Inhalt

VG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 30.10.2024 – W 7 K 23.1588
Titel:

Kein Anspruch auf Chancen-Aufenthaltsrecht

Normenkette:
AufenthG § 104c Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Die von § 104c Abs. 1 AufenthG geforderte Statuskette (geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis) wird durch Untertauchen, bei dem die fehlende Erteilung einer Duldung nicht auf ein Versäumnis der Ausländerbehörde zurückzuführen ist, sondern allein auf dem pflichtwidrigen Verhalten des Ausländers beruht, unterbrochen. (Rn. 21 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Chancen-Aufenthaltserlaubnis, Abreißen der Statuskette, Duldung, Untertauchen, Bagatellgrenze, unterbrochene Statuskette
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35327

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Gerichtsbescheid ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt die Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis.
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1. Der Kläger ist ein am … … 1988 geborener äthiopischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals am 20. August 2013 ins Bundesgebiet ein und durchlief ein Asylverfahren. Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 31. Mai 2016 (Az. …3-225) abgelehnt. Eine dagegen gerichtete Klage wurde durch das Verwaltungsgericht Würzburg mit rechtskräftigem Urteil vom 8. Dezember 2016 abgewiesen (W 3 K 16.30770). Anschließend wurden dem Kläger Duldungen erteilt.
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Am 8. Dezember 2017 stellte der Kläger einen Asyl-Folgeantrag, der mit Bescheid des Bundesamts vom 1. März 2018 (Az. …7-225) abgelehnt wurde. Eine dagegen gerichtete Klage wurde mit rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 15. April 2019 (W 3 K 19.30085) abgewiesen.
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Daraufhin wurden erneut Duldungen für Personen mit ungeklärter Identität erteilt, zuletzt mit Gültigkeit bis zum 30. Juni 2021.
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Mit Schreiben vom 8. Februar 2019 beantragte er erstmals, ihn in eine andere Gemeinschaftsunterkunft umzuverteilen. Zur Begründung gab er medizinische Bedenken seines Arztes an, wonach er wegen einer Atemwegserkrankung in einer weniger stark frequentierten Unterkunft wohnen solle. Ein Schreiben des Arztes vom 5. Februar 2019 war beigefügt.
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Am 7. April 2021 wurde der Kläger als untergetaucht aus der Gemeinschaftsunterkunft abgemeldet. Am 11. Januar 2023 wurde der Kläger erneut beim Beklagten vorstellig und bat um Unterbringung. Er kehrte in die Gemeinschaftsunterkunft zurück. Daraufhin wurden ihm erneut Duldungen für Personen mit ungeklärter Identität erteilt.
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Am 22. März 2023 stellte er einen Antrag private Wohnsitznahme zum Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft wegen gesundheitlicher Probleme. Am 5. Februar 2024 wurde ihm die Auszugsmöglichkeit im Rahmen einer behördlichen Abhilfeentscheidung beim Nachweis einer geeigneten Wohnung zugesichert, nachdem er zuvor Klage erhoben hatte (W 7 K 23.1025).
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2. Mit Schreiben vom 1. März 2023 beantragte der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG.
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3. Mit Bescheid vom 25. Oktober 2023 (Az. 30699...), dem Kläger zugestellt am 2. November 2023, wurde der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt (Ziffer 1) und auf die Kostenfreiheit des Bescheids hingewiesen (Ziffer 2).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angegeben, der Kläger habe sich am 31. Oktober 2022 nicht seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten. Dem stehe das Untertauchen ab 7. April 2021 bis zum 12. Januar 2023 entgegen. Diese Unterbrechung habe schon aufgrund ihrer Länge keinen Bagatellcharakter und stehe der Titelerteilung entgegen.
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4. Hiergegen ließ der Kläger am 16. November 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erheben und sinngemäß beantragen,
Der Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 25. Oktober 2023 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, hilfsweise den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
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Zur Begründung der Klage ließ er im Wesentlichen vorbringen, der Kläger sei teilweise zu Unrecht abgemeldet worden, obwohl er sich in der Gemeinschaftsunterkunft befunden habe. Aus gesundheitlichen Gründen habe er in der Corona-Zeit immer wieder bei Freunden gelebt, weil das Risiko einer Erkrankung für ihn in der Gemeinschaftsunterkunft sehr hoch und seine Gesundheit gefährdet gewesen sei. Er leide an einer chronischen Erkrankung der oberen Atemwege. Der Umverteilungsantrag sei im Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch nicht bearbeitet worden. Vorgelegt wurden diverse ärztliche Atteste des Klägers: Zu einer Schilddrüsenerkrankung (vom 8. September 2023), zur Infektion der oberen Atemwege (vom 5. Februar 2019 und 24. August 2023), zu Schmerzen im Brustkorb, bei denen keine physische Ursache festgestellt werden konnte, weshalb die psychologische Weiterbehandlung empfohlen wurde (vom 1. Februar 2023 und ähnlich vom 3. Februar 2023 und 9. März 2023), zu einer Depression (vom 9. März 2023) sowie Arztberichte, in denen von unklaren Schmerzen berichtet wird (vom 20. Juni, 23. August, 31. August, 21. September und 26. September 2017). Weiterhin wurde ein positiver Test auf COVID-19 vom 21. Oktober 2020 vorgelegt.
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5. Der Beklagte beantragt
mit Schriftsatz vom 27. Februar 2024,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf den Abwesenheitszeitraum des Klägers hingewiesen. Ein gestellter Umverteilungsantrag begründe kein Untertauchen.
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6. Mit Schreiben vom 21. März 2024 wurden die Beteiligten nach ihrem Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gefragt und zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Der Beklagte erklärte sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, der Kläger äußerte sich hierzu nicht. Mit Beschluss vom 29. Oktober 2024 hat die Kammer den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die der Einzelrichter nach Anhörung durch Gerichtsbescheid entscheidet (§ 84 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet.
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Chancen-Aufenthaltserlaubnis, sodass ihn der Versagungsbescheid vom 25. Oktober 2023 nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 VwGO). Auch die hilfsweise beantragte Neubescheidung scheidet angesichts der Rechtmäßigkeit des Bescheides aus.
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Nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat, er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben.
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Unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen liegt der erforderliche Voraufenthalt zum Stichtag des 31. Oktober 2022 nicht vor. Insofern ist schädlich, dass der Kläger ab dem 7. April 2021 untergetaucht war und sich erst nach dem Stichtag wieder beim Beklagten anmeldete. Für den dazwischenliegenden Zeitraum gibt es keinerlei Anhaltspunkte, die auf den tatsächlichen Aufenthaltsort des Klägers hindeuten, der sich (wohl) weiterhin im Bundesgebiet befand. Für den Beklagten war er vom 7. April 2021 bis zum 12. Januar 2023 nicht mehr erreichbar.
21
Die von § 104c Abs. 1 AufenthG geforderte Statuskette (geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis) wurde durch dieses Untertauchen unterbrochen. Die Gültigkeit der letzten Duldungsbescheinigung des Klägers endete am 30. Juni 2021.
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Zwar ist ebenso wie im Fall des § 25b AufenthG, dessen Anwendung den Status eines „geduldeten Ausländers“ voraussetzt, auch im Fall des § 104c AufenthG ein Ausländer sowohl geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt wurde, als auch dann, wenn er einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hat (BayVGH, B.v. 09.03.2023 – 19 CE 23.183 – juris Rn. 34).
23
Ein „Untertauchen“, bei dem die fehlende Erteilung einer Duldung nicht auf ein Versäumnis der Ausländerbehörde zurückzuführen ist, sondern allein auf dem pflichtwidrigen Verhalten des Ausländers beruht, unterbricht allerdings die Statuskette nach Sinn und Zweck des Gesetzes. Gesetzlich zu berücksichtigende Voraufenthalte können nicht in Zeiträumen entstehen, in denen sich der Antragsteller dem ausländerrechtlichen Verfahren entzogen hat. Der Ausländerbehörde muss bekannt oder pflichtwidrig unbekannt sein, wo im Bundesgebiet sich der Ausländer befindet. Voraufenthaltszeiten, während derer der Ausländer seine Pflicht nach § 50 Abs. 4 AufenthG verletzt, sind nicht berücksichtigungsfähig. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil es der Ausländerbehörde während solcher Zeiten ohne ihr Zutun nicht möglich ist zu prüfen, ob sich der Ausländer tatsächlich durchgehend in der Bundesrepublik aufgehalten hat (OVG MV, B.v. 8.1.2024 – 2 O 559.23 OVG – juris Rn. 12; VG Köln, U.v. 1.12.2023 – 12 K 5441/23 – juris Rn. 53; vgl. zu ähnlichen Regelungen BVerwG, U.v. 25.3.2014 – 5 C 13.13 – juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 9.4 2021 – 19 CE 20.599 – juris Rn. 15).
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Es kann hier offenbleiben, ob ein Untertauchen ungeachtet seiner Dauer zum Abreißen der Statuskette führt (so VG Köln, U.v. 1.12.2023 – 12 K 5441/23 – juris Rn. 62) oder ob kurzzeitige Unterbrechungen von bis zu drei Monaten, die keine Verlegung des Lebensmittelpunktes beinhalten und die nach der Gesetzesbegründung unschädlich sind (BT-Drs. 20/3717, Seite 44 f.) auch in einem solchen Fall der Titelerteilung nicht entgegenstehen. Jedenfalls im streitgegenständlichen Fall, in dem der Kläger ca. 1 Jahr und 6 Monate unbekannten Aufenthalts war, muss von einer Schädlichkeit der Unterbrechung ausgegangen werden. Die Bagatellgrenze der Gesetzesbegründung von drei Monaten hat er auf diese Weise um ein Vielfaches überschritten.
25
Nichts anderes folgt aus den vorgebrachten Erkrankungen des Klägers. § 104c AufenthG lässt tatbestandlich keine Unterbrechung der Statuskette zu. Selbst wenn man in verfassungskonformer Auslegung des Begriffs des „ununterbrochenen Aufenthalts“, dem entgegen dem Wortlaut zumindest nach der Gesetzesbegründung gewisse Unterbrechungen nicht entgegenstehen, davon ausgehen sollte, dass der Schutz der Gesundheit des Klägers unter Art. 2 Abs. 2 GG gebieten kann, auch längerfristige Unterbrechungen als unschädlich zu behandeln – wobei zweifelhaft ist, warum verfassungsrechtliche Wertungen in einem solchen Fall die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfordern sollten –, folgte hieraus keine abweichende Entscheidung. Zum einen ist es in Anbetracht der vorgelegten Atteste ausgesprochen zweifelhaft, dass der Kläger tatsächlich an einer Atemwegserkrankung leidet, die den Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft erforderlich machte. Vielmehr liegen psychosomatische Beschwerden deutlich näher, denen wohl auch ein Auszug nicht vollständig abgeholfen hätte. Zum anderen wäre es dem Kläger möglich gewesen, seinen Auszugswunsch gerichtlich durchzusetzen (wie im Verfahren W 7 K 23.1025 infolge behördlicher Abhilfe tatsächlich geschehen). Ein eigenmächtiger Auszug ohne Mitteilung der Anschrift war nicht angezeigt.
26
Die Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis kommt nach alledem nicht in Betracht. Eine Aufenthaltserlaubnis nach anderen Vorschriften hat der Kläger nicht beantragt, sodass sie nach dem aufenthaltsrechtlichen Trennungsprinzip weder Gegenstand des behördlichen noch des Klageverfahrens ist (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, Fleuß in Dörig/Hocks, Münchner Anwaltshandbuch Migrations- und Integrationsrecht, 3. Aufl. 2024, § 5 Rn. 85).
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Die Klage ist mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.