022 update, S. 100 f.). Im Juli 2023 gab Fedasil allerdings bekannt, Asylantragstellern mit einer stattgebenden Gerichtsentscheidung keine Priorität mehr einzuräumen, sondern die Warteliste für Aufnahmeplätze rein chronologisch nach dem Datum der Asylantragstellung abzuarbeiten (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 109). Versuche, Gerichtsentscheidungen durch die Vollstreckung von gerichtlich verhängten Geldbußen zur Durchsetzung zu verhelfen, gestalten sich als schwierig, da das belgische Recht die Möglichkeiten der Vollstreckung in öffentliche Güter stark einschränkt, um die Funktionsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen nicht zu gefährden (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 109 f.).
35
Auch alleinstehenden männlichen Dublin-Rückkehrern wird der Zugang zum Aufnahmesystem systematisch verweigert. Dublin-Rückkehrer, die zwar einen Asylantrag gestellt haben, Belgien aber vor der ersten Anhörung verlassen haben, werden häufig zunächst als Folgeantragsteller behandelt – obgleich ein nach einer Dublin-Überstellung nach Belgien gestellter Folgeantrag stets als zulässiger Folgeantrag behandelt wird – und haben keinen automatischen Zugang zum Aufnahmesystem (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 71). Auch Dublin-Rückkehrer müssen sich auf der Warteliste registrieren, um Zugang zu einer Unterkunft zu bekommen, wobei auch dann die durchschnittliche Wartezeit mehrere Monate beträgt und den Asylsuchenden nichts Anderes übrigbleibt, als in dieser Zeit auf der Straße oder in besetzten Gebäuden zu schlafen (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 116). Auch die von der Europäischen Asylagentur (EUAA) herausgegebenen Informationen über das Verfahren bei Dublin-Überstellungen nach Belgien, die zusammen mit der belgischen Einwanderungsbehörde erarbeitet wurden, weisen ausdrücklich darauf hin, dass Fedasil einen Platz im Aufnahmesystem wegen des großen Drucks auf das belgische Aufnahmesystem nicht garantieren kann und dass derzeit unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Kindern und Frauen Vorrang gewährt werde (EUAA, Information on procedural elements and rights of applicants subject to a Dublin transfer to Belgium, Stand 30.5.2024, S. 2 f.).
36
Asylsuchenden ohne Zugang zum Aufnahmenetzwerk bleibt häufig nichts Anderes übrig, als monatelang im Freien zu schlafen. Einige schlafen auf der Straße, nur geschützt durch Schlafsäcke, Matratzen und Decken, die von humanitären Organisationen und solidarischen Bürgern gespendet werden, die auch Lebensmittel und warme Getränke verteilen (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 105 f.; vgl. auch Bericht der NZZ v. 13.3.2023, https://www.nzz.ch/international/asylkrise-in-belgien-migranten-schlafen-trotz-kaelte-im-freien-ld.1729953, aufgerufen am 22.11.2024). Deshalb kam und kommt es in Brüssel immer wieder zu Hausbesetzungen von Asylbewerbern, die immer wieder aufgelöst werden, wobei zumeist versucht wurde, die Menschen anderweitig unterzubringen. Die zivilgesellschaftliche Organisation Samusocial, die in besetzten Häusern lebende Menschen unterstützt, zählte innerhalb weniger Monate 2.000 Menschen (nicht nur Asylsuchende) in 13 besetzten Gebäuden in Brüssel; kleinere Hausbesetzungen wurden nicht erfasst. Medizinische Organisationen kritisieren immer wieder die katastrophale medizinische Situation für mittellose Asylsuchende (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 105 f.).
37
Nach einem aktuellen Pressebericht werden seit Anfang des Jahres 2024 auch manche Familien mit Kindern nicht im Aufnahmesystem aufgenommen und müssen in Brüssel auf der Straße schlafen (vgl. Bericht der Brussels Times v. 19.11.2024, https://www.brusselstimes.com/belgium/1318239/dozens-of-families-with-children-sleeping-rough-in-brussels-every-month, aufgerufen am 22.11.2024).
38
Es gibt Initiativen zur Unterstützung von Asylsuchenden, die ganz oder teilweise vom belgischen Staat oder den belgischen Regionen subventioniert werden. Dazu gehören etwa: The Humanitarian Hub (von der Region Brüssel verwaltet und finanziert; wo Asylbewerber medizinische und psychologische Hilfe, Kleidung, Hygieneartikel, Unterbringung für Frauen, Toilettenartikel und kostenlose Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr erhalten können); der Refugee Medical Point von Ärzte ohne Grenzen (bietet ähnliche Dienste an, die ebenfalls teilweise von der Regierung finanziert werden); das Tageszentrum des Roten Kreuzes (bietet Essen, Ruheplätze, sanitäre Anlagen und Sicherheit); außerdem das Vluchtelingenwerk Vlaanderen, das ebenfalls Lebensmittel und Zugang zu kostenlosem Rechtsbeistand bietet (vgl. EUAA, Information on procedural elements and rights of applicants subject to a Dublin transfer to Belgium, Stand 30.5.2024, S. 4; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Belgien, Stand: 19.12.2023, S. 18). Fedasil listet auf seiner Webseite verschiedene Stellen, an die man sich wenden könne, wenn man „kein Recht auf Aufnahme“ habe und Hilfe und Zuflucht benötige. Diese Organisationen sind demnach in verschiedenen Städten tätig und bieten neben einer Unterkunft unter anderem Duschen und Sanitäreinrichtungen und Essen. Verlinkt sind die Webseiten von Organisationen, die in Brüssel, Flandern und der Wallonie Unterstützung für Obdachlose anbieten (vgl. https://fedasilinfo.be/de/benoetigen-sie-eine-zuflucht, abgerufen am 22.11.2024). Eine verlinkte Webseite „Surviving in Brussels“ hat laut Webseite mangels durch die Hauptstadtregion Brüssel zur Verfügung gestellter Mittel offenbar den Betrieb aufgeben müssen (vgl. https://survivinginbrussels.be/app/index.php/en, aufgerufen am 22.11.2024).
39
Am 13. März 2024 legten etwa sechzig in der Obdachlosenunterstützung tätige Organisationen für eine Stunde die Arbeit nieder und prangerten unter anderem die andauernde Überlastung sämtlicher Notunterkünfte und Integrationseinrichtungen an, welche sich durch die Aufnahmekrise verschärft habe und zu Wettbewerb und Gewalt zwischen Notleidenden führe (vgl. Bericht der Brussels Times v. 13.3.2024, https://www.brusselstimes.com/963153/belgiums-homeless-sector-goes-on-strike-for-first-time-in-five-years, aufgerufen am 22.11.2024). Im Juni 2024 prangerten humanitäre und zivile Organisationen die Bedingungen an. Im März 2024 habe es eine durchschnittliche Wartezeit von 72 Tagen bis zum Zugang zu einer Obdachlosenunterkunft gegeben und 152 Tage bis zum Zugang zu einem F. Platz, wobei die Aufenthalte auf der Straße immer länger würden. Die erzwungenen und wiederholten Straßenaufenthalte vor der Unterbringung hätten dramatische Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen (vgl. verlinkter Bericht (in französischer Sprache) auf der Webseite von Médecins Sans Frontières, dort S. 6, https://www.msf-azg.be/fr/news/Politique-de-non-accueil-une-violation-des-droits-en-Belgique, aufgerufen am 22.11.2024). Medizinische Hilfsorganisationen haben mehrfach auf die schwierige medizinische Situation der obdachlosen Asylsuchenden hingewiesen, die trotz eines prinzipiell gewährten Zugangs zu Gesundheitsleistungen faktisch häufig Schwierigkeiten haben, darauf zuzugreifen (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 106).
40
In einem Urteil vom 19. Januar 2022 entschied das Gericht der ersten Instanz von Brüssel, dass der belgische Staat und Fedasil den Zugang zum Asylverfahren und zu Aufnahmebedingungen nicht sicherstellten, ordnete an, dass beide die Gewährleistung dieser fundamentalen Rechte sicherstellen sollten und setzte eine Strafzahlung von 5.000 EUR für jeden Tag während der folgenden sechs Monate fest, an dem mindestens eine Person keinen Zugang zum Asylverfahren oder zum Aufnahmesystem bekommen sollte. Im März 2023 wurde Fedasil erneut durch das Gericht der ersten Instanz von Brüssel verurteilt; diesmal wurde eine Strafzahlung von täglich 10.000 EUR angeordnet. Auch im Juni 2023 wurde durch das Gericht der ersten Instanz von Brüssel festgestellt, dass Belgien und Fedasil gegen das Recht Asylsuchender auf Aufnahme verstoßen und Gerichtsentscheidungen missachten. Dennoch dauert die Aufnahmekrise fort (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 110 f.). Inzwischen wurde einer Gruppe belgischer Nichtregierungsorganisationen gerichtlich gestattet, 2,9 Mio. EUR an gegen Fedasil verhängten Bußgeldern beizutreiben. Es wird beabsichtigt, mit dem Geld Unterstützungsleistungen für Asylsuchende zu bezahlen (vgl. Bericht des Brussels Times v. 4.2.2024, https://www.brusselstimes.com/907275/ngos-allowed-to-seize-e2-9-million-from-fedasil-for-failure-to-shelter-asylum-seekers, zuletzt aufgerufen am 22.11.2024). Fedasil hat allerdings gegen diese Entscheidung und gegen die Pfändung eines Bankkontos mit Suspensiveffekt Rechtsmittel eingelegt (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 111 f.).
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Grundsätzlich steht der belgische Arbeitsmarkt Asylsuchenden offen, die innerhalb von vier Monaten nach Asylantragstellung noch keine Erstentscheidung in der Sache erhalten haben. Allerdings ist der Zugang zum belgischen Arbeitsmarkt für die Betroffenen der Aufnahmekrise in der Praxis stark eingeschränkt. Denn das Recht zu arbeiten ist auf der befristeten Aufenthaltserlaubnis („orange card“) festgehalten. In der Praxis steht aber eine Obdachlosigkeit der Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis entgegen, denn die ausstellenden Behörden verlangen dafür zumeist einen festen Wohnsitz. Folgeantragsteller dürfen nicht arbeiten, bis die Zulässigkeit ihres Folgeantrags festgestellt wird und sie eine „orange card“ bekommen (AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 135 f.).
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Anhaltspunkte dafür, dass der beschriebene Zustand im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) nicht mehr andauert, liegen nicht vor.
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c) Die erheblichen, dauerhaften und mindestens auf Gleichgültigkeit beruhenden Versäumnisse des belgischen Staats im Zuge der Aufnahmekrise stellen in Bezug auf die Gruppe der alleinreisenden Männer einen andauernden, systemischen Mangel im Asylsystem Belgiens dar (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 12.4.2024 – 29 L 776/24.A – juris; VG München, B.v. 11.7.2024 – M 10 S 24.50708 – juris; VG Arnsberg, B.v. 9.2.2024 – 6 L 1243/23.A – juris Rn. 14 ff.; VG Weimar, B.v. 18.4.2024 – 1 E 942/23 We – BeckRS 2024, 27347; a.A. wohl VG Trier, B.v. 27.2.2024 – 2 L 623/24.TR – juris S. 9; VG Osnabrück, B.v. 15.4.2024 – 5 B 26/24 – juris S. 5; ohne Eingehen auf die Aufnahmekrise VG Würzburg, B.v. 10.6.2024 – W 5 S 24.50182 – juris). Angesichts der Tatsache, dass der belgische Staat es seit 2021 nicht geschafft hat, die unzureichende Zahl von Aufnahmeplätzen ausreichend zu erhöhen und die Bedingungen für Asylsuchende zu verbessern, ist der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens vorliegend erschüttert. Die Obdachlosigkeit unter männlichen Asylsuchenden ist kein Randphänomen, sondern ein seitens der belgischen Behörden zumindest in Kauf genommenes Massenphänomen.
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Der Einzelrichter ist auch davon überzeugt, dass diese systemischen Mängel für den Kläger im konkreten Einzelfall die reale und erhebliche Gefahr eines Verstoßes gegen seine Rechte nach Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK bedeuten; ihm droht infolge der Aufnahmekrise in Belgien eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung.
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Zwar ist die bisherige Rechtsprechung der Kammer (vgl. dazu den Eilbeschluss vom 23.2.2024 – AN 14 S 24.50065 – juris) dahingehend zu präzisieren, dass der festgestellte systemische Mangel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen auch bei der Zugehörigkeit eines Asylantragstellers zur betroffenen Personengruppe der alleinreisenden jungen Männer nicht zwangsläufig im konkreten Einzelfall mit einer mit Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK unvereinbaren Situation einhergeht (vgl. VG München, U.v. 30.7.2024 – M 10 K 24.50707 – juris Rn. 25; B.v. 11.7.2024 – M 10 S 24.50708 – juris Rn. 21 f. unter Bezugnahme auf BVerwG, B.v. 12.9.2018 – 1 B 50.18 – juris Rn. 12; unter Bezugnahme auf individuelle Umstände des jeweiligen Antragstellers die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verneinend VG Göttingen, B.v. 17.5.2024 – 4 B 133/24 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 12.4.2024 – 29 L 776/24.A – juris Rn. 79 ff.; jedenfalls auch unter Bezugnahme auf einen langen Voraufenthalt des Antragstellers in Belgien systemische Mängel verneinend VG Osnabrück, B.v. 15.4.2024 – 5 B 26/24 – juris S. 5). Zu berücksichtigen sind nämlich neben einer besonderen Verletzlichkeit des jeweiligen Klägers auch andere individuelle, in seiner Person bestehende Besonderheiten, etwa ein langer Voraufenthalt in Belgien oder der Zugang zu finanziellen Mitteln oder anderweitiger besonderer Unterstützung.
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Allerdings ist beim Kläger, der sich nur äußerst kurz in Belgien aufhielt, soweit bekannt keine finanziellen Mittel hat und, soweit ersichtlich, sonst in Bezug auf Belgien auf keinerlei Kenntnisse oder Erfahrungswerte zurückgreifen kann und dort keine Bekannten hat, nicht zu erwarten, dass er eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende, längerfristige Obdachlosigkeit und eine damit zusammenhängende unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung abwenden kann.
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Bei einer Überstellung nach Belgien würde der Kläger, obgleich sein Asylverfahren wiederaufgenommen würde, in Bezug auf eine Unterkunft auf die Warteliste gesetzt. Er wäre in Belgien mangels Einkommen und Vermögen vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig. Aufgrund des dargestellten Mangels an Unterbringungsplätzen im belgischen Aufnahmesystem steht zu erwarten, dass er bei einer Überstellung nach Belgien dort zunächst keine Aufnahme im Aufnahmenetzwerk bekommen würde. Deshalb würde er voraussichtlich dort obdachlos sein, denn wie bereits oben dargestellt wurde, vergibt die zuständige belgische Behörde Fedasil die vorhandenen Plätze im Aufnahmenetzwerk vorrangig an vulnerable Personen und Familien. Ein Ende der Obdachlosigkeit wäre erst zu erwarten, wenn der Kläger einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung bekäme, was nach der Erkenntnislage durchschnittlich sechs Monate, im März 2024 aber offenbar neun Monate dauerte. Dabei ist anzumerken, dass die Erkenntnislage trotz eines Zuwachses von Aufnahmeplätzen eher eine Verschärfung der Aufnahmekrise nahelegt; dies belegt insbesondere der aktuelle Pressebericht, wonach auch Familien mit Kindern teilweise auf der Straße schlafen müssen (vgl. Bericht der Brussels Times v. 19.11.2024, https://www.brusselstimes.com/belgium/1318239/dozens-of-families-with-children-sleeping-rough-in-brussels-every-month, aufgerufen am 22.11.2024). Eine Beschleunigung der Aufnahme durch die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes ist nach der Erkenntnislage nicht mehr möglich.
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Eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit ist für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not. Denn es ist auch in diesen Fällen grundsätzlich möglich, einen Lebensstandard zu halten, der noch keine Verletzung der Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK darstellt. Die Obdachlosigkeit kann jedoch im Wesentlichen dann zu einer für die Verletzung des Art. 4 GRCh hinreichenden Bedingung anwachsen, wenn die Betroffenen zusätzlich besondere Vulnerabilitäten aufweisen und/oder wenn sie in der Obdachlosigkeit auch in denjenigen Situationen auf sich selbst gestellt bleiben, in denen ihre Unterstützung zur Vermeidung einer extremen materiellen Not zwingend notwendig ist (vgl. OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – juris Rn. 59 m.w.N.; BayVGH, B.v. 11.10.2023 – 24 B 23.30525 – juris Rn. 32). Für die Erfüllung der für Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK relevanten Grundbedürfnisse gelten nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (vgl. BVerwG, B.v. 28.3.2022 – 1 B 9/22 – juris Rn. 14).
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Im Falle des Klägers besteht die reale und erhebliche Gefahr, dass er nach einer Rückkehr nach Belgien für eine unzumutbar lange Zeit keine diesen Mindestanforderungen genügende Unterkunft zur Verfügung hätte.
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Die vorhandenen Obdachlosenunterkünfte sind nach der Erkenntnislage ausgelastet. Fedasil stellt aktuell 2.650 alleinstehenden Männern auf der Warteliste lediglich 2.000 Plätze in Obdachlosenunterkünften in B. – offenbar zentraler Brennpunkt der Aufnahmekrise – gegenüber (vgl. Bericht des European Migration Network v. 12.11.2024, https://emnbelgium.be/news/belgian-reception-network-reaches-capacity-36077-places, aufgerufen am 22.11.2024). Laut Médicins Sans Frontières betrug die durchschnittliche Wartezeit bis zum Zugang zu einer Obdachlosenunterkunft im März 2024 72 Tage. Dem Einzelrichter drängt sich angesichts der Erkenntnislage der Eindruck auf, dass sich die Lage eher verschärft als entspannt. Der Kläger wäre daher aller Voraussicht nach über mindestens zwei Monate, potenziell länger, auch in den kalten Wintermonaten gezwungen, auf der Straße, unter Brücken oder in besetzten Häusern zu nächtigen.
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Der Kläger kann aber angesichts der dort zu erwartenden Bedingungen nicht auf informelle Siedlungen oder Behelfsunterkünfte verwiesen werden (vgl. auch VG Düsseldorf, B.v. 11.4.2024 – 29 L 604/24.A – BeckRS 2024, 7536 Rn. 35 ff.). Denn der Einzelrichter sieht sich nicht davon überzeugt, dass das unter Ressourcenmangel und in der Folge unter Verteilungskämpfen leidende System der Obdachlosenhilfe in Belgien gerade in den Wintermonaten gewährleisten kann, dass die in besetzten Häusern, Zelten und ähnlichen Unterkünften dezentral lebenden obdachlosen Asylsuchenden ausreichend betreut werden können, um die eine Sicherung der elementaren Grundbedürfnisse, insbesondere in Bezug auf den Schutz vor Witterung und in Bezug auf Sanitäranlagen, sicherzustellen und auch im Falle des Klägers bei einer Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung abzuwenden. Die katastrophale medizinische Situation obdachloser Asylsuchender ist in signifikantem Maße auf die Lebensbedingungen in der Obdachlosigkeit zurückzuführen. Gerade in besetzten Gebäuden, die regelmäßig geräumt werden (sodass im Übrigen eine „staatliche Duldung“ im Sinne der Rechtsprechung zumindest zweifelhaft ist), kam es in der Vergangenheit zum Ausbruch ansteckender Krankheiten (vgl. AIDA, Country Report Belgium, 2023 update, S. 105 ff.). Offenbar bleibt aber die Zahl obdachloser Asylsuchender, die mangels Alternativen in besetzten Häuser leben müssen, gleichbleibend hoch. Die aktiven Hilfsorganisationen sind offenbar mit unzureichenden Mitteln ausgestattet, um die unzulängliche staatliche Unterstützung auszugleichen und Wohn- und Sanitärbedingungen dauerhaft und adäquat zu verbessern. Die prinzipiell mögliche medizinische Behandlung der Folgeerscheinungen der prekären Wohnbedingungen führt nicht dazu, dass die Lebensbedingungen noch als zumutbar qualifiziert werden könnten. Aus Sicht des Einzelrichters enthalten Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK die Mindestgarantie, dass Asylbewerber nicht gezwungen sind, über längere Zeiträume in der Hoffnung auf ein Mindestmaß an Schutz vor Witterung auf unhygienische und gefährliche Behelfsunterkünfte zurückzugreifen. Ohnehin schlafen nach der Erkenntnislage einige Asylsuchende im Freien und sind damit auch in den Wintermonaten Wind und Wetter ausgesetzt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger auf irgendwelche besonderen Kenntnisse oder Ressourcen zurückgreifen könnte, um die Situation in seinem Einzelfall abzumildern.
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Während einer Obdachlosigkeit wäre es dem Kläger – auch nachdem vier Monate bis zur Erstentscheidung vergangen sind – in Ermangelung des für die Ausstellung einer befristeten Arbeitserlaubnis nötigen festen Wohnsitzes faktisch unmöglich, eine Arbeit aufzunehmen und so aus eigener Kraft die Obdachlosigkeit abzuwenden. Dabei ist anzumerken, dass sich die Situation in Belgien durch die Besonderheit auszeichnet, dass gerade neu ankommenden Asylsuchenden eine Unterstützung versagt wird, bevor sie irgendeine Gelegenheit haben, sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Der Einzelrichter sieht auch deswegen keine Grundlage für eine Annahme, in Belgien von der Aufnahmekrise betroffene Asylbewerber könnten sich mit Gelegenheitsarbeiten – d.h. mit Schwarzarbeit – durchschlagen, um ein adäquates Existenzminimum zu sichern (vgl. aber VG München, U.v. 30.7.2024 – M 10 K 24.50707 – juris Rn. 26). Dem Einzelrichter liegen keine Erkenntnisse vor, wonach es in Belgien und speziell in Brüssel eine signifikante Nachfrage nach billigen Arbeitskräften ohne Arbeitserlaubnis gibt, insbesondere in den Wintermonaten. Es erscheint eher fernliegend, dass sich Neuankömmlinge ohne „orange card“ gerade gegenüber den vielfach vorhandenen Asylsuchenden mit einer Arbeitserlaubnis auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen könnten. In der Person des Klägers sind keine besonderen Fertigkeiten oder Kenntnisse ersichtlich, die in seinem Fall eine anderweitige Bewertung zuließen.
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Der Kläger wäre also jedenfalls über mehr als zwei Monate von der Versorgung auch mit einer Obdachlosenunterkunft ausgeschlossen, wobei unklar ist, wie lange er nach Aufnahme in einer Obdachlosenunterkunft unterkommen könnte. Er wäre in dieser Zeit gezwungen, in gefährlich unhygienischen Behelfsunterkünften Schutz vor den gröbsten Unbilden des Winterwetters zu suchen. Die durch zivilgesellschaftliche Organisationen angebotene humanitäre Hilfe reicht nach Überzeugung des Einzelrichters dabei nicht aus, um die reale und erhebliche Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers abzuwenden.
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3. Folglich ist die im Bescheid in Ziffer 1 getroffene Unzulässigkeitsentscheidung rechtswidrig.
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Die Nebenentscheidungen in den Ziffern 2, 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheids können demnach keinen rechtlichen Bestand haben. Die Feststellung des Nichtbestehens zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote in Ziffer 2 des Bescheids ist vorliegend jedenfalls verfrüht erfolgt, Gleiches gilt für die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21). Dem angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot ist die rechtliche Grundlage entzogen; auch Ziffer 4 des Bescheids ist damit aufzuheben (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – 10 K 22.50479 – juris Rn. 64).
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Der Hauptantrag hat vollumfänglich Erfolg und der rechtswidrige Bescheid ist aufzuheben. Über den Hilfsantrag ist demgemäß nicht zu entscheiden.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.