Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 27.06.2024 – B 3 K 24.30967
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für staatenlosen Palästinenser

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 3
AnerkennungsRL Art. 12 Abs. 1a S. 2
Leitsätze:
1. Ist das UNRWA nicht (mehr) in der Lage, Palästina-Flüchtlingen adäquaten Schutz und Beistand zu bieten, ist Staatenlosen palästinensischer Herkunft nach der Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; die Zuerkennung erfolgt „ipso facto“, eine Prüfung, ob die allgemeinen Flüchtlingsmerkmale des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllt sind, erfolgt nicht. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die bloße Abwesenheit aus dem UNRWA-Einsatzgebiet oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führen nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Falle einer Rückkehr in das UNRWA-Einsatzgebiet in Gaza drohen menschenunwürdige Lebensbedingungen; es besteht die ernsthafte Gefahr, dass der Flüchtling einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Behandlung ausgesetzt wäre, weil seine Grundbedürfnisse (deren Befriedigung das UNRWA gewährleisten soll) nicht befriedigt werden könnten. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schutzgewährung durch UNRWA, Palästinensische Gebiete, Gaza, Flüchtlingseigenschaft ipso facto, Flüchtling, UNRWA, Ausschlussklausel, Schutzgewährung, humanitäre Situation
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35948

Tenor

1. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21.07.2022 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.  

Tatbestand

1
Der Kläger ist staatenloser Palästinenser mit gewöhnlichem Aufenthalt in den palästinensischen Autonomiegebieten (hier: Gaza). Er gehört der Volksgruppe der Palästinenser an und ist sunnitisch-islamischer Religionszugehörigkeit. Er hat sich durch einen Reisepass der palästinensischen Autonomiebehörde ausgewiesen. Der Kläger reiste am 17.12.2019 von Griechenland aus kommend über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 12.04.2021 stellte er einen förmlichen Asylantrag.
2
Dem Kläger wurde laut Mitteilung der griechischen Behörden am 03.10.2019 der internationale Schutz (Flüchtlingsschutz) gewährt. In einem Vermerk vom 05.05.2022 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) betreffend den Kläger eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei einer Abschiebung nach Griechenland fest. Eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sei ausgeschlossen.
3
Der Kläger wurde bei dem Bundesamt am 28.12.2021 persönlich angehört. Dabei gab er an, er habe seine Heimat aufgrund religiöser, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Probleme verlassen. Die wirtschaftliche Situation sei sehr schlecht gewesen. Die Arbeitslosenzahl sei sehr hoch, vier seiner Geschwister seien Uniabsolventen, hätten jedoch keine Arbeit. Er sei der Einzige, der die Familie finanziell versorgen könne, weil er ausgereist sei. Sein Vater habe sein Bein verloren und seine Mutter leide an Krebs. In Gaza gebe es Tage, da könne nicht gekocht werden, da es kein Gas gebe. Als er Hilfe gebraucht habe, sei er zur Hamas gegangen, um Essen zu erhalten. Er sei heimgeschickt worden. Er stamme nicht aus einer angesehenen Familie. Hamas unterstütze nur bestimmte Familien. Er sei der Sohn einer behinderten Person. Wegen der Behinderung seines Vaters sei er auch beleidigt und gemobbt worden. In Gaza hätte man keine Rechte, die Polizei nehme keine Anzeigen gegen bestimmte Personen vor. Man werde dort unmenschlich behandelt. An der Universität sei er einer Studentengruppe beigetreten, die Geld gesammelt habe für bedürftige Studenten. Es sei zu einer Schlägerei mit einer Studentengruppe von Hamas gekommen. Er sei von der Polizei verhaftet und für drei Tage inhaftiert worden. Er sei beschimpft und gefoltert worden. Er sei außerdem durch ein Prüfungsfach gefallen, obwohl er die Studiengebühren bezahlt und auch eine gute Prüfung abgelegt habe. Er habe die Universität und das Studium wechseln müssen. Von Hamas sei er einst mitgenommen worden und ihm sei eine Glatze geschnitten worden, weil er eine zu europäische Frisur getragen habe. Er sei auch geschlagen worden, weil er nicht in die Moschee gegangen sei. Am 10. oder 12.11. 2017 sei er von „Kataeb Alkassam“ mitgenommen worden. Man habe ihn eine Woche gefoltert und dann auf die Straße geworfen. Er habe eine Woche stationär behandelt werden müssen. Sein Vater sei aufgefordert worden, sicherzustellen, dass seine Kinder die Verrichtung des Gebets einhielten. Eine Woche vor seiner Ausreise hätte er eine polizeiliche Vorladung erhalten, sich dort am 01.09.2018 einzufinden. Hintergrund der Ladung sei wohl gewesen, dass er nicht ausreichend die Moschee besucht habe.
4
Mit Bescheid vom 21.07.2022, welcher laut Postzustellungsurkunde dem Kläger am 27.07.2022 zugestellt wurde, wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Nr. 1) und der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 2). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Nr. 3). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland spätestens 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, ansonsten werde er in die palästinensischen Autonomiegebiete, hier Gaza, abgeschoben (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Auf die Gründe des Bescheids wird verwiesen.
5
Mit Schreiben vom 09.08.2022, welches am gleichen Tag beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth einging, ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigte Klage (Az. B 3 K 22.30841) erheben mit den Anträgen:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 21.07.2022, zugestellt am 27.07.2022, wird in Ziffern 1 und 3 bis 6 aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
3. Hilfsweise, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
4. Hilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
6
Die Beklagten beantragte mit Schreiben vom 12.08.2022,
die Klage abzuweisen.
7
Mit Schreiben vom 17.01.2023 führte die Bevollmächtigte des Klägers aus, er habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger habe vorgetragen, Gaza aus religiösen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gründen verlassen zu haben. Er habe sich zuletzt in Gaza unter dem Schutz des Hilfswerkes der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) aufgehalten. Insbesondere aufgrund von zwei Vorfällen mit der Hamas fürchte er um sein Leben. Der erste Vorfall sei im Mai 2017 gewesen, als er mit einer Kommilitonin nach der letzten Unterrichtsstunde am Strand spazieren gewesen sei. Sie seien von den Polizisten zur Polizeistation gebracht worden. Sie seien in getrennte Zimmer gebracht worden, was mit dem Mädchen geschehen sei, wisse er nicht. Er sei sofort ins Gesicht geschlagen worden. Er sei für drei Stunden festgehalten worden und anschließend habe er schwere Trümmer tragen müssen. Er sei nach sechs Stunden entlassen und aufgefordert worden, nie wieder an den Strand zu gehen, sonst würden ihm alle Knochen gebrochen werden und er ins Gefängnis gebracht werden.
8
Der zweite Vorfall sei im November 2017 gewesen. Im November sei er gegen 10 Uhr abends von vier Personen in einem weißen Jeep angehalten worden. Er sei gepackt und auf den Boden gestoßen worden. Er sei in einen Raum gebracht worden, in diesem seien vier Personen gewesen. Er sei mit einem Seil an der Decke aufgehängt worden. Er sei ins Gesicht geschlagen worden, in den Bauch und auch gegen die Beine. Er sei ca. für 8 Tage oder eine Woche festgehalten worden. Ihm sei gelegentlich Wasser und Brot gebracht worden. Am Tag seiner Freilassung seien ihm die Augen verbunden worden, er sei wieder in den Jeep gebracht worden und nach ca. 30 Minuten auf die Straße geworfen worden. Ihm sei gesagt worden, dass er regelmäßig in die Moschee gehen müsse, sonst würde er getötet werden. Er sei ca. eine Woche lang im Krankenhaus gewesen. Es habe mehrere Monate gedauert, bis er sein Bein wieder habe bewegen können. Aufgrund des Beines habe er nicht täglich in die Moschee gehen können. Er sei so oft wie möglich zu Hause geblieben, von der Universität habe er sich zuvor aus finanziellen Gründen exmatrikuliert. Er habe gewusst, dass er Gaza verlassen müsse. Er sei immer wieder zur Grenze gegangen und habe mit den Grenzwächtern gesprochen. Diese hätten fast 4000 Euro für den Grenzübertritt gewollt. Er habe dann jemanden gefunden, der ihn für 1.600 Euro über die Grenze habe gehen lassen. Ab Erhalt des Passes habe er immer wieder versucht, aus Gaza zu fliehen. Am 30.08.2018 habe er eine Vorladung zur Vernehmung erhalten. Die Vorladung sei seinem Vater übergeben worden. Am gleichen Tag, als er die Vorladung erhalten habe, habe er sein Zuhause für immer verlassen. Der Kläger sei registrierter Palästina-Flüchtling des UNRWA. Eine Kopie des UNRWA-Ausweises wurde vorgelegt. Der Schutz der UNRWA schließe den Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hier nicht aus. Der Kläger habe das Schutzgebiet des UNRWA nicht freiwillig verlassen, sondern aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts.
9
Mit Schriftsatz vom 02.02.2023 führte die Beklagte aus, der Kläger habe in Gaza Schutz oder Beistand des UNRWA genossen. Er sei von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen. Die Beklagte sei nicht überzeugt, dass dem Kläger der in § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG genannte Schutz oder Beistand im Zeitpunkt des Verlassens des gesamten Einsatzgebietes des UNRWA nicht länger gewährt worden sei. Der Kläger sei nicht ipso facto Flüchtling. Er habe den Gaza-Streifen und das Einsatzgebiet des UNRWA im September 2018 nicht unfreiwillig verlassen. Der Kläger könne erwarten, sich in Sicherheit im Einsatzgebiet des UNRWA im Gaza-Streifen aufzuhalten. Ihm drohe weder Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG noch ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG. Soweit für den Vorfall im Mai 2017 Angaben gemacht worden seien, sei keine Verfolgungshandlung von der erforderlichen Intensität erkennbar. Der Vorfall sei auch nicht fluchtauslösend gewesen. Es handele sich ferner um eine nicht glaubhafte Steigerung im Sachvortrag. Es sei auch nicht festzustellen, dass der Kläger im September 2018 den Gaza-Streifen und das gesamte Einsatzgebiet des UNRWA aufgrund der humanitären Lage in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Situation verlassen musste.
10
Mit Beschluss vom 10.02.2023 wurde das Ruhen des Verfahrens angeordnet, im Hinblick auf die Vorlage des Bundesverwaltungsgerichtes an den EuGH (Az. 1 C 26/21).
11
Mit Beschluss vom 09.03.2023 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
12
Mit Schreiben vom 07.05.2024 beantragte die Bevollmächtigte des Klägers die Wiederaufnahme des Verfahrens. Zur Begründung wurde ausgeführt, seit dem 07.10.2023 herrsche im Gaza-Streifen ein Krieg. Jedenfalls mit Ausbruch des Krieges sei dem Kläger eine Rückkehr in den Gaza-Streifen nicht mehr möglich. Der Schutz des UNRWA sei nicht mehr gegeben. Auf ein Urteil des VG Sigmaringen vom 07.03.2024 (Az. A 5 K 1560/22) wurde Bezug genommen. Ein Abwarten auf die Entscheidung des EuGHs auf die Vorlagefrage sei jedenfalls mit Ausbruch des Krieges obsolet geworden. Dem Kläger sei die Flüchtlingseigenschaft, jedenfalls aber der subsidiäre Schutzstatus, zuzusprechen.
13
Das statistisch erledigte Verfahren (Az. B 3 K 22.30841) wurde unter dem aktuellen Aktenzeichen (Az. B 3 K 24.30967) wieder aufgenommen. Die Beklagte wurde um Prüfung der Abhilfe bzw. um konkrete und umfassende Äußerung zu dem Verfahren gebeten.
14
Mit Schreiben vom 13.05.2024 führte die Beklagte aus, in Anbetracht der nach den Ereignissen des 07.10.2023 insbesondere im Gazastreifen außerordentlich dynamischen, unübersichtlichen und schwer zu bewertenden Lage sowie der daraus resultierenden Schwierigkeiten, die Rückkehrgefährdung mit der für eine Entscheidung von Asylverfahren gebotenen Belastbarkeit einzuschätzen, sehe das Bundesamt die Voraussetzungen für eine Entscheidung davon betroffener Asylverfahren derzeit als nicht gegeben an, wenn diese von Informationen zur Lage im Herkunftsland abhängig, also nicht bereits durch individuelle Umstände des Einzelfalls begründbar sei. Eine Entscheidungsreife sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt aller Voraussicht nach nicht herbeizuführen. Gerichtlichen Abhilfeanfragen könne nicht entsprochen werden.
15
Mit Schreiben vom 29.05.2024 forderte die Berichterstatterin die Beklagte nochmals auf, im Hinblick auf die Registrierung des Klägers bei UNRWA die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes zu prüfen. Andernfalls sei dem Kläger der subsidiäre Schutz zuzusprechen.
16
Ohne weitere Ausführungen verzichtete die Beklagte mit Schreiben vom 03.06.2024 auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung. Die Bevollmächtigte des Klägers erklärte mit Schreiben vom 13.06.2024 einen entsprechenden Verzicht.
17
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die übersandte Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

18
Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
I.
19
Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Für den Kläger besteht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes. Der entgegenstehende Bescheid der Beklagten vom 21.07.2022 ist im angefochtenen Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
20
Ob ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht, ist vorliegend an § 3 Abs. 3 AsylG anstelle von § 3 Abs. 1 AsylG zu beurteilen (1.). Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG (2.). Der Schutz und Beistand des UNRWA ist für den Kläger aber im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG entfallen (3.).
21
1. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG ist ein Ausländer dann nicht Flüchtling, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG bestimmt ergänzend, dass § 3 Abs. 1 und 2 AsylG dann Anwendung finden, wenn ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist.
22
Das UNRWA fällt als Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen in den Anwendungsbereich des § 3 Abs. 3 AsylG, der Art. 1 Abschnitt D GFK sowie Art. 12 Abs. 1 a der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2011 aufgreift bzw. umsetzt und der gerade im Hinblick auf die besondere Lage der – regelmäßig staatenlosen – Palästinaflüchtlinge geschaffen worden ist, die den Beistand oder Schutz des UNRWA genießen.
23
Die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nimmt alle Personen vom Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 AsylG aus, deren Betreuung das UNRWA entsprechend seinem Mandat übernommen hat. Damit werden die palästinensischen Flüchtlinge, deren Lage weiterhin nicht endgültig geklärt ist vorrangig darauf verwiesen, den Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch zu nehmen. Dies entspricht Sinn und Zweck der Ausschlussklausel, die im Einklang mit Art. 12 Abs. 1 a Satz 1 RL 2011/95/EU und Art. 1 Abschnitt D Satz 1 GFK gewährleisten soll, dass sich in erster Linie das UNRWA dieser Personen annimmt, und nicht die Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention und insbesondere nicht die arabischen Staaten, in denen die palästinensischen Flüchtlinge leben.
(Vgl. EuGH, U.v. 19.12. 2012 – C-364/11 –; BVerwG, U. v. 27. 4. 2021 – 1 C 2.21 – juris Rn. 14; BVerwG, U. v. 4.6.1991 -- 1 C 42.88 –; U. v. 27. 4. 2021 -- 1 C 2.21 – juris)
24
Dies soll allerdings nur solange gelten, wie das UNRWA in der Lage ist, den Palästina-Flüchtlingen adäquaten Schutz und Beistand zu bieten. Ist dies nicht länger der Fall, bestimmt die Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, dass Staatenlosen palästinensischer Herkunft die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Dabei ist nicht zu prüfen, ob die allgemeinen Flüchtlingsmerkmale des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr enthält § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, der an § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG anknüpft und mit diesem eine Einheit bildet, eine selbständige Umschreibung der Flüchtlingseigenschaft. Liegen die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG vor, ist einem Antragsteller „ipso facto“ die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass dieser nachweisen muss, dass er in Bezug auf das Gebiet, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung hat.
(Vgl. EuGH, U. v. 19.12. 2012 – C-364/11 –; U.v. 25.7. 2018 – C-585/16 – juris Rn. 86)
25
2. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG. Er hat bereits im Verwaltungsverfahren erklärt bei dem UNRWA registriert gewesen zu sein. Im Rahmen des Klageverfahrens hat er auch eine Family Registration Card des UNRWA vom 18.12.2018 vorgelegt, welche auch seinen Namen dokumentiert.
26
3. Dem Kläger wird der Schutz oder Beistand des UNRWA jedoch nicht länger gewährt.
27
Nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt der genannte Ausschluss nicht, wenn dem Ausländer ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. In diesem Fall genießt der Betroffene gemäß Art. 12 Abs. 1. a Satz 2 RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) ipso facto den Schutz der Richtlinie und ist damit als Flüchtling anzuerkennen, ohne notwendigerweise nachweisen zu müssen, dass er bis zu dem Zeitpunkt, zu dem er in der Lage ist, in das Gebiet zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 d der RL 2011/95/EU hat (EuGH, U. v. 3. 3. 2022 – C-349/20 – juris, Rn. 50; U. v. 13.1. 2021 – C-507/19 – juris Rn. 51 m.w.N.; BVerwG, U. v. 27.4. 2021 – 1 C 2.21 – juris Rn. 12). Weitere Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist dann lediglich, dass Ausschlussgründe im Sinne des Art. 1 Abschnitt E und F GFK, des Art. 12 Abs. 1 b und Absätze 2 und 3 der RL 2011/95/EU und des § 3 Abs. 2 AsylG nicht eingreifen (EuGH U.v. 13.1. 2021 – C-507/19 – juris Rn. 51).
28
Der Schutz oder Beistand fällt nicht nur dann weg, wenn die Organisation oder Institution, die ihn gewährt hat, entweder aufgelöst wird oder ihre Tätigkeit vollständig einstellt. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 a Satz 2 der RL 2011/95/EU („aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“). Vielmehr genügt es, dass der Schutz oder Beistand einer Person, nachdem sie diesen tatsächlich in Anspruch genommen hat, aus einem von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger gewährt wird. Dies ist der Fall, wenn die betreffende Person gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, weil sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand, und es dieser Organisation unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen. Die bloße Abwesenheit aus dem UNRWA-Einsatzgebiet oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führt nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes (EuGH, U.v.13. 1. 2021 – C-507/19 – juris Rn. 51, 69; U. v. 19.12. 2012 – C-364/11 – juris Rn. 49 ff., 65; BVerwG, U.v. 27.4. 2021 – 1 C 2.21 – juris Rn. 18). Dem Betroffenen ist es möglich und zumutbar, in das Einsatzgebiet des UNRWA zurückzukehren und sich dessen Schutz oder Beistand erneut zu unterstellen, sofern er die Garantie hat, in dem Operationsgebiet aufgenommen zu werden, ihm das UNRWA dort tatsächlich einen von den verantwortlichen Stellen zumindest anerkannten Schutz oder Beistand gewährt und er erwarten kann, sich in diesem Operationsgebiet in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten zu dürfen (BVerwG, U. v. 27. 4. 2021 – 1 C 2.21 – juris Rn. 20 f. m.w.N.).
29
Nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGHs vom 13.06.2024 (C-563/22) ist Art. 12 Abs. 1 a Satz 2 der RL 2011/95 dahingehend auszulegen, dass:
„der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen (für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten) (UNRWA), den ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der internationalen Schutz beantragt, genießt, im Sinne dieser Bestimmung als nicht länger gewährt gilt, wenn zum einen diese Organisation aus irgendeinem Grund, auch aufgrund der allgemeinen Lage, die in dem Operationsgebiet des Einsatzgebiets dieser Organisation herrscht, in dem dieser Staatenlose seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht in der Lage ist, diesem Staatenlosen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, gemäß ihrem Auftrag menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten, ohne dass er nachweisen müsste, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen von dieser allgemeinen Lage spezifisch betroffen ist, und wenn sich zum anderen der betroffene Staatenlose palästinensischer Herkunft im Fall seiner Rückkehr in dieses Operationsgebiet in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, gegebenenfalls unter Berücksichtigung seiner Schutzbedürftigkeit, wobei die Verwaltungsbehörden und die Gerichte verpflichtet sind, eine individuelle Prüfung jedes auf diese Bestimmung gestützten Antrags auf internationalen Schutz vorzunehmen, in deren Rahmen das Alter der betreffenden Person relevant sein kann. Der Beistand oder Schutz des UNRWA ist insbesondere dann als gegenüber dem Antragsteller nicht länger gewährt anzusehen, wenn diese Organisation aus irgendeinem Grund keinem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, der sich in dem Operationsgebiet ihres Einsatzgebiets aufhält, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, menschenwürdige Lebensverhältnisse und ein Mindestmaß an Sicherheit mehr gewährleisten kann. Die Frage, ob der Beistand oder Schutz des UNRWA als nicht länger gewährt gilt, ist im Hinblick auf den Zeitpunkt zu beurteilen, zu dem der Staatenlose das Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verlassen hat, auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden über seinen Antrag auf internationalen Schutz entscheiden, oder auf den Zeitpunkt, zu dem das zuständige Gericht über einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der dieser Antrag abgelehnt wird, entscheidet.“
30
Unter Anlegungen dieser Maßstäbe ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft „ipso facto“ zu gewähren, weil ihm im Falle einer Rückkehr nach Gaza der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird.
31
Dem Kläger drohen menschenunwürdige Lebensbedingungen bei einer Rückkehr in das UNRWA-Einsatzgebiet in Gaza. Es besteht für ihn die ernsthafte Gefahr, dass er bei einer Rückkehr in das Einsatzgebiet des UNRWA einer mit Art. 4 Charta unvereinbaren Behandlung ausgesetzt wäre, weil seine Grundbedürfnisse (deren Befriedigung das UNRWA gewährleisten soll) nicht befriedigt werden könnten. Die zu befriedigenden Grundbedürfnisse umfassen den Schutz vor menschenunwürdigen Lebensbedingungen, Misshandlungen, willkürlicher Gewalt und auch vor einem sonstigen ernsthaften Schaden, sofern dieser zu körperlichen oder seelischen Schmerzen oder Leiden von solcher Intensität oder Dauer führt, dass die sich aus dieser Bestimmung ergebende Schwelle erreicht wird, die derjenigen in Art. 19 Abs. 2 der Charta entspricht (vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes/der Generalanwältin vom 11.01.2024, C-563/22, Rn 73).
32
Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023 hat der israelische Ministerpräsident den Kriegszustand erklärt. Seither ist der Gaza-Streifen Ziel einer breit angelegten israelischen Militäroperation mit Bombardements aus der Luft, vom Boden und von der See, die mit unzähligen zivilen Opfern, massiver Zerstörung der zivilen Infrastruktur und einer Binnenvertreibung von ca. 85% der Bevölkerung des Gaza-Streifens einhergeht. Zivilisten können im Gaza-Streifen nicht in Sicherheit leben. Allein seit dem 07.10.2023 sind – wenn auch auf der Grundlage von seitens des Hamas-Gesundheitsministeriums zur Verfügung gestellten Daten – mehr als 30.000 Todesopfer und mehr als 70.000 Verletze unter den überwiegend zivilen palästinensischen Opfern des Krieges gezählt worden (vgl. nur OCHAoPT, Hostilities in the Gaza Strip and Israel | Flash Update #129, abrufbar unter www.ochaopt.org; vgl. ferner OCHAoPT, Hostilities in the Gaza Strip and Israel – reported impact | Day 145; österr. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation, Gazastreifen Sicherheitslage, 19.01.2024). In einem Zeitraum von ca. fünf Monaten sind damit ca. 4,5% der Bevölkerung von Gaza (ca. 2,2 Mio. Einwohner) getötet oder verletzt worden, mehrheitlich dabei Zivilisten. Und auch die Binnenvertreibung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung macht die Betroffenen zu zivilen Konfliktopfern.
(Vgl. VG Sigmaringen, U.v. 7.3.2024 – A 5 K 1560/22 – juris Rn. 32).
33
Im Dezember 2023 erklärte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres: „Das Ausmaß der israelischen Militärkampagne gegen die Hamas und das Ausmaß an Tod und Zerstörung in Gaza sind beispiellos und unerträglich. Ich verurteile eindeutig die Tötung von Zivilisten in Gaza, darunter Frauen und Kinder.“ Am 16.01.2024 kam eine Gruppe von UN-Menschenrechtsexperten in einem Kommentar zur Lage im Gazastreifen nach über hundert Tagen Krieg zu dem Schluss: „In Gaza ist es nirgendwo sicher.“
34
Mit Stand vom 09.02.2024 gab das UNRWA unter Berufung auf Zahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza an, dass „seit dem 7. Oktober mindestens 27.947 Palästinenser im Gazastreifen getötet wurden. Etwa 70 Prozent der Getöteten sollen Frauen und Kinder sein. Weitere 67.459 Palästinenser wurden Berichten zufolge verletzt“. Die UNO sei „bisher nicht in der Lage gewesen, unabhängige, umfassende und überprüfte Opferzahlen vorzulegen“ und habe sich auf die Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza und des staatlichen Medienbüros verlassen. Im November 2023 veröffentlichte Associated Press (AP) News einen Artikel, in dem es um die Frage ging, wie das Gesundheitsministerium im Gazastreifen, „eine Behörde der von der Hamas kontrollierten Regierung“, die Opfer des Konflikts zählt. Dabei wurde erwähnt, dass „das Ministerium nie zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheidet“, aber auch, dass aufgrund der Sicherheits- und humanitären Lage ein „Chaos“ herrsche, das die Wahrscheinlichkeit von Fehlern erhöht habe.
35
Mit Stand vom 05.02.2024 meldete das UNRWA-Hilfswerk, dass seit Beginn des Konflikts insgesamt 154 UNRWA-Mitarbeiter getötet wurden. Im Januar 2024 betonte der Generalsekretär der UNO, dass die Zahl der Todesopfer unter den UN-Mitarbeitern, die damals bei 152 lag, „der höchste einzelne Verlust an Menschenleben in der Geschichte unserer Organisation“ sei.
36
Am 23.12. 2023 berichtete eine israelische Medienquelle unter Berufung auf die IDF, dass seit Beginn des Krieges zwischen Israel und Hamas „8.000 mit der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) verbundene Terroristen im Gazastreifen getötet wurden“.
37
Im Januar 2024 meldete die Internationale Journalisten-Föderation (IFJ), dass im Konflikt mindestens 92 Journalisten und Medienschaffende getötet worden seien. Das Committee to Protect Journalists (CPJ) berichtete, dass unter den Opfern des bewaffneten Konflikts mindestens 83 Journalisten und Medienschaffende seien. Reporter ohne Grenzen (RSF) berichtete, dass „durch israelische Angriffe mindestens 81 Journalisten im Gazastreifen getötet wurden, davon mindestens 18 in der Ausübung ihrer Arbeit oder aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit“
(Vgl. EUAA, COI Query, Palestine, Security situation in the Gaza Strip and impact on the civilian population, 19.02.2024, Bl. 5-6)
38
Für den Zeitraum vom 07.10.2023 bis zum 28.01.2024 präsentierte Al Jazeera in seinem regelmäßig aktualisierten Live-Tracker unter Berufung auf die WHO, das UNOCHA und das Government Media Office in Gaza die folgenden beschädigten oder zerstörten Infrastruktureinrichtungen in Gaza, die Berichten zufolge auf israelische Angriffe zurückzuführen seien:
▪ über 360.000 Wohneinheiten wurden beschädigt oder zerstört, das entspricht mehr als der Hälfte aller Häuser im Gazastreifen;
▪ 392 Bildungseinrichtungen wurden beschädigt;
▪ 267 Gotteshäuser wurden beschädigt;
▪ 11 von 35 Krankenhäusern seien teilweise funktionsfähig;
▪ 123 Krankenwagen wurden beschädigt;
▪ 11 Bäckereien seien zerstört.
39
Am 30.01.2024 berichtete die BBC, dass ihren Untersuchungen zufolge „zwischen 144.000 und 175.000 Gebäude im gesamten Gazastreifen beschädigt oder zerstört wurden. Das sind zwischen 50% und 61% der Gebäude in Gaza“. Khan Younis im Süden war besonders betroffen.
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Am 16.01.2024 teilte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) mit, dass Israel „mehr als 60% der palästinensischen Häuser im Gazastreifen zerstört“ und das Gebiet damit „unbewohnbar“ gemacht habe.
(Vgl. EUAA, COI Query, Palestine, Security situation in the Gaza Strip and impact on the civilian population, 19.02.2024, Bl. 7)
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Am 21.12.2023 berichtete die WHO von einer „katastrophalen Ernährungsunsicherheit“ in Gaza und warnte vor einer zunehmenden Hungersnotgefahr. Laut Human Rights Watch setzt Israel im Gazastreifen das Aushungern der Zivilbevölkerung als Kriegsmethode ein. In einer Pressemitteilung vom 08.02.2024 erklärte die UNO: „Die jüngsten von humanitären Helfern durchgeführten Ernährungsbewertungen deuten darauf hin, dass die Gefahr einer Hungersnot in Gaza von Tag zu Tag steigt.“ Einem Bericht des WFP vom 06.12. 2023 zufolge hatten 97% der Haushalte im Norden des Gazastreifens eine „unzureichende Nahrungsmittelversorgung“, während die Zahl bei den Binnenvertriebenen im Süden bei 83% lag. Acht Tage später berichtete das WFP, dass „fast alle Binnenflüchtlingshaushalte eine unzureichende Nahrungsmittelaufnahme meldeten; der Anteil sei von 83% auf 93% gestiegen“.
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Was die Wassersicherheit betrifft, sind die meisten Gaza-Bewohner aufgrund des Mangels an sauberem Wasser gezwungen, auf nicht trinkbare Wasserquellen zurückzugreifen, heißt es in einem im November 2023 veröffentlichten Bericht der britischen NGO Oxfam. Seit dem 06.12 2023 hatten die Menschen im Norden von Gaza „1,8 Liter sauberes Wasser pro Person und Tag“. Laut einem WFP-Bericht vom 14.12. 2023 ist „der Zugang zu Wasser weiterhin stark eingeschränkt. Er beträgt weniger als zwei Liter pro Person und Tag und liegt damit 15 Liter unter dem grundlegenden Wasserbedarf zum Überleben gemäß den Sphere-Standards“. Am 16.01.2024 meldete das UNRWA, dass „Wasserbrunnen in Jabalia (Norden), Khan Younis und Rafah (Süden) in Betrieb waren. Fast 3.000 Kubikmeter wurden abgepumpt. Die Wasserbrunnen in Khan Younis und Rafah waren in zwei Schichten (12 Stunden) in Betrieb, um die Trinkwasser-/Haushaltswasserversorgung sicherzustellen“.
(Vgl. EUAA, COI Query, Palestine, Security situation in the Gaza Strip and impact on the civilian population, 19.02.2024, Bl. 10-11)
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Die WHO berichtete von einem „steil ansteigenden Anstieg an Infektionskrankheiten“ in Gaza, darunter Durchfallerkrankungen, Infektionen der oberen Atemwege, Meningitis, Hautausschläge und Krätze, wobei die Verbreitung von Infektionskrankheiten aufgrund mangelnder Hygiene und eines kollabierenden Gesundheitssystems „unvermeidlich“ sei.
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Das OHCHR berichtete, dass das „Gesundheitssystem […] aufgrund der großflächigen Zerstörung von Krankenhäusern“ im Gazastreifen zusammengebrochen sei. MSF berichtete, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung in Gaza „drastisch eingeschränkt“ sei und dass „das Gesundheitssystem in Gaza […] praktisch zusammengebrochen“ sei.
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Am 08.01.2024 berichtete das CFR, dass „Angriffe auf die medizinische Infrastruktur und ein Mangel an Grundversorgung die Zahl der funktionierenden Krankenhäuser auf nur neun reduziert haben, die sich alle im Süden befinden“.
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Am 23.01.2024 berichtete die WHO, dass sieben Krankenhäuser im Norden des Gazastreifens und sieben Krankenhäuser im Süden des Gazastreifens „teilweise funktionsfähig“ seien. Dies betrifft 14 von 36 Krankenhäusern im Gazastreifen.
(Vgl. EUAA, COI Query, Palestine, Security situation in the Gaza Strip and impact on the civilian population, 19.02.2024, Bl. 11-12)
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Von den schätzungsweise 2,2 Millionen Einwohnern des Gazastreifens wurden nach Schätzungen des UNRWA bis zum 26.01.2024 1,7 Millionen Menschen innerhalb des Gazastreifens vertrieben.
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In einem Kommentar zu den Evakuierungsanordnungen Israels schrieb Human Rights Watch: „Es gibt keinen Ort, an den man gehen kann, außer – für manche – in die überfüllten Häuser von Verwandten in der südlichen Hälfte des Streifens“. Die International Crisis Group stellte fest, dass „Hunderttausende Palästinenser trotz der israelischen Evakuierungswarnung im Norden blieben“, da er sich trotz der Befehle dazu entschlossen hatte, nicht Richtung Süden weiterzureisen, unter anderem aus Angst, die Reise sei unsicher.
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Am 22.11.2023 veröffentlichte eine Gruppe humanitärer Organisationen einen gemeinsamen Bericht, in dem sie warnten, dass trotz der Ankündigung „humanitärer Pausen“, „humanitärer Korridore“ und „Sicherheitszonen“ durch die israelischen Behörden während dieser Pausen weiterhin von Feindseligkeiten berichtet wurde, darunter auf den Routen, die für einen sicheren Transport in den Süden gedacht waren, und in den Gebieten, in die die Zivilbevölkerung umgesiedelt werden sollte. Darüber hinaus berichteten Medien von Sicherheitsvorfällen, bei denen es entlang der Evakuierungsrouten zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kam. So berichtete BBC News am 16.10.2023, dass ein Autokonvoi mit Menschen, die Richtung Süden unterwegs waren, von einem Angriff getroffen wurde. Die BBC beschrieb die Szene als „totales Blutbad“, bei dem mindestens 12 Menschen ums Leben kamen, während das palästinensische Gesundheitsministerium von 70 Toten sprach. Am 04.01.2024 berichtete Save the Children: „Berichten zufolge wurden heute Morgen vierzehn Menschen, die meisten davon Kinder unter zehn Jahren, durch israelische Luftangriffe in der Nähe von Al-Mawasi getötet. Dieses Gebiet wurde von den israelischen Behörden zur ‚humanitären Zone‘ erklärt und die Zivilisten wurden zu ihrer Sicherheit auf Anweisung der israelischen Streitkräfte dorthin evakuiert.“
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Am 24.01.2024 berichtete die BBC, dass die IDF „den Bewohnern des westlichen Khan Younis befohlen hätten, zu ihrer eigenen Sicherheit unverzüglich in die Gegend von al-Mawasi an der Mittelmeerküste zu ziehen“. Nach Angaben der UNO lebten in dem Gebiet rund eine halbe Million Menschen. Mit Stand vom 08.02.2024 suchten schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen in Rafah Schutz, einer Stadt mit ursprünglich 250.000 Einwohnern. Laut einem Bericht von Human Rights Watch vom 09.02.2024 wurde die israelische Armee angewiesen, „dem Kabinett einen Plan zur Räumung von Rafah, Gazas südlichste Provinz“, mit dem Ziel, „Hamas-Bataillone in der Region anzugreifen“, so der Ministerpräsident Israels. Am 21.01.2024 schätzte das UNRWA, dass „seit Kriegsbeginn insgesamt mindestens 335 Binnenvertriebene (IDPs), die in UNRWA-Unterkünften untergebracht waren, getötet und mindestens weitere 1.161 verletzt wurden“.
(Vgl. EUAA, COI Query, Palestine, Security situation in the Gaza Strip and impact on the civilian population, 19.02.2024, Bl. 13-14)
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Das Hamasgeführte Gesundheitsministerium gab am 14.06.24 an, dass seit Kriegsbeginn mehr als 37.266 palästinensische Personen im Gazastreifen getötet und 85.102 weitere verwundet worden seien. Das Ministerium unterscheidet offiziell nicht zwischen Kombattanten und Zivilpersonen. Darüber hinaus sind Angaben des israelischen Militärs vom 16.06.24 nach seit Beginn der Bodenoffensive insgesamt 309 Militärangehörige getötet worden. Die Kampfhandlungen im Gazastreifen, einschließlich Luftangriffe durch das israelische Militär, dauern weiterhin an. Auch eingegrenzte Bodenoffensiven finden im gesamten Gazastreifen statt, darunter in Beit Hanoun im Norden, im Süden von Gaza Stadt, im östlichen Deir al-Balah, im nordöstlichen Teil von Khan Younis sowie im östlichen, westlichen und zentralen Rafah. Angaben von UNOCHA vom 14.06.24 zufolge haben die jüngsten militärischen Entwicklungen zu einer weiteren Verschlechterung der Wasserversorgung geführt. Fünf Brunnen in Jabaliya sowie zwei Brunnen, eine Versorgungsleitung einer ägyptischen Entsalzungsanlage und zwei lokale Entsalzungsanlagen, alle in Rafah, wurden zerstört. Schätzungen zufolge sollen in den vergangenen acht Monaten insgesamt etwa 67% der Wasser- und Sanitäreinrichtungen und -infrastruktur zerstört oder beschädigt worden sein. 17 der insgesamt 36 Krankenhäuser im Gazastreifen sind noch teilweise funktionsfähig, obgleich 14 dieser Einrichtungen aufgrund umliegender Zerstörungen und der kritischen Sicherheitslage nur zum Teil zugänglich sind.
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In Rafah, wo die Bodenoffensiven andauern, gibt es kein funktionsfähiges Krankenhaus. Stattdessen betreibt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) dort ein Feldkrankenhaus. Ein weiteres Feldkrankenhaus, betrieben durch die VAE, ist aufgrund der eingeschränkten Zugänglichkeit nur teilweise operabel. In Khan Younis konnte das al-Khair-Krankenhaus teilweise und mit Einschränkungen seine Arbeit wiederaufnehmen. In Nordgaza konnten seit einem teilweisen Abzug israelischer Truppen am 31.05.24 der Zugang zu drei Krankenhäusern wieder eingeschränkt hergestellt werden. Notwendige Evakuierungen von Patientinnen und Patienten aus dem Gazastreifen sind weiterhin nicht möglich.
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Schätzungen der UN zufolge könnten Mitte Juli 2024 mehr als 1 Mio. Palästinenserinnen und Palästinenser unter dem höchsten Level des Hungerns leiden. Am 14.06.24 verkündete das US-Militär den temporären, schwimmenden Hafen aufgrund schlechter Wetterverhältnisse und daraus resultierendem möglichen Schaden vom Festland lösen zu müssen. Die UN hat die Verteilung von Lebensmittelhilfen über die Anlage nach einer temporären Pause zur Neubewertung der Sicherheitslage sowie zur Klärung ethischer Bedenken, nachdem Teile der Einrichtung des Piers in der vergangenen Woche militärisch zur Evakuierung der vier befreiten Geiseln und eines verwundeten Soldaten genutzt worden waren, noch nicht wiederaufgenommen (vgl. BN v. 10.06.24). Am 16.06.24 verkündete das israelische Militär ab sofort tagsüber Kampfpausen auf einer etwa 12 km langen Strecke in Rafah einhalten zu wollen, um die Verteilung von humanitären Hilfslieferungen über den Kerem-Shalom-Grenzübergang zu ermöglichen. Das Militär betonte, dass Operationen in Rafah wie geplant weiterhin stattfinden würden. Zwischen dem 06.05. und 06.06.24 hatte die UN eigenen Angaben zufolge aufgrund der kritischen Sicherheitslage nur Zugang zu durchschnittlich 68 LKWs mit Hilfslieferungen täglich (500 täglich würden benötigt). Angaben der israelischen Behörden zufolge sollen zwischen dem 02.05. und dem 23.06.24 täglich durchschnittlich 201 LKWs in den Gazastreifen eingefahren worden sein. Zahlreiche Hilfslieferungen würden sich allerdings noch immer an den Grenzübergängen stapeln.
(Vgl. Bundesamt, Briefing Notes, Gruppe 62, Informationszentrum Asyl und Migration, 17.06.2024)
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Angesichts dieser aktuellen Situation im Gaza-Streifen geht das Gericht davon aus, dass der Kläger von dem dort herrschenden bewaffneten Konflikt, der zu einer individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der dort lebenden Zivilpersonen führt (vgl. z.B. OVG LSA, B.v. 20.11.2023 – 3 L 82/23.Z-; VG Sigmaringen, U.v. 7.3.2024 – A 5 K 1560/22 –; VG Berlin, U.v. 26.2.2024 – 34 K 5/23 A –; alle juris) sowie der katastrophalen humanitären Situation in besonderer Weise betroffen ist. Es ist hier beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger von menschenunwürdigen Lebensbedingungen betroffen sein wird, weil angesichts der Sicherheitssituation in Gaza die beachtliche Gefahr von (willkürlicher) Gewalt besteht, er angesichts der humanitären Situation nicht seine elementarsten Bedürfnisse wird befriedigen können und er auch keinen ausreichend gesicherten Zugang zu medizinischer Versorgung haben würde. Der Beistand oder Schutz des UNRWA ist für den Kläger angesichts der jetzigen humanitären Situation und der Sicherheitssituation als nicht mehr gewährt anzusehen. Zur Überzeugung der Einzelrichterin kann UNRWA aktuell in Gaza nicht die Grundbedürfnisse der seinem Schutz unterstellten Personen, die es gewährleisten soll (menschenwürdige Lebensbedingungen, Schutz vor Misshandlung und willkürlicher Gewalt, sonstige ernsthafte Schäden), befriedigen. Dies gilt hier besonders für den Kläger, der nach seiner Aussage aus einer Familie stammt, die selbst auf (finanzielle und humanitäre) Hilfe angewiesen war.
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4. Der Kläger unterfällt auch keinem der Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 AsylG, sodass er einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG hat, ohne dass es weiterer Feststellungen zu § 3 Abs. 1 AsylG bedarf.
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5. Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG für den Kläger, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG [„oder“] und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
57
6. Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
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7. Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidungen entfallen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
II.
59
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83 b AsylG).
60
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 VwGO und §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.