Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 04.11.2024 – W 7 K 24.31517
Titel:

Asyl: Keine Ablehnung als "offensichtlich unbegründet", wenn Identität geklärt

Normenkette:
AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3d Abs. 1 Nr. 1, § 30 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 4, § 36 Abs. 1
Leitsätze:
1. Ein Asylantrag kann nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, wenn der Asylbewerber zwar seinen Reisepass vernichtet hat, seine Identität und Staatsangehörigkeit in Anbetracht eines anderen Ausweisdokuments indesgeklärt ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. In der Türkei kann staatlichen Schutz vor Bandenstrukturen erlangt werden; die Türkei verfügt über ein staatsweites Netz an Sicherheitsbehörden, mit dem die allgemeine Kriminalität bekämpft wird. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Diskriminierungen im Alltag, denen kurdische Volkszugehörige in der Türkeiausgesetzt sein können, erreichen nicht das Maß einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, Ablehnung als offensichtlich unbegründet (isolierte Aufhebung), Türkischer Staatsbürger, offensichtlich unbegründet, Türkei, Verfolgung kurdischer Volkszugehöriger, Gruppenverfolgung, Bandengewalt, interner Schutz
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35329

Tenor

I. Der Bescheid vom 13. August 2024 wird insoweit aufgehoben, als der Asylantrag des Klägers in den Ziffern 1 bis 3 nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu 3/4, die Beklagte zu 1/4. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
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Tatbestand

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Der am … … 1993 in A., Türkei, geborene, durch gültigen Personalausweis ausgewiesene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und kurdischer Volkszugehörigkeit. Am 27. Oktober 2023 reiste er ins Bundesgebiet ein und stellte am 27. November 2023 einen Asylantrag.
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1. Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 12. August 2024 gab der Kläger im Wesentlichen an, 2018 habe er die Polizei angerufen, um einen Drogenverkauf in seinem Viertel zu melden. Es seien dann Zivilpolizisten gekommen, die mit den Drogendealern befreundet gewesen seien. Das seien alles Leute, die mit dem Innenminister S. So. bekannt seien. Das habe er zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht gewusst. Er habe den Polizisten gesagt, er sei es, der angerufen habe. Seine Daten seien dann den Dealern weitergegeben worden. Das sei auch im Viertel bekannt geworden. Man habe einen Zorn gegen ihn entwickelt. Etwa einen Monat später seien etwa acht Männer ins Geschäft seines Freundes gekommen, wo er sich gerade aufgehalten habe. Die hätten ihn bedroht. Einer habe eine Waffe gehabt und ein Kind einen Stock. Man habe ihm die Waffe an den Hals gehalten, ihn und seinen Freund aus dem Geschäft gezerrt und zum Fahrzeug gebracht. Er habe sich gewehrt, ins Fahrzeug gesetzt zu werden, sein Freund sei mit dem Stock auf den Kopf geschlagen worden. Er habe es geschafft, aus dem Auto zu kommen. Ihm sei dann ins rechte Bein geschossen worden. Daraufhin sei ein Krankenwagen gerufen und er ins Krankenhaus gebracht worden, wo er ca. drei bis vier Monate verbracht habe. Selbst die Krankenhauspolizei gehöre aber zu der Bande, er habe dort keine Anzeige erstatten können. Ein befreundeter Polizist habe ihm gesagt, er solle besser keine Anzeige erstatten. Dann habe man ihn in Ruhe gelassen. Währenddessen sei die Bande immer mächtiger geworden.
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Im Jahr 2021 sei er dann bei einem Spaziergang von einem Wachtposten angehalten worden, der der Neffe von S. So. sei. Der habe gesagt, es liege eine Anzeige gegen ihn vor, habe ihn mit auf die Wache genommen und ihn beschimpft. Er habe ihn auf die Toilette gezerrt, die nicht kameraüberwacht sei, habe ihn zu Boden geworfen und seinen Kopf gestoßen.
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Im September 2023 sei er mit seinem Neffen im Viertel spazieren gewesen. Der sei noch ein Baby gewesen, er habe ihn auf dem Arm gehabt. Ein Fahrzeug sei vorbeigefahren und habe ihm den Weg blockiert. Die Person habe ihm gesagt, er habe Glück, dass er das Baby dabeihabe, sonst hätte man ihn umgebracht. Man habe ihm die Waffe aufs Nasenbein geschlagen. Die Bande sei zu dieser Zeit immer größer geworden. Angesehene Leute hätten Drogen gekauft. Es habe Auftragsmorde gegeben. Deshalb sei er nach Ay. zu seinem Bruder gegangen. Auch dort hätten sie ihn gefunden. Drei Motorradfahrer hätten ihn im Auto verfolgt. Er sei wieder zurück nach Istanbul. Dort seien in unmittelbarer Umgebung drei Bekannte von ihm umgebracht worden. Die Bande habe überall Leute und ein Kommunikationssystem, mit dem sie Leute ausfindig machen könne. Deshalb sei er nach Deutschland gekommen. Weil er Kurde sei, würden seine Beschwerden in der Türkei nicht ernst genommen. Ihm werde die Möglichkeit genommen, Anzeige zu erstatten. Der Staat sei involviert.
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Er habe bei der Einreise nach Deutschland seinen Reisepass zerrissen und weggeworfen, weil er gehört habe, das sei besser, wenn man nicht zurückgeschickt werden wolle. Zudem teilte er mit, er nehme ein Medikament zur Blutverdünnung wegen eine Verengung der Venen. Seine Familie lebe in der Türkei, seine Freundin in Deutschland. Er habe in der Türkei als Fahrer in der Tourismusbranche gearbeitet. In der Türkei habe er Wehrdienst geleistet.
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2. Mit Bescheid vom 13. August 2024, zugestellt am 17. August 2024, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung in die Republik Türkei oder einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, wurde angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der Klagefrist und im Falle der fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 5). Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angegeben, aus dem Vorbringen sei nicht ansatzweise zu entnehmen, dass der Kläger vorverfolgt sei. Auch bei einer Rückkehr seien keine beachtlichen Gefahren zu befürchten. Jedenfalls einen flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrund könne man aus dem Vortrag zur Bandengewalt nicht entnehmen. Aber auch subsidiärer Schutz folge hieraus nicht. Es sei nicht substantiiert vorgetragen worden, inwieweit die Bande ihn sechs Jahre nach der Anzeige immer noch verfolge. Zudem gebe es staatliche Schutzakteure in der türkischen Polizei und Justiz. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass ihm dieser Schutz verweigert würde, insbesondere sei das nicht wegen seiner kurdischen Identität zu befürchten.
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Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet werde auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 AsylG gestützt. Der Kläger habe nur Umstände vorgebracht, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang seien. Es handele sich um private Bedrohungen, denen schutzbereite türkische Behörden begegnen könnten. Zudem habe der Kläger seinen türkischen Reisepass im Wald zerrissen und weggeschmissen. Er habe zwar seinen Personalausweis vorgelegt. Dies sei aber zwangsweise erfolgt, weil die Polizei diesen beim Aufgriff gefunden habe. Zudem könne eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch bei einem Kläger erfolgen, dessen Identität geklärt sei, der aber dennoch ein Identitäts- oder Reisedokument vernichtet habe. Es gehe um das subjektive Empfinden des Klägers, seine Abschiebung zu erschweren. Die Abschiebungsandrohung folge aus § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG, das Einreise- und Aufenthaltsverbot stütze sich auf § 11 Abs. 1 AufenthG, wobei die Frist von 30 Monaten mangels besonderer Anhaltspunkte festgesetzt worden sei.
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3. Mit Schriftsatz vom 21. August 2024, bei Gericht eingegangen am selben Tag, ließ der Kläger Klage gegen diesen Bescheid erheben und sinngemäß beantragen,
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Aufhebung des Bescheids vom 13. August 2024 als Flüchtling und Asylberechtigten anzuerkennen, ihm hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen oder festzustellen, dass zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote vorliegen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angegeben, die Ablehnung als offensichtlich unbegründet sei rechtswidrig erfolgt. Die Beklagte habe eine rechtliche Bewertung des Vortrags des Klägers vorgenommen. Der Verweis auf die fehlende Substanz der Angaben trage allenfalls die Ablehnung als einfach unbegründet. Man habe sich nicht damit befasst, warum bei einer Rückkehr die Verfolgung offensichtlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Sodann folgt allgemeiner Vortrag dazu, dass türkische Sicherheitskräfte seit 2016 gegen Mitglieder und Unterstützer der PKK, der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front oder der Gülen-Bewegung massiv vorgegangen seien, ohne dass rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt würden. Eine weitere Begründung wurde anwaltlich angekündigt, aber nicht nachgereicht.
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4. Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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5. Mit Beschluss vom 22. August 2024 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit Beschluss vom 4. September 2024 hat der Einzelrichter dem Antrag des Klägers im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes stattgegeben. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren W 7 S 24.31518 sowie auf die beigezogene Behördenakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die überwiegend zulässige Klage, über die der Einzelrichter gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beklagten verhandeln und entscheiden konnte, hat in der Sache überwiegend keinen Erfolg. Die Klage ist begründet, soweit der angegriffene Bescheid vom 13. August 2024 den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ablehnt. In diesem Umfang ist der Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (1.). Im Übrigen, soweit der Antrag inhaltlich als einfach unbegründet abgelehnt wurde, erweist sich der Bescheid als rechtmäßig und verletzt den Kläger in der Folge auch nicht in seinen Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (2.).
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1. Der Einzelrichter hält an seiner Rechtsauffassung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes fest, wonach die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet insgesamt zu Unrecht erfolgte. Auf den Beschluss wird ergänzend verwiesen. Die Abweisung als offensichtlich unbegründet stützte das Bundesamt auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 AsylG.
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Der Kläger ist in der Hauptsache nur bzgl. einer Anfechtung der Ablehnung nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG rechtsschutzbedürftig. Denn allein hieraus resultiert die absolute Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Aus der Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erwachsen in der Hauptsache keine negativen Rechtsfolgen mehr, nachdem die aufschiebende Wirkung der Klage bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes angeordnet worden ist. Denn die in diesem Fall zu setzende Ausreisefrist von einer Woche gemäß § 36 Abs. 1 AsylG wird im Fall einer stattgebenden Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 37 Abs. 2 AsylG kraft Gesetzes auf 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens verlängert und entspricht damit dem Regelfall des § 38 Abs. 1 AsylG. Für eine Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG besteht vor diesem Hintergrund kein Rechtsschutzbedürfnis, die Klage ist insoweit unzulässig.
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Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG liegen allerdings nicht vor, sodass die Klage im tenorierten Umfang Erfolg hat. Denn obwohl der Kläger seinen Reisepass vernichtet hat, sind seine Identität und Staatsangehörigkeit in Anbetracht des vorliegenden Personalausweises geklärt. In einem solchen Fall scheidet die Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG aus. Zur Begründung wird auf das Verfahren W 7 S 24.31518 verwiesen.
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2. Die Ablehnung des Asylantrags erweist sich hingegen als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und macht sich diese zu eigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird von einer nochmaligen vollständigen Darstellung abgesehen (§ 77 Abs. 3 AsylG).
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Die Fluchtgründe, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung geschildert hat, lassen sich in drei Komplexe unterteilen: Die Verfolgung durch eine Bande mit Verbindungen ins türkische Innenministerium seit der Anzeige eines Drogenhandels durch den Kläger im Jahr 2018 (a), die Misshandlung auf einer Polizeidienststelle im Jahr 2021 (b) und Diskriminierungserfahrungen wegen seiner kurdischen Identität (c).
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Die Angaben seiner Bevollmächtigten in der Klageschrift zur PKK, der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front und der Gülen-Bewegung stehen in keinem erkennbaren Zusammenhang zum Vortrag des Klägers, weder im behördlichen noch im gerichtlichen Verfahren. Sie können daher keine Berücksichtigung finden.
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Gründe für die Zuerkennung internationalen Schutzes, eine Asylanerkennung oder ein Abschiebungsverbot (Ziffern 1-4 des Bescheids) ergeben sich aus dem Vortrag des Klägers nicht. Dazu wird ergänzend das Folgende ausgeführt:
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a) Im behördlichen wie gerichtlichen Verfahren hat der Kläger angegeben, seitdem er im Jahr 2018 einen Heroin- und Kokainhandel angezeigt und die Polizei seinen Namen weitergegeben habe, sei er von einer Bande in der Türkei unter Druck gesetzt worden. Diese Bande sei sehr einflussreich, operiere bis heute und habe Kontakte ins Innenministerium. Im Jahr 2023 habe die Bande einen seiner Freunde erschossen. Ihm selbst sei ein Schlag mit einer Pistole auf die Nase versetzt worden, als er mit seinem Neffen unterwegs gewesen sei. Schlimmeres sei nur deshalb nicht geschehen, weil er das Baby dabeigehabt habe. Im Spätsommer 2023 habe er Istanbul verlassen, sei aber von der Bande auch in Ay. ausgemacht worden. Drei Motorradfahrer seien um ihn herumgefahren, als er mit seinem Bruder im Auto unterwegs gewesen sei.
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Der Vortrag zu der massiven Bandengewalt und der Verfolgung ist zur Überzeugung des Einzelrichters bereits nicht glaubhaft. Es erschließt sich nicht, warum der Kläger, der im Jahr 2018 eine Anzeige erstattete, die für die Angezeigten nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung folgenlos blieb, noch fünf Jahre nach dieser Anzeige von Bandenmitgliedern in einer anderen Stadt verfolgt worden sein sollte. Dies gilt auch deshalb, weil der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausführlich geschildert hat, er habe sich in der Zwischenzeit ruhig verhalten und gerade versucht, die Bande nicht auf sich aufmerksam zu machen. Warum er eine Bedeutung erlangt haben sollte, die seine Verfolgung über die Stadtgrenzen Istanbuls hinaus begründete, erschließt sich nicht. Auch die beiläufige Erwähnung in der mündlichen Verhandlung, ein Freund von ihm sei in seinem Beisein in einem Café erschossen worden, ohne dass es dafür einen besonderen Grund gegeben habe, spricht deutlich gegen die Wahrheit dieses Vortrags.
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Jedenfalls kann der Kläger staatlichen Schutz gemäß § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG vor den Bandenstrukturen erlangen. Die Türkei verfügt über ein staatsweites Netz an Sicherheitsbehörden, mit dem die allgemeine Kriminalität bekämpft wird (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2024, S. 4).
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Der damalige Innenminister, S. So. , ist inzwischen nicht mehr im Amt. Zwar mag es sein, dass dieser – wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung betonte – weiterhin ein einflussreicher Mann ist. Ein gewisser Wechsel des Personals im Innenministerium ist allgemein zugänglichen Quellen aber zu entnehmen (z.B. https://www.fr.de/politik/tuerkei-erdogan-solyu-yerlikaya-innenministerium-polizei-gouverneure-austausch-zr-92453574.html). Selbst wenn es in der Vergangenheit Exzesstaten einzelner Amtswalter in der Türkei gegeben haben sollte, erscheint es aus Sicht des Einzelrichters ausgeschlossen, dass eine generelle Verfolgungsunwilligkeit sämtlicher türkischer Sicherheitsbehörden bzgl. der vorgebrachten Drogen- und Gewaltkriminalität besteht (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 20.5.1992 – 2 BvR 205/92 – juris Rn. 28; VGH BW, U.v. 3.11.2011 – A 8 S 1116/11 – juris Rn. 40). Im Übrigen ergibt sich zur Überzeugung des Einzelrichters aus den vorangehenden Ausführungen zur Glaubhaftigkeit des Vortrags zur Bandengewalt – insbesondere aus deren einzigem vorgebrachten Anlass einer einmaligen Anzeige im Jahr 2018 – dass es ausgeschlossen ist, dass der Kläger über mehrere Jahre hinweg von dieser Bande als „Feind“ ausgemacht und verfolgt wurde, sodass eine stattgebende Entscheidung auf dieser Grundlage ausscheidet.
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b) Auch die Schilderung des Klägers, wonach er im Jahr 2021 von einem Cousin des Innenministers, der bei der Polizei arbeite, festgenommen worden und auf der Toilette geschlagen worden sei, führt nicht zur Zuerkennung internationalen Schutzes bzw. zur Asylberechtigung.
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Zwar handelt es sich bei der geschilderten Gewalttat der Polizei (zu Boden geworfen und gegen den Kopf gestoßen) um eine solche, die – ihre Wahrheit unterstellt – womöglich unter § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gefasst werden kann. Es ist aber schon nicht glaubhaft, dass dieser Vorfall sich tatsächlich ereignet hat. Denn der Kläger führt ihn erneut einzig auf den Anlass seiner Anzeige im Jahr 2018 zurück, die damals schon drei Jahre zurücklag, in denen sich der Kläger nach eigenen Angaben ruhig verhalten und keine weiteren Probleme gehabt hatte. Insofern wird auf die Ausführungen unter a) verwiesen.
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Selbst bei Wahrunterstellung dieses Vortrags und unter Heranziehung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 ist aber nicht davon auszugehen, dass dem Kläger bei Rückkehr in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine solche Tat droht. Dass die türkischen Sicherheitsbehörden ihn landesweit gezielt suchen und bei seiner Rückkehr verfolgen würden, ist auf Grundlage der Geschehnisse im Jahr 2021 – die erneut als Exzesstaten, s.o., klassifiziert werden müssten, nicht zu befürchten. Nicht zuletzt hat der Kläger selbst in der mündlichen Verhandlung angegeben, er habe die Türkei ungehindert verlassen können und keine Angst vor staatlicher Verfolgung durch türkische Behörden im Allgemeinen.
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c) Soweit der Kläger eine Benachteiligung als Kurde geltend macht, ist festzuhalten, dass Diskriminierungen im Alltag, denen kurdische Volkszugehörige in der Türkei ausweislich der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausgesetzt sein können, nicht das Maß einer Gruppenverfolgung i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG erreichen (SächsOVG, U.v. 6.3.2024 – 5 A 3/20.A – juris Ls. 1 und Rn. 41 ff. m.w.N.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 20.5.2024, S. 10). Kurdische Volkszugehörige in der Türkei sind zwar mitunter diskriminierendem Verhalten im Alltag ausgesetzt. Daraus folgt derzeit und in überschaubarer Zukunft jedoch keine an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfende gruppengerichtete Verfolgung. Es fehlt insoweit – auch wenn vereinzelt durchaus von schweren Gewalttaten i.S.v. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG berichtet wird – unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Selbst wenn man in der Türkei beobachtete diskriminierende Verhaltensweisen gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG kumuliert betrachtet, ergibt sich daraus nicht, dass jedem kurdischen Volkszugehörigen in der Türkei einzig aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Angaben des Klägers zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal.
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3. Des Weiteren sind auch die Regelungen des Bescheids zur Abschiebungsandrohung und der Ausreisefrist (Ziffer 5 des Bescheids) rechtlich nicht zu beanstanden. Familiäre Bindungen im Bundesgebiet hat der Kläger nach eigenen Angaben nicht. Die Freundin in Deutschland, die er gegenüber dem Bundesamt erwähnt hat, hat er in der mündlichen Verhandlung nicht mehr erwähnt. Ohnehin gehörte sie nicht zum Bereich der Kernfamilie aus Eltern und minderjährigen Kindern, sodass die Beziehung einer Abschiebung nicht entgegenstünde. Die Ausreisefrist wurde infolge des stattgebenden Beschlusses im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 37 Abs. 2 AsylG kraft Gesetzes von der im Bescheid tenorierten Woche auf 30 Tage verlängert, sodass auch insofern keine Bedenken bestehen.
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4. Das in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids angeordnete und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot findet seine Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 AufenthG, ist auch im Übrigen rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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5. Nach alledem erscheint gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine verhältnismäßige Kostenteilung interessengerecht. Die Kosten hat dabei zu 3/4 der Kläger zu tragen, weil er inhaltlich weit überwiegend unterliegt und lediglich die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht trägt. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.