Titel:
Rechtmäßige Ausweisung nach Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1
ARB 1/80 Art. 6, Art. 7
StGB § 63
AEUV Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2
Leitsatz:
Handeltreiben mit Betäubungsmitteln stellt auch nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union eine besonders schwerwiegende Straftat dar (Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV), die wegen ihrer grenzüberschreitenden Dimension eine EU-weit gemeinsame Bekämpfung erfordert. (Rn. 75) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, türkischer Staatsangehöriger, besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Unterbringung, "faktischer Inländer"
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35328
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und damit verbundene Nebenanordnungen.
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1. Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und wurde am … … 1977 in I. Türkei geboren. In Deutschland leben die Mutter des Klägers, die seit dem Jahr 1988 wegen einer Erkrankung nicht mehr berufstätig ist, seine Schwester und die beiden Brüder sowie seine Tochter.
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Am … … 1984 kam der Kläger erstmals mit einer Aufenthaltserlaubnis nach Deutschland. Seine Mutter hatte nach dem Tod des Vaters einen Deutschen geheiratet. In Deutschland erwarb der Kläger den Hauptschulabschluss und begann sodann eine Maurerlehre, die er nach kurzer Zeit abbrach. Danach ging er verschiedenen kurzzeitigen Tätigkeiten nach, die keine Ausbildung voraussetzten.
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Mit Bescheid vom 8. April 1997 (Az. … … …*) wurde er anlässlich diverser Jugendstrafen aus der Bundesrepublik ausgewiesen und nach einem zwischenzeitlich negativ abgeschlossenen Asylverfahren am 6. August 1998 in die Türkei abgeschoben. Später reiste er erneut ins Bundesgebiet ein, wo er am 6. Juli 2001 zunächst in Abschiebehaft genommen wurde, nachdem die vorangegangene Ausweisung nach damaliger Rechtslage unbefristet verfügt worden war. Ein Asyl-Folgeantrag wurde zunächst abgelehnt, nach einem erfolgreichen Klageverfahren wegen PKK-Mitgliedschaft des Klägers vor dem Verwaltungsgericht Würzburg (W 4 K 01.30660) infolge des Urteils vom 4. August 2003 aber mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 24. Oktober 2003 (Az. . … . *) positiv beschieden. Aufgrund des laufenden Verfahrens wurde der Kläger am 24. August 2001 aus der Abschiebehaft entlassen. Im Bundesgebiet lebte er nach seiner Wiedereinreise eigenständig und nicht mehr in der Wohnung seiner Mutter.
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Nach seiner Anerkennung als Asylberechtigter wurde dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis erteilt und fortlaufend verlängert.
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Am … … 2004 heiratete er seine am ... 1980 geborene Ehefrau. Am … … 2005 wurde die gemeinsame Tochter geboren. Die Ehe wurde am … … 2008 geschieden. Mit Beschluss des Amtsgerichts Büdingen – Familiengericht – vom … … 2007 (Az. … ) wurde der Mutter mit Zustimmung des Klägers das alleinige Sorgerecht übertragen. Ausweislich dieses Beschlusses lebten der Kläger und seine Ex-Frau zu diesem Zeitpunkt bereits dauernd voneinander getrennt.
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Der Kläger ging nach seiner Rückkehr ins Bundesgebiet verschiedenen beruflichen Tätigkeiten, oftmals kurzzeitig, nach. In Zwischenzeiten bezog er Sozialleistungen. Einzelheiten lassen sich dem Versicherungsverlauf der Deutschen Rentenversicherung vom 3. Februar 2015 entnehmen. Danach arbeitete er weiterhin für jeweils einige Monate bei verschiedenen Unternehmen. Laut den Feststellungen im Urteil des Landgerichts A. vom … … 2020 war der Kläger ab dem Jahr 2017 arbeitslos, nachdem er zuvor noch eine selbstständige Tätigkeit im Baugewerbe ausgeübt hatte.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 20. Januar 2011 (Az. … . *) wurde die Flüchtlingseigenschaft wegen einer geänderten Situation in der Türkei widerrufen und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Die dagegen gerichtete Klage vor dem Verwaltungsgericht Würzburg (W 5 K 11.30032) wurde mit Urteil vom 21. November 2013 abgewiesen.
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Daraufhin wurden dem Kläger nach einem Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis vom 6. Dezember 2012 zunächst Fiktionsbescheinigungen erteilt. Am 17. März 2017 wurde ihm erneut eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, die § 18 Abs. 3 AufenthG als Rechtsgrundlage zitiert und sodann mehrfach verlängert wurde, zuletzt bis 19. Februar 2022.
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Der Kläger ist im Bundesgebiet wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
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1. Mit Urteil des Amtsgerichts H. vom … … 1995 (Az. . … … **) wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen schweren Raubs zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Dem lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Kläger, gemeinsam mit anderen Personen, Angestellte einer Videothek durch Vorhalten einer Schreckschusspistole zur Herausgabe der Kasse bewegt hatte.
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2. Mit Urteil des Amtsgerichts A. vom … … 1995 (Az. … … … … … …*) wurde der Kläger wegen vier tateinheitlichen Fällen des gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall in Tatmehrheit mit einem versuchten gemeinschaftlichen Diebstahl in einem besonders schweren Fall zu einer Jugendstrafe von acht Monaten verurteilt. Gemeinsam mit anderen hatte er Autoradios aus abgestellten Pkw entwendet.
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3. Mit Urteil des Amtsgerichts H. vom … … 1996 (Az* . … … **) wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt, wobei beide Vorverurteilungen in die Gesamtstrafe einbezogen wurden. Im Wesentlichen lag dem der Diebstahl eines Pkw zugrunde.
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4. Mit Urteil des Amtsgerichts A. vom … … 2002 (Az. . … … …*) wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Im Wesentlichen lag dem zugrunde, dass er im Rahmen einer Streitigkeit einer anderen Person zwei Schläge in das Gesicht versetzt hatte.
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5. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts B. vom … … 2002 (Az. … … …*) wurde der Kläger wegen wiederholten Verstoßes gegen seine Aufenthaltsbeschränkung zu einer Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen verurteilt.
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6. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts B. vom … … 2003 (Az. … … … * **) wurde der Kläger wegen wiederholten Verstoßes gegen seine Aufenthaltsbeschränkung zu einer Geldstrafe in Höhe von 80 Tagessätzen verurteilt.
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7. Mit Urteil des Amtsgerichts A. vom … … 2003 (Az. … … … … …*) wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitstrafe von elf Monaten verurteilt.
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8. Mit Urteil des Amtsgerichts B. vom … … 2003 (Az. … … . … …*) wurde der Kläger wegen Verstößen gegen die räumliche Beschränkung seines Aufenthalts zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
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9. Mit Urteil des Amtsgerichts A. vom … … 2008 (Az* . … … …*), in der Fassung des Berufungsurteils des Landgerichts Aschaffenburg vom 11. Dezember 2008, wurde der Kläger wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Im Wesentlichen lag dem zugrunde, dass er nach erheblichem Alkoholkonsum auf eine andere Person eingeschlagen hatte.
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10. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts A. vom … … 2011 (. … … … … …*) wurde der Kläger wegen Betrugs zu einer Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen verurteilt.
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11. Mit Urteil des Amtsgerichts I. vom … … 2011 (Az. . … … …*) wurde der Kläger wegen Nötigung und Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Er hatte gemeinsam mit einer zweiten Person einen Gastwirt über einen längeren Zeitraum hinweg dazu genötigt, weiter Bier auszuschenken.
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12. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts A. vom … … … (Az. 303 … … … …*) wurde der Kläger wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen verurteilt.
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13. Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft A. vom … … 2019 (Az. … … … … …*) wurde der Kläger wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen verurteilt.
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14. Im Urteil des Landgerichts A. vom … … … (Az. … … … …*) wurde festgehalten, dass der Kläger im Zustand der Schuldunfähigkeit die Taten des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit Bedrohung, in Tatmehrheit mit zwei tatmehrheitlichen Fällen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln, in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung begangen hat. Anstelle einer Strafe wurde wegen gesteigerter Wiederholungsgefahr erheblicher rechtswidriger Taten, insbesondere angesichts fehlender Krankheitseinsicht, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet. Diesbezüglich wird angegeben, der Kläger verweigere regelmäßig die Einnahme der zur Behandlung seiner Erkrankungen notwendigen Medikamente. Daraus folge aggressives Verhalten, bei dem er zur Begehung von Straftaten neige. Diese dienten insbesondere dazu, seinen Betäubungsmittelkonsum zu finanzieren. Konkret wird ihm die Verwirklichung diverser Straftaten im Stadium der Schuldunfähigkeit zu Zeiten einer akuten psychotischen Symptomatik aufgrund einer paranoiden Schizophrenie vorgeworfen: Er habe größere Mengen Amphetamin – zuletzt ca. 50 Gramm alle zwei Tage – angekauft und teilweise weiterverkauft. In seiner Wohnung habe er einen umfangreichen Handel mit Betäubungsmitteln, insbesondere mit Amphetamin und Marihuana, betrieben. Allein bei Auswertung seines Mobiltelefons seien zwölf Abnehmer festgestellt worden. Außerdem sei er mit einem Messer auf Polizisten zugegangen und habe im Bezirkskrankenhaus einen Mitpatienten geschlagen. Maßgeblich für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anstelle einer Entziehungsanstalt sei für das Gericht gewesen, dass nach Einschätzung des befragten Sachverständigen die Behandlung der Suchterkrankung ohne Behandlung der schizophrenen Grunderkrankung keine Erfolgsaussichten habe.
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Nach seiner Rückkehr ins Bundesgebiet wurde vom … …i 2004 bis … … 2004 gegen den Kläger wegen nicht bezahlter Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt. Erneut befand er sich vom … … 2005 bis … … 2005 sowie vom … … 2009 bis … … 2010 in Haft.
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Während verschiedener Zeiträume befand sich der Kläger in stationärer psychiatrischer Behandlung im Bezirkskrankenhaus: Vom 15. Januar bis 26. Januar 2018 begab er sich freiwillig wegen akuter psychotischer Symptomatik in Behandlung. Vom 27. November bis 13. Dezember 2018 wurde er von der Polizei zwangsweise wegen aggressiven Verhaltens in die Einrichtung gebracht. Vom 5. Februar bis 4. April 2019 wurde er erneut unter der Diagnose paranoide Schizophrenie zwangsweise nach dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz untergebracht. Vom 3. September bis 19. September 2019 und vom 2. Oktober bis 11. Oktober 2019 wurden weitere Unterbringungen nach dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz veranlasst. Am 19. September 2019 kehrte er nicht mehr von seinem Ausgang zurück, am 2. Oktober kam er allerdings freiwillig auf Station zurück und wurde am 11. Oktober 2019 entlassen. Schließlich war er vom 12. April bis 16. April 2020 untergebracht. Dem war ein Polizeieinsatz wegen Ruhestörung vorausgegangen, bei dem Betäubungsmittel beim Kläger gefunden wurden. Danach erfolgte die Unterbringung im Zusammenhang mit dem Strafverfahren, das zum Urteil des L. A. vom … … 2020 führte, zunächst nach Maßgabe eines Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts As. vom … … 2020 (Az. … … …*) nach § 126a StGB, später anlässlich des Urteils im Maßregelvollzug nach § 63 StGB.
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Aus einer Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses vom 13. September 2022 und den vorangegangenen Stellungnahmen vom 10. März 2021 und vom 20. September 2021 ergibt sich das Folgende: Der Kläger konsumiere seit seinem 15. Lebensjahr Drogen, die Menge habe sich immer mehr gesteigert. Zuletzt habe er regelmäßig, wohl täglich, Amphetamine und Cannabis konsumiert. Alkohol trinke er selten. Im Berichtszeitraum von Oktober 2020 bis Oktober 2021 wird von einem überwiegend angepassten Kläger berichtet, der sich vermehrt zurückgezogen habe. Es sei zu verbalen Auseinandersetzungen gekommen, der Kläger habe sich aber anschließend beruhigt. Teilweise sei der Kläger einsichtig bzgl. wahnhafter Denkinhalte gewesen. Diesbezüglich wird insbesondere darauf hingewiesen, der Kläger höre nicht vorhandene Stimmen und gehe wahnhaft davon aus, er habe in der Vergangenheit im Lotto gewonnen. Der Kläger habe geäußert, seine Medikamente nach der Entlassung absetzen zu wollen in der Hoffnung, dass die akustischen Halluzinationen nicht mehr auftreten würden. In dieser Meinung wirke er gefestigt. Im Berichtszeitraum Oktober 2021 bis September 2022 sei es zu keinen weiteren Verstößen gegen die Stationsordnung gekommen. Der Kläger habe sich bei impulsiven Äußerungen selbstständig kontrollieren können. Einmalig sei er erst auf Aufforderung zur Medikation gekommen. Er nehme an verschiedenen Therapieangeboten gewissenhaft teil und werde immer offener in Bezug auf die Diagnose einer Schizophrenie. Den Wunsch, die Medikamente abzusetzen, habe er weiterhin. Er erhalte familiäre Unterstützung und regelmäßige Besuche. Die Fortdauer der Maßregel wurde befürwortet, insbesondere auch, weil eine passende Zukunftsperspektive und -planung noch fehle. Die Diagnose lautet: Paranoide Schizophrenie (ICD-10 F20.0), Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide, Abhängigkeitssyndrom (F12.2), Psychische und Verhaltensstörungen durch andere Stimulanzien, einschließlich Koffein, Abhängigkeitssyndrom (F15.2).
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Die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde sodann mehrfach angeordnet. Beschlüsse des Landgerichts W. (Strafvollstreckungskammer) hierzu ergingen am … … 2021, am … … 2022 und zuletzt am … … 2023 (Az. jeweils . …*). Der nächste Prüfungstermin wird am 6. Dezember 2024 stattfinden. Im letzten Beschluss vom 7. Dezember 2023 wurde insbesondere angegeben, eine positive Gefährlichkeitsprognose bestehe fort. Es bestehe weiterhin die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger außerhalb des Maßregelvollzugs im Zustand mindestens erheblich verminderter Schuldfähigkeit erhebliche, einschlägige rechtswidrige Taten begehen werde, durch die die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden könnten. Insbesondere wird auf die paranoide Schizophrenie des Klägers hingewiesen, der sich unter den Bedingungen des Maßregelvollzugs angepasst verhalte, was nach einer Entlassung nicht mehr gesichert sei. Diese Bewertung stützt sich im Wesentlichen auf ein zwischenzeitlich erstelltes forensisch-psychiatrisches Gutachten vom 12. August 2023. Der Beschluss weist darauf hin, dass sich der Kläger in der Lockerungsstufe C2 befinde und demnächst über die beantragte Stufe C3 entschieden werde.
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Mit E-Mail des Bezirkskrankenhauses vom 7. Juni 2024 wurde mitgeteilt, dass der Kläger ein Arbeitsverhältnis bei einer Firma im Bereich Glasfaserinstallation in A. mit einem Stundenumfang von 32 Stunden aufgenommen habe.
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2. Mit Schreiben vom 16. Februar 2021 wurde dem Kläger mitgeteilt, dass die Beklagte seine Ausweisung beabsichtige. Mit Schreiben vom 12. März 2021 ließ er insbesondere auf seine familiären Bindungen im Bundesgebiet und seine Schuldunfähigkeit bzgl. der ausweisungsauslösenden Straftaten sowie die Therapiewilligkeit hinweisen. Der Kläger nahm mit Schreiben vom 6. März 2021 auch persönlich Stellung und wies im Wesentlichen darauf hin, er wolle nach Behandlung seiner Erkrankung ein vernünftiges Leben bestreiten. Er habe in der Klinik erkannt, dass die Therapie zielführend sei und nicht unterbrochen werden dürfe. Die Ausweisung würde das bisher Erreichte zerstören. Er bitte um Aufhebung der Ausweisung, um so die vom Gericht angeordnete Therapie vollumfänglich anzuerkennen.
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3. Mit Bescheid vom 25. März 2021, dem Kläger am 31. März 2021 zugestellt, wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von sieben Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt seiner Ausreise bzw. Abschiebung, verhängt. Die siebenjährige Frist wurde unter die Bedingung gestellt, dass der Kläger zum Ablaufzeitpunkt durch Vorlage eines stichhaltigen Nachweises belegt, dass er in der Zwischenzeit nicht mehr straffällig geworden ist und seine Drogenabhängigkeit überwunden hat. Anderenfalls wurde eine Fristdauer von zehn Jahren angeordnet (Ziffer 2). Der Kläger wurde aufgefordert, seine Aufenthaltserlaubnis (Nr. …*) unverzüglich an die Ausländerbehörde herauszugeben (Ziffer 3). Es wurde für den Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit des Bescheids die Abschiebung aus dem Maßregelvollzug in die Türkei oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf bzw. der zu seiner Übernahme verpflichtet ist (Ziffer 4). Sollte diese während des Maßregelvollzugs nicht möglich sein, wurde der Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet binnen sieben Tagen nach seiner Entlassung zu verlassen. Anderenfalls wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 5). Es wurde auf die Kostenfreiheit des Bescheids und die Pflicht des Klägers hingewiesen, die Kosten einer Abschiebung zu tragen (Ziffer 6).
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In den Gründen wurde insbesondere ausgeführt, Rechtsgrundlage für die Ausweisung sei § 53 Abs. 1 AufenthG. Der Kläger habe mit den Taten, die zum Urteil vom 11. September 2020 führten, ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG verwirklicht. Dafür sei die Frage nach der Schuldfähigkeit unerheblich. Aus der Beziehung zu seiner Tochter folge kein Bleibeinteresse. Denn die familiäre Lebensgemeinschaft bestehe nicht mehr, das letzte Treffen liege acht Jahre zurück und die Mutter besitze das alleinige Sorgerecht. Auch § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG komme nicht in Betracht. Denn bei seiner Wiedereinreise im Jahr 2001 sei der Kläger volljährig gewesen. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG sei hingegen einschlägig. Der Kläger besitze eine Aufenthaltserlaubnis und habe sich mindestens fünf Jahre im Bundesgebiet aufgehalten.
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Besonderer Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG komme nicht in Betracht. Der Kläger habe kein Recht aus Art. 6 ARB 1/80 erworben. Keines seiner Beschäftigungsverhältnisse habe mindestens ein Jahr lang ununterbrochen beim selben Arbeitgeber bestanden. Auch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 von seiner Mutter oder seiner Ex-Frau komme nicht in Betracht. Mit der Mutter habe er nach seiner Wiedereinreise 2001 nicht mehr zusammengelebt, die Lebensgemeinschaft mit seiner Ex-Frau habe nach weniger als drei Jahren wieder geendet. Vorherige ARB-Berechtigungen seien infolge der Abschiebung erloschen.
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Die Ausweisung erfolge im Rahmen einer Gesamtabwägung aus spezialpräventiven Gründen. Es bestehe eine erhebliche Wiederholungsgefahr bzgl. Straftaten im Bereich der Körperverletzung und der Betäubungsmittelkriminalität. Dies ergebe sich aus dem vergangenen Verhalten des Klägers, das sich weder durch strafrechtliche noch durch aufenthaltsrechtliche Sanktionen, insbesondere die frühere Abschiebung, geändert habe. Er habe eine immens hohe Rückfallgeschwindigkeit an den Tag gelegt und insbesondere kurz nach seiner Wiedereinreise erneut ein Körperverletzungsdelikt begangen. Das zuletzt abgeurteilte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zähle zu dem in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV ausgewiesenen Bereich besonders schwerer Kriminalität. In einem solchen Fall liefere bereits eine entfernte Wiederholungsgefahr einen tauglichen Ausweisungsanlass. Der Kläger habe in erheblichem Umfang, zwar unterhalb der Grenze der nicht geringen Menge, dafür aber in schneller zeitlicher Abfolge, ein Betäubungsmittel mit mittlerer Gefährlichkeit an eine Vielzahl von Abnehmern veräußert und damit deren Gesundheit gefährdet. Sein aktuelles Problembewusstsein sei unter den geschützten Bedingungen des Maßregelvollzugs wenig aussagekräftig. Die fehlende abgeschlossene Berufsausbildung und die lückenhafte Erwerbsbiographie seien bei der Prognose der Wiederholungsgefahr negativ zu berücksichtigen. Negativ sei außerdem einzustellen, dass der Kläger aufgrund fehlenden Kontakts zu seinen Familienangehörigen keinen sozialen Empfangsraum vorweisen könne. Sollte er sein Abhängigkeitssyndrom und seine psychische Erkrankung nicht überwinden, seien weitere erhebliche Taten zu erwarten. Eine erfolgreich absolvierte Therapie sei nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zwingende Voraussetzung für ein Entfallen der Wiederholungsgefahr. Diese habe der Kläger nicht absolviert. Der Kläger habe auch keinen Anspruch darauf, mit einer Entscheidung bis zum Therapieende abzuwarten. Auch die Schuldunfähigkeit des Klägers sei aus Sicht des Gefahrenabwehrrechts unerheblich. Selbst die Beendigung der Maßregel würde nicht jede vom Kläger ausgehende Gefahr beseitigen, die ausländerrechtliche Bewertung erfolge unabhängig von der strafrechtlichen Gefahrenprognose. Zusammenfassend folge die negative Gefahrenprognose aus dem langjährigen massiven Fehlverhalten des Klägers, seiner Gesamtpersönlichkeit, seiner charakterlichen Mängel und seiner defizitären Persönlichkeitsstruktur. Auf dieser Grundlage seien weitere besonders schwerwiegende Straftaten zu erwarten.
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Die Ausweisung werde aber auch von generalpräventiven Erwägungen getragen. Anderen Ausländern solle vor Augen geführt werden, dass ein Verhalten wie dasjenige des Klägers nicht geduldet werde. Solche Entscheidungen entsprächen der ständigen Verwaltungspraxis und stünden somit im Einklang mit dem Gleichheitssatz.
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Demgegenüber werde als Bleibeinteresse gewürdigt, dass der Kläger erstmals im Alter von sechs Jahren nach Deutschland eingereist sei, hier bis zu seiner Abschiebung im Jahr 1998 seine Kindheit und Jugend verbracht habe und sich seit 2001 wieder im Bundesgebiet aufhalte. Ein faktischer Inländer sei der Kläger aber nicht. Er habe sich nicht in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert. Der Rechtsordnung messe er keinerlei Bedeutung bei. Zwar habe er einen Hauptschulabschluss erworben, sich wirtschaftlich aber nicht integriert. Seine Ausbildung habe er nach kurzer Zeit abgebrochen, die Erwerbsbiografie danach zeige zahlreiche Brüche. Tätigkeiten habe er meist nach wenigen Wochen wieder beendet. Unter Heranziehung des Rechts auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK und Art. 6 GG sei die Bindung des Klägers zu seiner Tochter zwar prinzipiell zu berücksichtigen. Mit dieser bestehe aber seit Jahren kein Kontakt mehr, sodass der Eingriff gerechtfertigt sei. Zudem sei seine Ehe seit vielen Jahren geschieden. Seine Mutter und die Geschwister betreffend könne der Kläger keinen Schutz durch Grundgesetz oder EMRK beanspruchen, da diese nicht auf ihn angewiesen seien und kein regelmäßiger Kontakt bestehe. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit sei zu beachten, dass der EGMR bei Menschen, die mit Drogen gehandelt hätten, stets befunden habe, eine harte und strenge Reaktion des Staates sei gerechtfertigt. Das Bleibeinteresse des Klägers müsse hinter den öffentlichen Interessen zurückstehen. Die Entscheidung sei allein Konsequenz seines persönlichen, wiederholt kriminellen Verhaltens. Die einschneidenden Konsequenzen seien nicht von der Hand zu weisen, aber im Rahmen einer Güterabwägung zur Gefahrenabwehr erforderlich und zumutbar. Eine Rückkehr in die Türkei sei dem Kläger zumutbar. Er sei in einer türkischen Familie aufgewachsen, spreche die Sprache und sei mit der Kultur vertraut. Er werde sich in der Türkei einleben und zurechtfinden können. Zu seinen Familienangehörigen in Deutschland könne er mittels moderner Kommunikationsmittel Kontakt halten.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 2 habe seine Rechtsgrundlage in § 11 AufenthG, die Befristung erfolge nach Abs. 2, Abs. 3. Es handele sich um eine Ermessensentscheidung. Zur Bestimmung der Fristlänge sei die bestehende Wiederholungsgefahr des illegalen Handels mit Betäubungsmitteln, die eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung begründe, zu beachten. Diese Gefahr rechtfertige eine Frist von mehr als fünf Jahren. Im Hinblick auf die kriminelle Energie des Klägers und die erheblich wahrscheinliche Wiederholungsgefahr würde eine zeitnahe Befristung den Ausweisungszweck gefährden. Die Bemessung auf zehn Jahre sei daher prinzipiell geeignet und erforderlich. Angesichts der persönlichen Bindungen im Bundesgebiet und des langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers werde in einer Gesamtabwägung eine Frist von sieben Jahren für gerechtfertigt erachtet, die an die Überwindung der Betäubungsmittelabhängigkeit und die weitere Straffreiheit geknüpft werde. Der Nachweis sei durch ein aktuelles negatives Drogenscreening, eine entsprechende ärztliche Bescheinigung des Vertrauensarztes der deutschen Auslandsvertretung sowie die Vorlage eines entsprechenden Führungszeugnisses bzw. Auszugs aus dem Strafregister zu führen. Anderenfalls erfolge eine Befristung auf zehn Jahre.
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Die Pflicht zur Herausgabe des Aufenthaltstitels folge aus § 48 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Die Aufenthaltserlaubnis erlösche nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG mit Bekanntgabe des Bescheids, auf dessen Unanfechtbarkeit es nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht ankomme. Die Herausgabe werde zur Verhinderung einer Missbrauchsgefahr nach Abwägung mit dem privaten Interesse des Klägers angeordnet.
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Die Überwachung der Ausreise sei nach § 58 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich. Die „Abschiebungsanordnung“ könne ungeachtet etwaiger Abschiebungshindernisse ergehen, ohne dass dies gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zwangsläufig zur Rechtswidrigkeit führe. Sie stütze sich auf § 59 Abs. 2 AufenthG mit der Türkei als Zielstaat, nachdem der Kläger türkischer Staatsbürger sei.
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Dagegen ließ der Kläger mit Schriftsatz vom 30. April 2021 Klage erheben und beantragt zuletzt,
den Bescheid vom 25. März 2021, in der Fassung vom 18. November 2024, aufzuheben.
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Zur Klagebegründung trägt er insbesondere vor, zwar möge formaljuristisch vieles für den Bescheid sprechen. Der Kläger sei aber in erster Linie ein kranker und leidender Mensch, der sehr um die Ursachenbekämpfung bemüht sei. Voreintragungen gebe es zwar. Auch hierfür sei aber die Erkrankung des Klägers ursächlich. Es sei fairerweise davon auszugehen, dass der Kläger bereits bei früheren Straftaten schuldunfähig gewesen sei. Dass die paranoide Schizophrenie schon im Jahr 2018 vorgelegen habe, ergebe sich auch aus der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses vom 20. September 2021. Der Kläger sei krankheitsbedingt weder schuldeinsichtig noch steuerungsfähig gewesen. Deshalb sei der Fall nicht mit Sachverhalten vergleichbar, in denen bei voller Schuldfähigkeit jahrelang Straftaten begangen werden. Nicht eine kriminelle Gesinnung oder eine Missachtung der Rechtsordnung, sondern die Krankheit habe zu den Straftaten geführt. Bzgl. des Zugehens mit einem Messer auf Polizisten sei zu sehen, dass die wesentliche Gefährlichkeit für den Kläger selbst bestanden habe. Die Polizeibeamten hätten über Schusswaffen verfügt. Der Kläger, der die Situation zunächst falsch eingeschätzt habe, sei der Aufforderung der Polizei, sich auf den Boden zu legen, auch unmittelbar nachgekommen. Die falsche Einschätzung der Situation sei daraus gefolgt, dass beim Kläger krankheitsbedingt gewisse Akzentuierungen bei der Wahrnehmung bestünden. In dem Wohnobjekt habe es früher auch regelmäßig Straftaten gegeben, sodass die Gefahreneinschätzung des Klägers nicht vollkommen ferngelegen habe. Der Handel mit Betäubungsmitteln sei ebenfalls nicht auf eine rechtsfeindliche Gesinnung, sondern auf die Sucht des Klägers zurückzuführen.
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Dass der Kläger leide und Abhilfe schaffen wolle, habe der Klägerbevollmächtigte, der den Kläger bereits im letzten Strafverfahren vertreten habe, schnell feststellen können. Deshalb sei eine Betreuung installiert worden. Der Kläger habe mit der Betreuerin schon vor der Unterbringung zusammengearbeitet und tue dies weiterhin. Er sei im Strafverfahren von Anfang an bereit gewesen, im Rahmen des Maßregelvollzugs eine Therapie zu absolvieren. Weil das Landgericht die Unterbringung nach § 63 StGB – wegen eines Schwerpunkts auf der psychischen Erkrankung – und nicht zur Suchttherapie nach § 64 StGB angeordnet habe, sei ein im Ergebnis erfolgloses Revisionsverfahren eingeleitet worden. Der Kläger habe dennoch die ganze Zeit im Bezirkskrankenhaus bei der Therapie mitgearbeitet, es seien bereits deutliche Fortschritte zu verzeichnen. Seine Behandlungsbedürftigkeit sehe er ein, was bei vielen Patienten des Maßregelvollzugs eher eine Seltenheit sein dürfe. Dass mit seinem Einverständnis eine regelmäßige Depot-Medikamentierung erfolge, sei als Seltenheit einzustufen. Obwohl ihm bewusst sei, dass es ein Recht auf Krankheit gebe, lasse er sich die Depotspritze regelmäßig setzen. Es sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beanstanden, dass er offensichtlich den Therapeuten gegenüber in Aussicht gestellt habe, dies nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug zu überdenken. Der Kläger dürfe davon ausgehen, dass er erst nach seiner Heilung entlassen werde. Darüber, ob diese Heilung dann tatsächlich eintreten werde, könne derzeit nur spekuliert werden. Aktuell jedenfalls akzeptiere der Kläger die Medikamente, die ihre gewünschte Wirkung zeigten, und wirke an der Therapie mit. Nach einer Entlassung sei die Medikamenteinnahme jedenfalls durch Auflagen und Weisungen gesichert. Der Kläger habe im Bezirkskrankenhaus außerdem das Rauchen aufgegeben. Die Stabilisierung und Remission der Erkrankung habe sich fortgesetzt, das Ziel des Klägers, drogenfrei zu leben, sei absolut realistisch. Vom 3. bis 4. Juni 2023 sei der Kläger auch erstmals erfolgreich beurlaubt worden, darauf seien mehrere Besuchswochenenden bei der Familie in A. gefolgt, die absolut beanstandungsfrei abgelaufen seien. Es sei demnächst mit einer ganz wesentlichen Lockerung zu rechnen. Den Bescheid zu bestätigen bedeutete, eine kranke Person abschieben zu lassen, die möglicherweise in der Türkei nicht adäquat behandelt werden könne. Die Schuldunfähigkeit sei das ganz entscheidende, sogar entscheidungserhebliche Argument dafür, den Bescheid aufzuheben. Maßgeblich sei auch, dass die Beklagte im Verfahren ihren Vortrag durchgehend wiederholt habe, ohne sich argumentativ mit der positiven Entwicklung zu befassen. Darin zeige sich, dass ein Ermessensgebrauch gar nicht beabsichtigt gewesen sei und eine pauschale Ablehnung ausgesprochen werden sollte.
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Das Verhältnis zur Familie habe sich grundlegend geändert. Die Familie insgesamt stehe hinter dem Kläger und seinen Therapiebemühungen. Es gebe nun eine erhebliche familiäre Unterstützung für den Kläger und regelmäßige Besuche. Auch nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug könne der Kläger nun auf seine Familie bauen. Sämtliche Familienmitglieder des Klägers lebten in Deutschland bzw. im Großraum Aschaffenburg. Dies gelte für die drei Geschwister und deren Familien und für die Mutter des Klägers. In der Türkei gebe es keine Familienangehörigen mehr. In der Familie werde in erster Linie und ausschließlich Deutsch gesprochen. Der Kläger habe nur rudimentäre Kenntnisse des Türkischen bzw. Kurdischen. Denn er sei in Deutschland groß geworden. Zu seiner Tochter habe er wieder Kontakt aufgenommen, der im Rahmen seiner Erkrankung leider vorübergehend abgebrochen sei. Der Kläger habe betroffen zur Kenntnis genommen, dass seine Tochter ihren Vornamen habe ändern müssen, weil der kurdische Vorname von der Türkei nicht länger akzeptiert worden sei. Die ganze Familie habe aufgrund ihrer kurdischen Identität Probleme in der Türkei und dort Schikanen zu erwarten. Für den behandlungsbedürftigen Kläger wäre es eine Katastrophe, in die Türkei abgeschoben zu werden. Die Tochter lebe nun wieder bei der Familie des Klägers und habe intensiven Kontakt zum Kläger selbst gehabt.
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Im Unterschied zum Maßregelvollzug nach § 64 StGB werde der Kläger im Fall des § 63 StGB erst dann entlassen, wenn keine Risiken in seiner Person mehr vorliegen, es gebe keine Höchstfrist. In solchen Fällen gebe es auch im Anschluss Auflagen und Weisungen, die streng eingehalten werden. Er werde außerdem unter Führungsaufsicht stehen. Dies werde ein Risiko der Gefährdung Dritter zwar nicht gänzlich ausschließen, aber doch minimieren. Es sei davon auszugehen, dass der krankheitseinsichtige und zur Medikamenteneinnahme bereite Kläger nicht mehr in alte Störungsmuster verfallen werde. Der Kläger sei kein „gewöhnlicher“ Straftäter, sondern eine kranke Person, die Hilfe benötige, sich diese aber auch gewähren lasse. Auch dass er in Zukunft seinen Lebensunterhalt werde bestreiten können, sei zu erwarten. Der Kläger arbeite mittlerweile vollschichtig. Insgesamt sei zu erwarten, dass der Kläger sich durch das Strafverfahren und die Unterbringung dermaßen beeindrucken lasse, dass zukünftig keine Straftaten mehr geschehen werden. Dies gelte vor allem angesichts der Kontrollmaßnahmen des Maßregelvollzugs für die Zeit nach Haftentlassung. Der Bescheid sei daher rechtsfehlerhaft und verletze den Kläger in seinen Rechten.
45
Die Beklagte beantragt,
46
Zur Begründung trägt sie insbesondere vor, der Kläger habe eine Drogentherapie nicht erfolgreich abgeschlossen. Deshalb sei von einer fortbestehenden Wiederholungsgefahr auszugehen. Die Erfolgschancen einer Therapie lägen im Allgemeinen deutlich unter 50%. Eine fortbestehende Rückfallgefahr ergebe sich auch aus der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses. Dass der Kläger hinsichtlich der psychotischen Symptomatik Fortschritte mache, sei erfreulich, derzeit sei die Medikation offenbar aber nur durch die Unterbringung gesichert. Die Erarbeitung einer Rückfallprävention sei noch nicht ausreichend erfolgt. Die Begehung weiterer erheblicher einschlägiger Straftaten im Zustand mindestens erheblich verminderter Schuldfähigkeit durch den Kläger sei nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug weiterhin zu befürchten. Er sei trotz der Therapiefortschritte weiterhin für die Allgemeinheit gefährlich. Dies ergebe sich auch aus dem letzten Beschluss des Landgerichts W. zur fortgesetzten Unterbringung vom … … 2023 und dem diesem Beschluss zugrundeliegenden Sachverständigengutachten vom 12. August 2023. Insbesondere die schwankende Krankheitseinsicht und Medikamentencompliance seien negativ zu berücksichtigten. Auch angesichts der nun stärkeren familiären Unterstützung und der Besuche sei weiterhin von einem überwiegenden Interesse an der Aufenthaltsbeendigung auszugehen.
47
Mit Beschluss vom 7. Juni 2023 wurde das Ruhen des Verfahrens auf Antrag der Beteiligten angeordnet, um die Erstellung eines Sachverständigengutachtens im Rahmen der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abzuwarten. Nach der Vorlage dieses forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 12. August 2023 wurde das Verfahren fortgesetzt.
48
In der mündlichen Verhandlung am 18. November 2024 hat der Beklagtenvertreter ausgeführt, angesichts der zwischenzeitlichen positiven Entwicklungen seit Bescheiderlass, insbesondere bei der familiären Bindung und der Erwerbstätigkeit, werde das Einreise- und Aufenthaltsverbot aus dem streitgegenständlichen Bescheid auf vier Jahre, für den Fall zwischenzeitlich nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit des Klägers, sonst auf sechs Jahre reduziert.
49
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte und insbesondere auf das Gutachten vom 12. August 2023 sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 18. November 2024 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
50
Die zulässige Klage ist unbegründet.
51
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 25. März 2021, in seiner letzten Fassung nach Änderung von Ziffer 2 in der mündlichen Verhandlung am 18. November 2024, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
52
Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hier der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 16).
53
1. Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Insbesondere wurde der Kläger vor Bescheiderlass mit Schreiben vom 16. Februar 2021 ordnungsgemäß angehört. Er hat sich bereits im Verwaltungsverfahren ausführlich zur Sache geäußert.
54
2. Die Ausweisungsverfügung (Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids) ist auch materiell rechtmäßig. Zur Begründung wird zunächst auf die Gründe des angefochtenen Bescheids verwiesen, denen sich das Gericht anschließt, § 117 Abs. 5 VwGO. Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
55
a) Für den Kläger gilt kein tatbestandlich erhöhter Schutz vor Ausweisungen. Die Ausweisung richtet sich vielmehr nach der Grundnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG. Insbesondere kommt eine Anwendung von § 53 Abs. 3 AufenthG nicht in Betracht. Denn dem Kläger steht kein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei zu. Der Kläger kann von seiner Mutter kein Recht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ableiten. Eine in seiner Kindheit erworbene entsprechende Rechtsposition ist infolge der Abschiebung im Jahr 1998 erloschen (vgl. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80). Nach seiner Wiedereinreise als Volljähriger lebte er nicht mehr mit seiner Mutter zusammen. Auch von seiner Ex-Frau kann er eine solche Rechtsstellung nicht ableiten. Denn die Lebensgemeinschaft bestand ausweislich des Beschlusses des Amtsgerichts B. – Familiengericht – vom … … 2007 (Az. … . **) kürzer als die von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 geforderten drei Jahre. Eine Rechtsposition nach Art. 6 ARB 1/80 durch eigene Berufstätigkeit des Klägers – sollte sie angesichts der häufig wechselnden Arbeitgeber in kurzzeitigen Beschäftigungsverhältnissen überhaupt entstanden sein – ist spätestens infolge der Unterbringung im Bezirkskrankenhaus zur psychiatrischen Behandlung ab dem Jahr 2018 erloschen. Denn anlässlich der dortigen – später auch zwangsweisen – Unterbringung, während derer er keinem regulären Beschäftigungsverhältnis mehr nachgehen konnte, ist der Kläger aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgeschieden. Den Zeitraum, der angemessen ist, um nach einer vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden (vgl. m.w.N. VG Hannover, B.v. 29.11.2023 – 5 A 6258/21 – juris Rn. 46), hat der Kläger überschritten, indem er sich bis zur Unterbringung infolge des Urteils des Landgerichts A. … … … 2020 bereits seit Januar 2018 regelmäßig im Bezirkskrankenhaus aufhielt, keiner regulären Beschäftigung mehr nachging und eine Wiederaufnahme angesichts der erheblichen psychischen Probleme in absehbarer Zeit auch nicht mehr zu erwarten war. Dass der Kläger nun seit dem 7. Juni 2024 wieder berufstätig ist, führt nicht zur Neuentstehung einer assoziationsrechtlichen Position. Dies gilt zum einen angesichts der kurzen Zeitdauer, zum anderen lässt eine Beschäftigung infolge bestrittenen Aufenthaltsrechts, hier während des Klageverfahrens, die Entstehung einer solchen Rechtsposition nicht zu (Kurzidem in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2024, Art. 6 EWG-Türkei Rn. 18).
56
b) Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage damit in § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise (sog. Ausweisungsinteressen) mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet (sog. Bleibeinteressen) ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Dabei steht der Behörde weder hinsichtlich der Gefahrenprognose noch hinsichtlich der Abwägung ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum zu. Ob sie diese Tatbestandsvoraussetzungen zu Recht angenommen hat, muss das Gericht vielmehr anhand einer eigenständigen Gefahrenprognose sowie einer Abwägung der Ausweisungs- und der Bleibeinteressen im Einzelfall, bezogen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der gerichtlichen Entscheidung, überprüfen (vgl. BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 16; U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8). Liegen danach die gesetzlichen Voraussetzungen vor, so ergibt sich die Ausweisung als gebundene Rechtsfolge.
57
Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Bei diesem Kriterienkatalog hat sich der Gesetzgeber an den Maßstäben orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als maßgeblich ansieht. Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht als abschließend zu verstehen (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 13; BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 12.16 – juris Rn. 15; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 20 ff.).
58
Die Beklagte geht zu Recht davon aus, dass der Aufenthalt des Klägers zu einer Gefahr i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG führt.
59
aa) Insbesondere hat der Kläger das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht, indem bei seiner letzten rechtskräftigen Verurteilung die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet worden ist.
60
Mit Urteil des Landgerichts A. vom … … 2020 (Az. … … … …*) wurde die Unterbringung nach § 63 StGB angeordnet, nachdem der Kläger im Zustand der Schuldunfähigkeit diverse Betäubungsmittelstraftaten, insbesondere Handeltreiben in insgesamt acht Fällen, sowie eine Bedrohung und eine Körperverletzung begangen hatte. Mit der expliziten Aufnahme von § 63 StGB in § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG durch das Rückführungsverbesserungsgesetz im Jahr 2024 bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die strafgerichtliche Unterbringungsentscheidung in solchen Fällen an die Feststellung einer erheblichen Wiederholungsgefahr anknüpft und transportiert diese Wertung des § 63 StGB auf die Ebene des Ausweisungsrechts (vgl. Fleuß in BeckOK AufenthaltsR, Stand: 1.7.2024, § 54 AufenthG, Rn. 24a).
61
Daneben treten vier weitere aus dem Bundeszentralregister ersichtliche Straftaten, die unter § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründen, indem sie mit Freiheitsstrafen von jeweils mindestens sechs Monaten geahndet wurden.
62
Im Einzelnen betrifft das die Urteile des Amtsgerichts A. vom … … 2002 (Az. . … … …*) und vom … … 2003 (Az. … … … … …*), in denen jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung Freiheitsstrafen von acht und von elf Monaten verhängt wurden. Hinzu treten das Urteil des Amtsgerichts A. vom … … 2008 (Az. . … … …*), in dem der Kläger wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt wurde und das Urteil des Amtsgerichts I. vom … … 2011 (Az. . … … …*), in dem der Kläger wegen Nötigung und Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt wurde.
63
Diese Ausweisungsinteressen sind auch weiterhin aktuell. Insbesondere sind die Verurteilungen des Klägers weder getilgt noch tilgungsreif (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 34). Auch einen entgegenstehenden Vertrauenstatbestand, der zum Verbrauch des Ausweisungsinteresses führen könnte, hat die Beklagte nicht geschaffen (vgl. BVerwG, U.v. 22.02.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 39).
64
bb) Vor dem Hintergrund der Ausweisungsinteressen sprechen für die Ausweisung als Mittel der Gefahrenabwehr sowohl Gründe der Spezialprävention (1) als auch der Generalprävention (2).
65
(1) Die Beklagte hat zu Recht angenommen, dass von dem persönlichen Verhalten des Klägers eine konkrete Wiederholungsgefahr in Bezug auf die Begehung weiterer Straftaten im Bereich der Körperverletzung und der Betäubungsmittelkriminalität und damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch seinen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG ausgeht.
66
Der Kläger hat in der Vergangenheit erheblich und kontinuierlich über einen langen Zeitraum gegen die geschriebene Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland verstoßen sowie die hochrangigen Rechtsgüter der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit Dritter gefährdet bzw. verletzt. Dies zugrunde gelegt, genügt für die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr bereits eine nicht allzu hohe Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls, die das Gericht für gegeben erachtet (sog. gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 16; U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 26). Unter Berücksichtigung der jahrelangen, kontinuierlichen Straffälligkeit des Klägers und seiner immer wieder schnellen Rückfallgeschwindigkeit ist von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen. Der Kläger hat sich bislang trotz mehrfacher Haftstrafen nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Aus den rechtskräftig abgeurteilten Straftaten ergibt sich die hohe Bereitschaft des Klägers, kriminelle Handlungen zu begehen. Auch die bereits in den 1990er-Jahren erfolgte erstmalige Ausweisung und Abschiebung des Klägers infolge zahlreicher Jugendstrafen hat ihn nicht davon abgehalten, nach seiner Wiedereinreise und der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis weitere Straftaten zu begehen. Seine Suchterkrankung und die darüber hinausgehende psychische Erkrankung mit einhergehenden Wahnvorstellungen führen zu einer weiter gesteigerten Wiederholungsgefahr.
67
Die Gefahrenprognose stützt sich insbesondere auf die Feststellungen im Urteil des Landgerichts A. vom … … 2020 (Az. … … … …*), die Beschlüsse des Landgerichts W. (. *) in diesem Verfahren vom … … 2021, 7. Dezember 2022 und zuletzt vom … … 2023 (Az. jeweils . …*) und auf das im Strafvollstreckungsverfahren in Auftrag gegebene forensisch-psychiatrische Gutachten vom 12. August 2023. Demnach bestehe angesichts der paranoiden Schizophrenie des Klägers, der sich unter den Bedingungen des Maßregelvollzugs angepasst verhalte, was nach einer Entlassung nicht mehr gesichert sei, die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger außerhalb des Maßregelvollzugs im Zustand mindestens erheblich verminderter Schuldfähigkeit erhebliche, einschlägige rechtswidrige Taten begehen werde, durch die die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden könnten. Der Kläger leide an einer erheblichen nicht austherapierten Sucht sowie wahnhaften Denkinhalten. Auf dieser Basis bestätigte die Strafvollstreckungskammer regelmäßig den Fortbestand der Voraussetzungen des § 63 StGB und damit eine gesteigerte Wiederholungsgefahr, die es rechtfertigt, den auf dieser Rechtsgrundlage ohne feste zeitliche Obergrenze möglichen Maßregelvollzug für ein weiteres Jahr zu verlängern. Der ausführlichen Würdigung der Wiederholungsgefahr im strafvollstreckungsgerichtlichen Verfahren schließt sich das Verwaltungsgericht an.
68
Dass die Wertung entsprechender Beschlüsse zur Fortdauer des Maßregelvollzugs bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen herangezogen werden soll, gibt der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, der § 63 StGB ausdrücklich zitiert, deutlich vor. Gründe, die gegen die Einschätzung zur Wiederholungsgefahr durch die Strafvollstreckungskammer streiten, wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Die Prognose im Rahmen der Ausweisungsentscheidung hat außerdem einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen als die Prognose im Rahmen des § 63 StGB. Die Gefahr im Sinne des AufenthG entfällt daher jedenfalls nicht vor dem Ende des Maßregelvollzugs nach § 63 StGB (BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 8 f.).
69
Angesichts des fortdauernden Maßregelvollzugs konnte sich der Kläger noch nicht in Freiheit bewähren und es kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. BayVGH, B.v. 12.6.2023 – 19 CS 23.708 – juris Rn. 6).
70
(2) Gleichzeitig sieht die Kammer unabhängig von der Wiederholungsgefahr auch die Voraussetzungen einer generalpräventiven Ausweisung als gegeben an. Denn erhebliche Straftaten sollten eine ausländerrechtliche Reaktion nach sich ziehen, um andere von der Begehung vergleichbarer Delikte abzuhalten (m.w.N. Fleuß in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2024, § 53 AufenthG Rn. 29a). Das Ausweisungsinteresse ist auch weiterhin aktuell. Die Höchstgrenze für die Aktualität einer generalpräventiven Ausweisung ist noch nicht überschritten. Diese orientiert sich an §§ 78c Abs. 3 Satz 2, 78 Abs. 3 Nr. 5 StGB und sieht daher für die Straftaten des Klägers eine Aktualität von maximal sechs Jahren ab der Beendigung der Tat vor, wobei nach einem Verstreichen von drei Jahren seit Tatbegehung ein Entfallen der Aktualität denkbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 18 ff.). Die Höchstfrist ist angesichts des Datums der letzten Tat am 12. April 2020 noch nicht verstrichen. Zudem ist angesichts der zahlreichen vom Kläger veranlassten Polizeieinsätze in seinem Wohnhaus, die für eine gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit für die begangenen Straftaten sorgten, trotz der im April 2023 verstrichenen Mindestfrist der ausweisungsrechtlichen Aktualität, die mit der einfachen strafrechtlichen Verjährungsfrist anzusetzen ist, weiterhin von einem aktuellen Ausweisungsinteresse auszugehen.
71
cc) Den besonders schwerwiegenden bzw. schwerwiegenden Ausweisungsinteressen steht das schwerwiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gegenüber. Zuletzt besaß der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis und hielt sich seit mehr als fünf Jahren im Bundesgebiet auf.
72
Daneben treten zahlreiche einfache Bleibeinteressen nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG.
73
Der Kläger hat im Bundesgebiet eine volljährige Tochter, zu der er im Rahmen der Therapie wieder Kontakt aufgenommen hat. Auch seine Mutter, seine Schwester und zwei Brüder leben im Bundesgebiet. Zu allen hat der Kläger wieder Kontakt aufgenommen. Seit Juni 2024 ist er im Bereich Glasfaserinstallation berufstätig. Der Therapieverlauf, wie er sich den Stellungnahmen aus dem Bezirkskrankenhaus und den jährlichen Beschlüssen der …, zuletzt vom … … 2023, entnehmen lässt, ist positiv, auch wenn die Therapie nicht als abgeschlossen bewertet wird. Dem Kläger, der deutliche Therapiefortschritte gemacht hat, wurden weitreichende Lockerungen im Rahmen des Maßregelvollzugs zugestanden, die ihm ermöglichen, als Freigänger einer Arbeit nachzugehen. Zudem hat sich der 47 Jahre alte Kläger den Großteil seines Lebens in Deutschland aufgehalten, von 1984 bis 1998 und erneut durchgehend ab 2001, meist legal mit einer Aufenthaltserlaubnis. In Deutschland hat der Kläger auch einen Hauptschulabschluss erworben.
74
dd) Bei der weiter gebotenen Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses mit den entgegenstehenden Bleibeinteressen des Klägers überwiegt das Ausweisungsinteresse, § 53 Abs. 1 AufenthG.
75
In diesem Rahmen ist auch in Anbetracht der zahlreichen Bleibeinteressen die langjährige Straffälligkeit des Klägers einzustellen, die sich seit den 1990er-Jahren kontinuierlich fortgesetzt hat. Zwar hat er nun wieder Kontakt zu seiner in Deutschland wohnhaften Tochter, der für schützenswert zu erachten ist. Seine 2005 geborene Tochter ist allerdings volljährig, nicht in gesteigertem Maße auf ihren Vater angewiesen, zu dem sie schon in der Vergangenheit über lange Jahre keinen Kontakt hatte, und könnte diesen zudem auch in der Türkei besuchen sowie über Kommunikationsmittel mit ihm Kontakt halten. Dies gilt auch für die weiteren Familienmitglieder. Seit 2018 befindet sich der Kläger regelmäßig in psychiatrischen Einrichtungen. Die wirtschaftliche Integration des Klägers ist angesichts der brüchigen Erwerbsbiographie mit häufigem Sozialleistungsbezug gescheitert, sodass auch die jetzt positive Entwicklung zu seiner Berufstätigkeit nicht zu einem Überwiegen der Bleibeinteressen führt. Die Wiedereingliederung ist ihm außerdem in der Türkei möglich und zumutbar. Dort ist er bis zum Alter von sieben Jahren aufgewachsen und hat nach seiner Abschiebung im Jahr 1998 bis 2001 wieder dort gelebt. Auch wenn er in der Türkei nach eigenen Angaben keine Familie hat, kann er auf seine Sprachkenntnisse und Kenntnisse der Lebensverhältnisse aufbauen und sich so wieder in den Alltag eingliedern. Auch seine psychische Erkrankung wird in der Türkei weiterhin behandelbar sein. Landesweite Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten sind in der Türkei grundsätzlich gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei v. 20.5.2024, S. 21), auch wenn es durchaus plausibel ist, dass seine Erkrankung mit Krankenversicherungsschutz in Deutschland besser behandelt werden kann als in der Türkei. Der Kläger hat jedoch keinen Anspruch darauf, mit der aufenthaltsrechtlichen Entscheidung bis zum Therapieende abzuwarten (m.w.N. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 7). Zudem bewegt sich die für die Ausweisung zentrale Verurteilung (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln) im Bereich der von Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV. Diese Straftaten werden im AEUV als besonders schwerwiegend gekennzeichnet und erfordern wegen ihrer grenzüberschreitende Dimension eine EUweit gemeinsame Bekämpfung. Der Kläger hat ausweislich der Urteilsgründe in erheblichem Umfang Betäubungsmittel an zahlreiche Abnehmer weitergegeben. Dies betraf auch nicht lediglich die „weiche“ Droge Cannabis, sondern auch in größerem Umfang Amphetamin.
76
Auch in Abwägung mit dem Recht des Klägers auf Privatleben (Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 8 Abs. 1 EMRK) sowie seinem Anspruch auf Achtung seiner familiären Bindungen nach Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG ist vor diesem Hintergrund von einem Überwiegen des Ausweisungsinteresses auszugehen.
77
Der Ausweisung steht insbesondere keine Stellung des Klägers als „faktischer Inländer“ entgegen. Dieser Begriff ist nicht einheitlich definiert, sondern wird in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben. Das Bundesverwaltungsgericht bezeichnet faktische Inländer als „im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten“ (BVerwG, U.v. 16.7.2002 – 1 C 8.02 – juris Rn. 23). Das Bundesverfassungsgericht umschreibt den Begriff mit „hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer“ (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Bei faktischen Inländern handelt es sich letztlich um Personen, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert sind („Verwurzelung“) und (kumulativ) den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind („Entwurzelung“), mit der Folge, dass sie faktisch zum Inländer geworden sind und sie nur noch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit mit dem Herkunftsstaat verbindet (BayVGH, B.v. 7.2.2024 -19 ZB 23.1962 – Rn. 17).
78
Für eine Verwurzelung wird nicht nur nach sozialer Integration, sondern auch nach wirtschaftlicher Integration verlangt. Angesichts des beruflichen Werdegangs des Klägers, der sich bislang auf verschiedene kurzzeitige Gelegenheits- und Hilfstätigkeiten sowie gescheiterte Versuche der Selbstständigkeit beschränkte, ist ausgesprochen fraglich, inwieweit von gelungener wirtschaftlicher Integration ausgegangen werden kann. Zudem ist der Kläger auch nicht als Klein-, sondern erstmals als Schulkind nach Deutschland gekommen. Inwieweit eine hinreichende Verwurzelung vorliegt, kann letztlich aber offen bleiben.
79
Jedenfalls ist der Kläger in der Türkei nicht vollkommen entwurzelt. Bzgl. der Entwurzelung aus den Verhältnissen in der Türkei zu beachtende Gesichtspunkte sind vor allem, inwieweit Kenntnisse der dort gesprochenen Sprache bestehen bzw. erworben werden können, inwieweit er mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist und inwieweit er dort bei der (Wieder-)Eingliederung auf Hilfestellung durch Verwandte und sonstige Dritte rechnen kann, soweit dies erforderlich sein sollte (BayVGH, B.v. 11.7.2007 – 24 ZB 07.743 – juris). Der Kläger hat Türkischkenntnisse. Er hat seine frühe Kindheit in der Türkei verbracht und als Erwachsener für drei Jahre im Land gelebt. Die Lebensverhältnisse sind ihm nicht vollkommen fremd. Es ist zwar nach dem Vortrag des Klägers ausgesprochen fraglich, inwieweit er in der Türkei Hilfe von dort lebenden Verwandten erlangen könnte. Auch ohne solche Hilfen ist es dem Kläger aber zumutbar, sich eine Existenz aufzubauen. Selbst wenn der erwachsene Kläger in der Türkei nicht mit der Unterstützung von Verwandten rechnen könnte, würde dies für sich genommen keine unzumutbare Härte begründen (BayVGH, B.v. 19.1.2015 – 10 CS 14.2656, 10 C 14.2657 – BeckRS 2015, 42415 Rn. 28; B.v. 7.2.2008 – 10 ZB 07.1993 – BeckRS 2008, 27508; NdsOVG, B.v. 12.12.2013 – 8 ME 162/13 – BeckRS 2013, 59604). Zur Überzeugung des Gerichts ist er durchaus in der Lage, sich in die Lebensverhältnisse in der Türkei zu integrieren und sich dort eine Existenz aufzubauen, auch wenn das angesichts seiner gesundheitlichen Situation mit Schwierigkeiten verbunden sein wird.
80
Ungeachtet der damit einhergehenden Unsicherheit, ob der Kläger überhaupt als „faktischer Inländer“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung einzuordnen ist, begründet auch eine solche Rechtsstellung jedenfalls kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener Ausländer ist vielmehr im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19; BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – BeckRS 2022, 10733 Rn. 33 m.w.N.; BayVGH, B.v. 2.8.2021 – 19 CS 21.330 – BeckRS 2021, 20968 Rn. 33 m.w.N.).
81
Selbst wenn man unterstellt, dass es sich beim Kläger um einen sogenannten faktischen Inländer handelt, würde dies nicht zu einem Überwiegen seines Bleibeinteresses führen. Denn zu seinen Lasten sind insbesondere die über viele Jahre hinweg begangenen Straftaten und die in Anbetracht seiner Unterbringung erhebliche Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen.
82
Zur Frage der Verhältnismäßigkeit sei abschließend erneut darauf hingewiesen, dass der Kläger bereits Ende der 1990er-Jahre einmal ausgewiesen und abgeschoben worden ist. Dies hat ihn nicht davon abgehalten, weitere Straftaten zu begehen. Mildere Mittel, wie eine ausländerrechtliche Verwarnung, sind daher nicht geeignet, die vom Kläger ausgehende Gefahr zu beseitigen.
83
Nach alledem überwiegt unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Klägers seine Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet.
84
3. Die unter Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids erfolgte Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, in seiner geänderten Fassung nach mündlicher Verhandlung, begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.
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Nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen wurde, gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen.
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Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise beginnt. Diese allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist liegt gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessen des Beklagten, darf aber nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer in den Fällen des § 11 Abs. 5 bis Abs. 5b AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Gemäß § 11 Abs. 5 AufenthG soll die Frist zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Dabei besteht nach Art. 36 Abs. 2 Nr. 2 BayVwVfG i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG die Möglichkeit, die Befristungsentscheidung zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung zu versehen, insbesondere einer nachweislichen Straffreiheit.
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Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen (BVerwG, U.v. 6.3.2014 – 1 C 2.13 – BeckRS 2014, 49495, Rn. 12; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.1 – BeckRS 2012, 56736, Rn. 42).
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Gemessen daran ist die vorgenommene Befristung auf vier Jahre unter der Bedingung der Straf- und Drogenfreiheit, sonst von sechs Jahren, nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat die aus § 11 AufenthG resultierenden Vorgaben beachtet, das ihr hinsichtlich der Länge der Frist eingeräumte Ermessen erkannt und bei seiner Ausübung weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Die Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG zu Recht auf eine besonders hohe Gefahr, dass der Kläger wieder Straftaten zu Lasten hochrangiger Rechtsgüter begehen wird. Seine hochrangigen Bleibeinteressen (s.o.) berücksichtigt die Beklagte dabei hinreichend. Den zwischenzeitlichen positiven familiären und beruflichen Entwicklungen des Klägers seit Bescheiderlass hat die Beklagte durch eine Verkürzung der Frist in der mündlichen Verhandlung hinreichend Rechnung getragen und ihre Ermessensausübung daher aktuell gehalten.
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4. Die unter Ziffer 3 verfügte Herausgabepflicht des Aufenthaltstitels kann sich zwar nicht auf den zitierten § 48 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG stützen, der lediglich die vorübergehende Herausgabe gestattet, allerdings infolge eines Austauschs der Rechtsgrundlage als Ordnungsverfügung nach § 46 Abs. 1 AufenthG ergehen (vgl. Hruschka in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2024, § 48 AufenthG, Rn. 9.2). Bei beiden Bestimmungen handelt es sich um Ermessensnormen, die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 AufenthG liegen vor. Im Wege der Auslegung in analoger Anwendung der §§ 133, 157 BGB ist nach dem objektiven Empfängerhorizont auch hinreichend deutlich erkennbar, dass die Herausgabe der Aufenthaltserlaubnis des Klägers mit der Nr. Y00PTVGK47 gemeint ist, obwohl im Bescheid die Endziffer fehlt.
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5. Die Abschiebungsandrohung beruht auf §§ 58 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 4, 59 Abs. 1 AufenthG und begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Insbesondere bedarf es nach § 59 Abs. 5 AufenthG im Fall der Abschiebung aus dem Maßregelvollzug keiner Fristsetzung. Für den Fall der Abschiebung nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug wurde eine Frist von sieben Tagen nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG festgesetzt, die diese Norm als Mindestfrist für einen Regelfall verlangt. Anhaltspunkte, die für eine längere Frist streiten würden, wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.
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Auch der Gesundheitszustand des Klägers steht einer Abschiebungsandrohung nicht nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegen. Zwar ist das möglicherweise vom Gesetzgeber in § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erklärte Opt-Out von der Rückführungsrichtlinie, das ausdrücklich die Entbindung von der Prüfung des Gesundheitszustands im Rahmen der Abschiebungsandrohung bei Abschiebungen infolge strafrechtlicher Verurteilungen vorsieht, auf den Kläger in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar (vgl. HessVGH, B.v. 18.3.2024 – 3 B 1784/23 – juris). Gesundheitliche Gründe stehen der Abschiebung vorliegend aber nicht entgegen. Der Kläger leidet an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung, deren erneuter Ausbruch bei unterbrochener Behandlung aus Sicht des Gerichts derzeit nicht ausgeschlossen werden kann. Landesweite Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten sind in der Türkei aber grundsätzlich gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei v. 20.5.2024, S. 21). Der Beklagtenvertreter hat zu Protokoll des Gerichts in der mündlichen Verhandlung zugesichert, bei einer tatsächlichen Vollstreckung der Abschiebungsandrohung werde die Beklagte die ärztliche Untersuchung des Klägers veranlassen, sofern diese nicht ohnehin schon erfolgt sein sollte. Sollte auf dieser Grundlage die Notwendigkeit bestehen, werde die Beklagte für die Abschiebung eine Medikamentenmitgabe, ärztliche Begleitung und die Inobhutnahme des Klägers in der Türkei organisieren. Das sei bei einer Abschiebung in die Türkei alles möglich. Bei einer telefonischen Anfrage des Berichterstatters beim Landesamt für Asyl und Rückführungen wurden diese Möglichkeiten – die einer Anregung durch die zuständige Ausländerbehörde bedürfen – bestätigt. Vor dem Hintergrund der Zusicherung bestehen zur Überzeugung des Gerichts keine gesundheitlichen Bedenken bzgl. einer möglichen Abschiebung des Klägers.
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6. Aus diesen Gründen war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.