Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 07.10.2024 – B 7 K 24.30965
Titel:

Asylrecht (Syrien) - Klage gegen Drittstaatenbescheid (Zypern)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35
AufenthG § 11, § 60 Abs. 5, § 60 Abs. 7
EMRK Art. 3
GRC Art. 4
Leitsatz:
International Schutzberechtigten, die jung und gesund sind, droht auf Zypern grundsätzlich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. (Rn. 25)
Schlagworte:
Sekundärmigration Zypern, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei Abschiebung nach Zypern, junger Mann mit mehrjährigem Voraufenthalt auf Zypern, Asylantrag, Drittstaatenbescheid, Zypern, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35975

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger mit arabischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 07.06.2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 07.11.2022 einen Asylantrag.
2
Nach Erkenntnissen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) und dem Schreiben der zuständigen zypriotischen Behörde vom 26.05.2023 hat der Kläger bereits in Zypern einen Asylantrag gestellt, woraufhin am 31.01.2022 in Zypern subsidiärer Schutz – und damit internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – zuerkannt wurde.
3
Bei den Befragungen am 15.11.2022 trug der Kläger gegenüber dem Bundesamt im Wesentlichen vor, er habe Syrien Ende 2014 zusammen mit seinen Eltern verlassen. Nach sechs Monaten in der Türkei, seien sie nach Zypern weitergereist. In Zypern habe er einen Aufenthaltstitel erhalten und dort ca. sechs bis sieben Jahre gelebt. Nach Zypern wolle er nicht zurückkehren, da er sich vom Islam abgewendet habe und deshalb von seiner Familie verstoßen worden sei. Seine Eltern hätten in Zypern Sozialleistungen erhalten, davon habe er aber nichts bekommen. Ferner sei er aufgrund der Abkehr vom Islam von seinen Eltern geschlagen und zum Beten gezwungen worden. Die zypriotische Polizei habe sich nicht um seine diesbezüglichen Beschwerden gekümmert. Später habe er bei einem Freund gelebt und schwarzgearbeitet. Einer offiziellen Beschäftigung habe er aufgrund seiner damaligen Minderjährigkeit nicht nachgehen können. In Zypern habe er zudem Rassismus erlebt. An der Schule sei er beleidigt worden. Ferner wolle er nicht nach Zypern zurückkehren, da es dort zu viele Flüchtlinge gebe und er in Ermangelung von finanziellen Mitteln keine Universität besuchen könne. Er leide auch unter Pickel und Depressionen. In Deutschland lebten Onkel und Tanten, zu denen er jedoch keinen Kontakt habe.
4
Mit Bescheid vom 25.04.2024 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziff. 1). Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziff. 2). Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Zypern angedroht (Ziff. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4).
5
Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Asylantrag sei gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da dem Kläger bereits in Zypern internationaler Schutz gewährt worden sei. Der Asylantrag werde daher in Deutschland nicht materiell geprüft. Der Entscheidung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stehe auch nicht entgegen, dass der EuGH mit Urteil vom 19.03.2019 (C-297/17) entschieden habe, dass eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig, weil dem Kläger in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union bereits internationaler Schutz gewährt worden sei, nur dann möglich sei, wenn der Kläger keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt sei, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem Mitgliedstaat erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK (Art. 4 GRC) zu erfahren. Eine derartige Menschenrechtsverletzung drohe dem Kläger auf Zypern nicht. Da es sich bei Zypern um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handele, sei aufgrund des normativen Vergewisserungskonzepts davon auszugehen, dass dort die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt sei. Ferner finde die auf Grundlage von Art. 78 AEUV erlassene „Asylverfahrensrichtlinie“ und „Qualifikationsrichtlinie“ Anwendung. Eine Überstellung in einen Drittstaat sei nur in solchen Fällen ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorlägen, dass die dortigen Lebensbedingungen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC führten. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit sei nur dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der zypriotischen Behörden zur Folge hätte, dass sich Personen unabhängig vom eigenen Willen und den persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befänden, die es ihnen nicht erlaube, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Schwelle sei nach dem EuGH jedoch selbst bei großer Armut oder einer starken Verschlechterung der Lebensverhältnisse nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden seien. Unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Klägers lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich seine Lebensverhältnisse in Zypern unmenschlich oder erniedrigt dargestellt hätten oder bei einer Rückkehr darstellen würden. Der Vortrag, dass es in Zypern keine Unterstützung gebe, Rassismus präsent sei und er zur Sicherung seines Lebensunterhalts einer illegalen Beschäftigung habe nachgehen müssen, führe nicht zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC. Es obliege dem Kläger, sich um die Inanspruchnahme und Gewährung der ihm im schutzgewährenden Mitgliedstaat zustehenden Leistungen zu bemühen und auch aus eigener Initiative nach anderer staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Hilfe oder Unterstützung zu suchen. Nach eigenen Angaben habe der Kläger jedoch keine dahingehenden Bemühungen unternommen. Darüber hinaus habe der Kläger als international Schutzberechtigter per Gesetz einen Anspruch auf Sozialhilfe, auf Zugang zur Beschäftigung, zu Bildung und zu Wohnraum. Hinsichtlich des monierten Rassismus und der Übergriffe durch die Familie könne sich der Kläger an staatliche Behörden, insbesondere an die Polizei wenden. Eine mangelnde Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit der zypriotischen Behörden sei nicht erkennbar. Im Hinblick auf die Unterbringungssituation in Zypern sei festzuhalten, dass Schutzberechtigten nach der Zuerkennung des Schutzes theoretisch unbegrenzt der weitere Aufenthalt im Unterbringungszentrum für Asylbewerber möglich sei. Privater Wohnraum müsse eigenverantwortlich gesucht werden (wird weiter ausgeführt). Hinsichtlich der Arbeitsmarktlage sei anzumerken, dass es durchaus zutreffend sei, dass Schutzberechtigte in Zypern Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche hätten. Dennoch könne davon ausgegangen werden, dass der im Jahr 2003 geborene Kläger sich in einem Alter befinde, in dem er ohne weiteres einer Arbeit nachgehen könne. Individuelle Gründe dafür, weshalb er keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könne, seien nicht dargelegt worden. Unter Beachtung der zu verlangenden Eigeninitiative sei es hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger in Zypern eine Beschäftigung finden könne. Es könne verlangt werden, dass er sich in ganz Zypern um eine Arbeitsstelle, ggf. im Niedriglohnsektor, bemühe.
6
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK seien nicht gegeben. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Zypern führten nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Hinsichtlich der Situation, in der der Kläger im schutzgewährenden Staat leben werde, könne keine andere Wertung erfolgen, als zu den Voraussetzungen der Unzulässigkeit des Asylantrags in Deutschland anhand der Anforderungen des EuGHs.
7
Dem Kläger drohe auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Hinsichtlich der vorgetragenen Erkrankungen sei anzumerken, dass diese nicht dazu geeignet seien, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen. Ferner sei nicht ersichtlich, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers alsbald nach einer Rückkehr nach Zypern wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Im Übrigen könne eine erforderliche medizinische Behandlung auch in Zypern erfolgen. Es seien auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass es dem Kläger mangels finanzieller Mittel nicht möglich sein werde, eine Behandlung zu erhalten. Schutzberechtigte hätten den selben Zugang zum Bildungssystem und zum Gesundheitssystem wie Staatsbürger. Daneben sei Zypern gemäß der EU-Richtlinie vom 27.01.2013 verpflichtet, die sogenannten Mindestaufnahmebedingungen einzuhalten. Es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass Zypern die Verpflichtung nicht erfülle.
8
Die Abschiebungsandrohung sei nach § 34, § 35 AsylG zu erlassen. Dem Erlass der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung stehe auch nicht die Rechtsprechung des EuGHs entgegen. Nach der Erkenntnislage des Bundesamtes im Zeitpunkt der Asylentscheidung lägen gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG keine kindlichen und/oder familiären Belange als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne von Art. 5 Hs. 1 Buchst. a und/oder Buchst. b der RL 2008/115/EG i.V.m. Art. 7 und/oder Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.V.m. Art. 3 und/oder Art. 9 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes i.V.m. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vor bzw. das Individualinteresse des Klägers am Erhalt seiner familiären Bindungen trete hinter den berechtigten staatlichen Interessen am Vollzug der Rückkehrverpflichtung zurück. Der Kläger habe zu möglichen Kindeswohlbelangen bzw. familiären Bindungen in Deutschland weder etwas vorgetragen, noch seien sonst im Entscheidungszeitpunkt derartige Belange ersichtlich. Mangels vorliegender oder zureichender Erkenntnisse zu den berücksichtigungsfähigen Individualinteressen des Klägers gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis könne nicht festgestellt werden, dass das staatliche Interesse an einer Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung in den Hintergrund trete. Ferner lägen im Zeitpunkt der Entscheidung keine Anhaltspunkte zum Gesundheitszustand des Klägers vor, die gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen würden, weil bei einer künftigen Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung eine unmenschliche Behandlung bzw. Suizidgefährdung drohe. Auch eine Reiseunfähigkeit sei weder vorgetragen, noch seien insoweit Anhaltspunkte ersichtlich. Daneben bestehe grundsätzlich die Möglichkeit, dass die vollziehende Behörde Maßnahmen treffen könne, um eine Realisierung einer etwaigen derartigen Gefährdung zu verhindern.
9
Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
10
Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (wird weiter ausgeführt).
11
Mit Schriftsatz vom 07.05.2024, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tag, erhob die Bevollmächtigte des Klägers Klage gegen den Bescheid vom 25.04.2024 und beantragt,
1.
Der Bescheid der Beklagten vom 25.04.2024, zugestellt am 30.04.2024, wird – mit Ausnahme von Ziffer 3 Satz 4 des Bescheides – aufgehoben.
2.
Hilfsweise ist festzustellen, dass beim Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Zyperns vorliegen.
12
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Bescheid vom 25.04.2024 sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verbiete sich, wenn die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat, in welchem er anerkannt wurde, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Selbst nach den strengen Maßstäben des EuGHs bestünden auf Zypern im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen für anerkannt Schutzberechtigte Mängel, die die Annahme rechtfertigten, dass bei einer Abschiebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Situation extremer materieller Not und damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohe. Diese Ansicht werde von mehreren Gerichten geteilt. Insoweit erfolgt klägerseits eine Aufzählung diverser Gerichtsentscheidungen. Im Übrigen wurde auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Zypern (Stand: 13.01.2022) des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vollumfänglich Bezug genommen. Dies zugrunde gelegt, bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei Rückkehr nach Zypern obdachlos sein werde. Dass er eine private Unterkunft finden werde, sei offen. Aufgrund der bürokratischen Hürden sei es zudem wahrscheinlich, dass der Kläger zumindest am Anfang mittellos sein werde. Der streitgegenständliche Bescheid setze sich nicht mit der aktuellen Situation in Zypern auseinander. Überwiegend beziehe man sich auf EU-Richtlinien. Lediglich pauschal würden einige Stellen von AIDA 4.2021 benannt. Die weitere Problematik infolge der Ukraine-Krise werde völlig außer Acht gelassen. Eine ordnungsgemäße Subsumtion mit dem Vortrag des Klägers finde nicht statt. Alleine der Vortrag hinsichtlich der Diskriminierung und Rassismus werde durch die genannten gerichtlichen Entscheidungen bestätigt.
13
Mit Schriftsatz vom 14.05.2024 beantragt das Bundesamt für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
14
Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
15
Mit Beschluss vom 15.05.2024 (Az. B 7 S 24.30964) lehnte das Gericht einen gleichzeitig mit der Klageerhebung gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung ab.
16
Mit Beschluss der Kammer vom 12.09.2024 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Ferner wurde den Beteiligten mit gerichtlichem Schreiben vom 16.09.2024 mitgeteilt, dass das Gericht beabsichtigt gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG über die Klage im schriftlichen Verfahren durch Urteil zu entscheiden. Ein Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht wurde daraufhin nicht gestellt.
17
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe

I.
18
Über die Klage kann das Gericht durch Urteil ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden. Die Beteiligten wurden mit gerichtlichem Schreiben vom 16.09.2024 darauf hingewiesen, dass das Gericht gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG beabsichtigt, über die Klage im schriftlichen Verfahren durch Urteil zu entscheiden. In diesem Zusammenhang wurden die Beteiligten auch auf § 77 Abs. 2 Satz 2 AsylG hingewiesen, wonach auf Antrag eines Beteiligten mündlich verhandelt werden muss (§ 77 Abs. 2 Satz 3 AsylG). Keiner der Beteiligten hat jedoch – weder bis zum Ablauf der vom Gericht gesetzten Frist (02.10.2024), noch bis zum Zeitpunkt des Urteilerlasses – die mündliche Verhandlung beantragt (vgl. hierzu auch VG Gießen, U.v. 21.2.2023 – 8 K 218/22.GI.A – juris; VG Bayreuth, U.v. 6.11.2023 – B 7 K 23.30771 – juris; Redeker in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.1.2024, § 77 AsylG Rn. 4a ff.). Letztlich sind auch die weiteren Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegeben, da es sich bei der vorliegenden Klage gegen einen „Drittstaatenbescheid“ um keinen Fall des § 38 Abs. 1 AsylG bzw. des § 73b Abs. 7 AsylG handelt und der Kläger anwaltlich vertreten ist.
II.
19
Die Klage vom 07.05.2024 bleibt vollumfänglich erfolglos.
20
1. Die in zulässigerweise erhobene Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris) gegen die Ziff. 1 des Bescheids vom 25.04.2024 bleibt in der Sache ohne Erfolg.
21
Die „Unzulässigkeitsentscheidung“ ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22
a) Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag in Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen liegen vor. Nach Mitteilung der zypriotischen Behörden wurde dem Kläger am 31.01.2022 in Zypern der subsidiäre Schutzstatus („subsidiary protection“) – und damit internationaler Schutz im Sinne des. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – gewährt.
23
b) Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist im Falle des Klägers auch nicht aus unionsrechtlichen Gründen ausgeschlossen.
24
Liegen die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des EuGHs aus Gründen des vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn die Lebensverhältnisse, die den Kläger als anerkannter Schutzberechtigter in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, diesen der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540.17 – juris; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297-17 – juris; BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris; BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953 – juris). Damit ist geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK (vgl. SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris) im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten bzw. einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris).
25
Dem hiesigen Kläger droht jedoch nach Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („ernsthafte Gefahr“, vgl. BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris; EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris) eine derartige Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC in Zypern zu erfahren. Insoweit schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst den Gründen des angefochtenen Bescheides an (§ 77 Abs. 3 AsylG).
26
Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
27
aa) Im Zusammenhang mit der Beurteilung einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRC kommt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten grundlegende Bedeutung zu. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat grundsätzlich, dass dieser davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris). Diese Vermutung beansprucht nur dann keine Geltung, wenn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris). Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen damit nach der Rechtsprechung des EuGHs nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich die betroffene Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris). vgl. auch: BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953 – juris). Bei der für Art. 4 GRC maßgeblichen Bewertung der Lebensverhältnisse, die den Kläger im Falle seiner Rückkehr erwarten, sind zunächst seine Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, zu berücksichtigen. Insoweit ist es den Betroffenen gegebenenfalls auch zumutbar, eine wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entspricht und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden kann (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris). Auch reicht der Umstand, dass die betreffende Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, regelmäßig nicht für das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21- juris). Bei der Bewertung sind ferner die staatlichen Unterstützungsleistungen und auch die – alleinigen oder ergänzenden – dauerhaften Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris). Deshalb kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris).
28
bb) International Schutzberechtigte werden in Zypern Inländern gegenüber gleichbehandelt. Subsidiär Schutzberechtigte erhalten zunächst eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, die jeweils für weitere zwei Jahre verlängerbar ist. Bei der Verlängerung von Aufenthaltstiteln kommt es regelmäßig zu Verzögerungen, was zu Problemen beim Zugang zu einigen Leistungen führen kann. Schutzberechtigte haben Zugang zum nationalen Sozialhilfesystem des Garantierten Mindesteinkommens (GMI) in gleicher Höhe und unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige (AIDA Country Report Cyprus, 2022 Update; Seiten 152 und 167). Vom Erfordernis eines fünfjährigen rechtmäßigen und ständigen Aufenthalts in Zypern sind Schutzberechtigte ausgenommen.
29
Das Garantierte Mindesteinkommen besteht aus: 1. dem Monatsbetrag, der zur Deckung der Lebenshaltungskosten (Existenzminimum) erforderlich ist, und 2. dem monatlichen Betrag, der als Wohngeld gewährt wird, und jeder Empfänger von Garantiertem Mindesteinkommen erhält Zahlungen für: (a) Gebühren oder ähnliche Abgaben, die von der Gemeinde erhoben werden; (b) Unterstützung zur Abdeckung eines Notbedarfs; (c) Unterstützung zur Abdeckung eines Pflegebedarfs. Die monatlichen Beträge bei Bedarf zur Existenzsicherung sind: 480 € für den Antragsteller/Empfänger; 240 € für den Ehegatten und jedes Familienmitglied über 14 Jahre; 144 € für jedes Familienmitglied unter 14 Jahre.
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Das Wohngeld wird gemäß der Zusammensetzung der Familieneinheit und des Wohnsitzbezirks berechnet. Bemessung des Wohnraums: 55m² für Alleinstehende oder Paare; zusätzliche 25m² für Antragsteller, die mit einer behinderten Person oder Unterhaltsberechtigten leben: 1 minderjähriges Kind, 2 minderjährige Kinder desselben Geschlechts und/oder 1 erwachsenes Kind. Zusätzliche 20m²: für 2 weitere minderjährige Kinder desselben Geschlechts und/oder für jedes weitere Kind. Die von jedem Bezirk gewährten Beträge belaufen sich auf: Nicosia: 4.06 €/m2; Limassol: 4.41 €/m2; Larnaca: 3.50 €/m2; Paphos: 2.94 €/m2; Famagusta: 2.94 €/m2 (Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Zypern, Juli 2021, S. 54).
31
In der Praxis müssen Personen, welche das GMI beantragen, sowohl Staatsangehörige als auch Schutzberechtigte, mit Verzögerungen von bis zu sechs Monaten bei der Prüfung ihres Antrags rechnen. Für diesen Zeitraum kann eine Nothilfe beantragt werden, die jedoch bei nur etwa EUR 100-150 für eine Person pro Monat und bei etwa EUR 150-280 für eine Familie pro Monat liegt. Der Antrag ist nur einen Monat lang gültig und muss jeden Monat neu gestellt werden, bis die Entscheidung über den GMI erteilt wird. Es gibt weitere bürokratische Hürden und Berichte über Schwierigkeiten bei der Errichtung von Bankkonten, die den Zugang zum GMI weiter erschweren. Daneben haben die Antragsteller abhängig vom Familieneinkommen noch Anspruch auf Kindergeld (Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Zypern, Juli 2021, S. 7).
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Nach der Zuerkennung des Schutztitels ist theoretisch unbegrenzt der weitere Aufenthalt im Unterbringungszentrum für Asylwerber möglich. Privater Wohnraum muss eigenverantwortlich gesucht werden. Es gibt keine Programme, die Schutzberechtigten eine Wohnmöglichkeit zur Verfügung stellen. Da die Mehrheit der Betroffenen nicht in der Lage ist unmittelbar ein Einkommen zu sichern, sind nahezu alle Schutzberechtigten darauf angewiesen nach Zuerkennung des Schutzstatus finanzielle Hilfe durch das nationale Guaranteed Minimum Income (GMI) zu beantragen. Dieses gewährt aber keine Mietzinsbeihilfen, solange noch kein Mietobjekt gefunden wurde. Auch sind keine Kautionsbeihilfen vorgesehen. Weiterhin sind die Mieten stark angestiegen. Es dauert daher in der Regel mehrere Monate bis Schutzberechtigte aus dem Zentrum ausziehen können. Sprachbarrieren und die hohe Arbeitslosigkeit sind ebenfalls ein Problem. Obwohl Obdachlosigkeit unter Asylwerbern viel häufiger ist, sind auch Schutzberechtigte diesem Risiko ausgesetzt und oft ist Beratung und Anleitung erforderlich, um eine Unterkunft zu finden. Es sind aber dennoch keine Fälle bekannt, in denen Schutzberechtigte aus dem Zentrum geworfen worden wären, bevor sie eine Wohnmöglichkeit gefunden hatten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Zypern, Stand 14.01.2022, S. 17/18; AIDA Country Report Cyprus, 2022 Update; Seite 164). Die Bedingungen in den Aufnahmezentren sind insbesondere durch die Kooperation mit der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) menschenwürdig (vgl. Bericht des Bundespräsidenten zum Staatsbesuch in Zypern vom 11.02.2024).
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Schutzberechtigte haben denselben Zugang zum Gesundheitssystem wie Staatsbürger. Seit Mitte 2019 gibt es in Zypern ein nationales Gesundheitssystem, das zugänglich ist für Zyprioten, EU-Bürger und Schutzberechtigte. Das Recht auf Gesundheitsversorgung innerhalb des allgemeinen Gesundheitssystems ist unabhängig von der Beitragszahlung, so dass alle Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen haben. Mit dem neuen System wird das Konzept eines persönlichen Hausarztes als zentrale Anlaufstelle für Überweisungen an alle Fachärzte eingeführt. Verzögerungen bei der Ausstellung bzw. Erneuerung von Aufenthaltstiteln können für Schutzberechtigte ein Problem beim Zugang zu medizinischer Versorgung sein. (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Zypern, Stand 14.01.2022, S. 17/18, Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Zypern, Juli 2021, S. 15; AIDA Country Report Cyprus, 2022 Update; Seite 170).
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Darüber hinaus haben Schutzberechtigte gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem (AIDA Country Report Cyprus, 2022 Update; Seite 167; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Zypern, Stand 14.01.2022, S. 18).
35
Ebenso haben Schutzberechtigte vollen Zugang zum Arbeitsmarkt (AIDA Country Report Cyprus, 2022 Update; Seite 167; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Zypern, Stand 14.01.2022, S. 18).
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Zur Situation für Asylbewerber und anerkannt Schutzberechtigte in Zypern verweist das Gericht im Übrigen auf die umfassenden Ausführungen des VG Gießen im Beschluss vom 05.02.2024 – 1 L 216/24.GI.A – juris, insbesondere Rn. 48 ff.
37
cc) Nach alledem und unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen und der individuellen Situation des Klägers ist nicht davon auszugehen, dass dieser bei einer Rückkehr nach Zypern Gefahr liefe, seine elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen zu können.
38
Es ist schon im Hinblick auf die geschilderten Integrations- und Sozialleistungen nicht anzunehmen, dass der zypriotische Staat einer Verelendung gleichgültig gegenüberstehen würde.
39
Weiterhin hat sich der Kläger nach eigenen Angaben bereits sechs bis sieben Jahre in Zypern aufgehalten. Unter Berücksichtigung der Angaben gegenüber dem Bundesamt dürfte dies ca. von 2015/2016 bis zu seiner Weiterreise nach Deutschland im Jahr 2022 gewesen sein. In dieser langen Zeit hat es der Kläger offenbar geschafft, sein absolutes Existenzminimum in Zypern zu sichern. Anhaltspunkte dafür, dass er in dieser Zeit in eine Situation extremer materieller Not geraten wäre, sind nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der Kläger offenbar bereits im Alter von 14 Jahren, also etwa im Jahr 2017, von seinen Eltern abgewandt und in Zypern mehr oder weniger ein eigenständiges Leben geführt hat. Demnach war es ihm selbst als Jugendlicher und ohne Inanspruchnahme der ihm zustehenden Sozialleistungen möglich, seinen Lebensunterhalt in Zypern zu sichern, indem er bei einem Freund lebte und für diesen (schwarz) gearbeitet hat. Er hat offensichtlich in Zypern die beträchtliche Summe von 1.300,00 EUR sparen können, um – neben den Ausgaben für seine Existenzsicherung – die Reise nach Deutschland zu finanzieren. Dementsprechend ist es dem nunmehr volljährigen Kläger nach Auffassung des Gerichts erst Recht möglich, in Zypern sein absolutes Existenzminimum zu sichern. Zur Sicherung des absoluten Existenzminimums können auch Tätigkeiten in der Schatten- bzw. Nischenwirtschaft oder als Gelegenheitsarbeiter in zumutbarer Weise beitragen (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris; VG Ansbach, U.v. 8.12.2023 – AN 17 K 19.50870 – juris). Es sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Kläger nicht arbeitsfähig wäre. Er berichtete zwar über Depressionen, dem Vortrag fehlen aber jegliche Details zur angeblichen Erkrankung, die nach Aktenlage jedoch wohl schon in Syrien bzw. in Zypern bestanden hat. Ferner fehlt es an aussagekräftigen ärztlichen Attesten bzw. an Angaben zu den angeblich eingenommenen Medikamenten. Obwohl auf diesen Aspekt gerichtlicherseits schon im Eilverfahren hingewiesen wurde, erfolgte auch im Klageverfahren keinerlei ergänzender Vortrag bzw. keine Attestvorlage. Letztlich dürfte es dem Kläger nunmehr aufgrund seiner Volljährigkeit auch möglich sein, in eigener Person Sozialleistungen zu beantragen, die ihn beim Voraufenthalt nicht zur Verfügung gestanden haben. Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass der Kläger trotz der vorgetragenen Erkrankungen soweit erwerbsfähig ist, um sein absolutes Existenzminimum – ggf. unter zuzüglicher Beantragung von Sozialleistungen – zu sichern. Es ist auch weder dargetan, noch anderweitig ersichtlich, warum er nicht mehr zu seinem Freund zurückkehren und ggf. dort wieder (teilweise) arbeiten kann. Selbst wenn ihm dieser Zufluchtsort inzwischen verwehrt sein sollte, führt auch eine temporäre Obdachlosigkeit nach Rückkehr in den Drittstaat nicht ohne Weiteres zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC. Wie das Bundesamt zu Recht ausführt, kann sich der Kläger in Zypern wegen der vorgetragenen Diskriminierungen zudem an die staatlichen Behörden wenden. Dass er dies mit der notwendigen Vehemenz gemacht hat, lässt sich der Aktenlage nicht entnehmen. Auch die bereits in Syrien stattgefundenen Misshandlungen seiner Eltern wegen der Abkehr vom Islam führen nicht dazu, dass dem Kläger eine Rückkehr nach Zypern, wo auch seine Eltern leben, nicht zumutbar wäre. Der Kläger ist inzwischen volljährig und hat bereits als Minderjähriger bewiesen, dass er „auf eigenen Beinen stehen kann“. Dem Einfluss und den Beschimpfungen seiner Eltern sowie auch ggf. körperlichen Misshandlungen kann begegnet werden, in dem sich der Kläger außerhalb des Machtbereichs seiner Eltern niederlässt, wie er es bereits offensichtlich die letzten fünf Jahre vor seiner Ausreise aus Zypern getan hat. In diesem Zusammenhang gab der Kläger zudem unverblümt an, dass er – neben den Misshandlungen, denen er mit zumutbaren Mitteln und Wegen entgegentreten kann – insbesondere auch wegen der besseren Lebens- und Bildungsbedingungen nach Deutschland gekommen ist. Dies ist zwar menschlich nachvollziehbar, stellt aber in keiner Weise eine Rechtfertigung für die Sekundärmigration in die Bundesrepublik Deutschland dar.
40
Zum klägerischen Vortrag bezüglich der Auswirkungen des Ukraine-Krieges und der Nachwirkungen der Corona-Pandemie weist das Gericht ergänzend darauf hin, dass diese Umstände – jedenfalls im Fall des hiesigen Klägers – aufgrund der Vorerfahrungen und des langen Voraufenthalts keine maßgebliche Rolle spielen. Der Kläger hat bereits unter viel schwierigeren Bedingungen bewiesen, dass er in Zypern leben kann. Im Übrigen ist generell schon mehr als fraglich, ob gegenwärtig überhaupt die Nachwirkungen der Corona-Pandemie noch plausibel zur Begründung der Unzumutbarkeit der Rückkehr nach Zypern herangezogen werden können. Hinsichtlich der allgemein steigenden Flüchtlingszahlen verkennt das Gericht nicht, dass sich die Lage – auch und gerade in Zypern – zunehmend zuspitzt. Der Kläger hat aber sein Asylverfahren bereits durchlaufen und wird aufgrund seiner Erfahrungen und seines Voraufenthalts in Zypern prognostisch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen „verelenden“ (vgl. hierzu auch BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – juris).
41
dd) Der Überzeugung des Einzelrichters, dass dem hiesigen Kläger in Zypern keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC droht, steht auch die im Verfahren zitierte anderslautende Entscheidung einer Einzelrichterin der 8. Kammer des Gerichts (vgl. B.v. 28.3.2024 – B 8 S 24.30662) nicht entgegen. Neben der Tatsache, dass diese Entscheidung für die hiesige Kammer und den vorliegend zur Entscheidung berufenen Einzelrichter nicht bindend ist – und sowohl insbesondere die 3. Kammer (vgl. B.v. 4.3.2022 – B 3 K 22.30114) und die 7. Kammer (vgl. B.v. 6.7.2023 – B 7 S 23.50181; B.v. 18.3.2024 – B 7 S 24.30562) des Gerichts wiederholt entscheiden haben, dass gegenüber anerkannt Schutzberechtigten in Zypern grds. in rechtmäßiger Weise eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ergehen darf – lässt der Beschluss der 8. Kammer nahezu jegliche Auseinandersetzung mit dem konkreten Einzelfall vermissen.
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Die Einzelrichterin führt – neben allgemeinen Erwägungen zu Zypern, die im Wesentlichen auf AIDA 4.2021 beruhen – lediglich Folgendes aus: „Dies zu Grunde gelegt besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Antragstellerin bei Rückkehr nach Zypern obdachlos sein wird. Dass sie wieder private Unterkunft finden wird, ist offen. Auf Grund der bürokratischen Hürden ist es zudem wahrscheinlich, dass die Antragstellerin zumindest am Anfang mittellos sein wird. Angemerkt wird, dass der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts auf Berichte zur Lage Zyperns aus dem Jahr 2017 und 2018 (also vor der Pandemie und der Ukraine-Krise) Bezug nimmt. Der Bescheid setzt sich mit der aktuellen Lage in Zypern nicht auseinander.“
43
Damit wird von der zitierten Einzelrichterin offensichtlich pauschal für alle in Zypern anerkannt Schutzberechtigten im Falle der Rückkehr ein Verstoß gegen Art. 4 GRC angenommen, wobei bereits die Anlegung des entsprechenden Maßstabes im Beschluss vom 28.03.2024 – insoweit ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit bzw. ernsthafte Gefahr erforderlich (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris; BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – juris) – äußert fraglich erscheint.
44
2. Dem Kläger steht auch kein – zutreffend nur hilfsweise geltend gemachter – Anspruch auf Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote zu.
45
a) Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG liegen nicht vor. Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Der rechtliche Maßstab für eine Verletzung des hier allein in Betracht kommenden Art. 3 EMRK ist im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG identisch mit dem oben unter 1. dargelegten Maßstab im Rahmen der Unzulässigkeitsentscheidung (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris; BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris; SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris). Wie ausgeführt, droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Zypern jedoch keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.
46
b) Ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls nicht festzustellen. Individuelle Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, insbesondere lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich alsbald nach der Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG), sind nicht glaubhaft gemacht worden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG).
47
3. Die erlassene Abschiebungsandrohung (Ziff. 3 des Bescheids), die in zulässiger Weise mit der Anfechtungsklage angegriffen wurde, ist rechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.
48
a) Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war, wobei in den Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist gem. § 36 Abs. 1 AsylG eine Woche beträgt.
49
b) Der mit dem Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21.02.2024, BGBl I Nr. 54) mit Wirkung vom 27.02.2024 neu eingefügte § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG steht dem Erlass der Abschiebungsandrohung ebenfalls nicht entgegen. Die Änderung dient der Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vom 15.02.2023 (Az.: C-484/22) zur RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie), sodass nun die in Art. 5 Rückführungsrichtlinie genannten Belange bereits bei der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung zu prüfen sind. Da die Rückführungsrichtlinie nicht nur auf Rückführungen in das Herkunftsland Anwendung findet, sondern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Rückführungsrichtlinie insoweit auch auf die angedrohte Abschiebung in einen Mitgliedstaat (Sekundärmigration/Drittstaatenbescheide), sind die nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG zu prüfenden Belange auch bei einer Abschiebungsandrohung i.S.v. § 35 AsylG als inlandsbezogene Abschiebungshindernisse zu prüfen (BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris). Im Rahmen der Kontrolle hat das Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG das Vorliegen von (möglicherweise auch erst nach Erlass der Androhung entstandenen) Belangen zu prüfen und eine eigene Abwägung vorzunehmen (BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris).
50
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG erlässt das Bundesamt eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Abschiebung weder das Kindeswohl, noch familiäre Bindungen, noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Vorliegend sind jedoch weder familiäre Belange noch Kindswohlbelange ersichtlich. Der Kläger hat keine Kinder in Deutschland. Zu den hier lebenden Verwandten (Onkel und Tanten), die schon keine Mitglieder der Kernfamilie sind, hat er zudem – wegen unterschiedlichen Auffassungen zur Abkehr vom Islam – keinerlei Kontakt. Der Gesundheitszustand des Klägers begründet ebenfalls ersichtlich kein innerstaatliches Abschiebungshindernis.
51
Die Beklagte geht daher im angefochtenen Bescheid zu Recht davon aus, dass der Abschiebungsandrohung auch § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG nicht entgegensteht.
52
4. Die zulässige Anfechtungsklage (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 22. 8.2019 – A 19 K 1718/17 – juris; BVerwG, U.v.7.9.2021 – 1 C 47/20 – juris) gegen die Ziff. 4 des Bescheids, mit der ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf 30 Monate ab den Tag der Abschiebung befristet wurde, bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Anhaltspunkte für eine etwaige Rechtswidrigkeit sind weder vorgetragen, noch anderweitig ersichtlich. Im Übrigen wird insoweit vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen des Bescheids verwiesen.
III.
53
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.