Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 13.11.2024 – W 6 K 24.30794
Titel:

Rechtswidrige Abschiebungsandrohung gegenüber Kernfamilie bei unterschiedlicher Zielstaatsbezeichnung

Normenketten:
AsylG § 3, § 3e Abs. 1, § 4, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Der Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr eines bestehenden Kernfamilienverbandes steht die unterschiedliche Staatsangehörigkeit nicht entgegen, weil die Rückkehrprognose sich maßgeblich an den Vorgaben des Art. 6 GG, Art. 8 EMRK orientiert. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Hat der Ausländer mehrere Staatsangehörigkeiten, ist das Vorliegen der Schutzvoraussetzungen zwar im Hinblick auf sämtliche Herkunftsländer zu prüfen. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn in sämtlichen dieser Staaten die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Abschiebungsandrohung gegenüber Mitgliedern einer Kernfamilie, die im Vergleich zu einem Elternteil und den gemeinsamen Kindern unterschiedliche Zielstaatsbezeichnungen enthält, erweist sich als rechtswidrig, wenn sie das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen nicht in gebührender Weise berücksichtigt. (Rn. 58 – 62) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Elfenbeinküste / C..., Genitalverstümmelung, innerstaatliche Aufenthaltsalternative, bejaht, Rückkehrprognose, gemeinsame Rückkehr der Kernfamilie auch bei unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, doppelte Staatsangehörigkeit, rechtswidrige Abschiebungsandrohung bei unterschiedlicher Zielstaatsbezeichnung, Kindeswohl, Elfenbeinküste - Côte d'Ivoire, innerstaatliche Fluchtalternative, Kernfamilie, unterschiedliche Staatsangehörigkeiten, Abschiebungsandrohung, unterschiedliche Zielstaatsbezeichnung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35326

Tenor

I. Die Nrn. 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2024 werden aufgehoben.
Im Übrigen wir die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerinnen zu 4/5 und die Beklagte zu 1/5. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet

Tatbestand

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Die Klägerinnen wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge und begehren hilfsweise die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote hinsichtlich C....
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1. Die Klägerin zu 1) ist ivorische Staatsangehörige, vom Volk der Malinke und islamischen Glaubens. Die Klägerinnen zu 2) und 3), ihre Töchter, wurden in G,(Klägerin zu 2) und L. (Klägerin zu 3) geboren. Der Kindsvater ist guineischer Staatsangehöriger.
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Die Klägerinnen reisten am 13. Februar 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 20. April 2022 Asylanträge.
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Bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab die Klägerin zu 1) im Wesentlichen an: Sie sei nach ihrer traditionellen Eheschließung mit dem Vater der Kinder im Jahr 2019 nach G. gegangen und habe sich dort ca. eineinhalb Jahre aufgehalten. Ihr Heimatland habe sie nur verlassen, um ein besseres Leben für sich und die Kinder zu haben. Sie sei als Kind beschnitten worden. Nach der Tradition müssten ihre Töchter das Gleiche erleben, was sie nicht wolle. Die Schwiegermutter wolle, dass die Klägerinnen zu 2) und 3) beschnitten werden. In C... sei ihr nichts Schlimmes passiert. Sie habe das Land wegen der Eheschließung verlassen und sei mit ihrem neuen Mann nach G. gegangen. Im Falle einer Rückkehr befürchte sie die Beschneidung ihrer Töchter. Dasselbe gelte auch für G. . Im Heimatland habe sie für 14 Jahre die Schule besucht und in G,eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen, aber nicht abgeschlossen.
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Mit Bescheid vom 13. Mai 2024 – zugestellt am 16. Mai 2024 – lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anträge der Klägerinnen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheides), Anerkennung als Asylberechtigte (Nr. 2) und Zuerkennung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich C... nicht vorliegen (Nr. 4). Die Abschiebung nach C... oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat wurde angedroht (Nr. 5) und ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet (Nr. 6).
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2. Am 22. Mai 2024 ließen die Klägerinnen Klage erheben und beantragen,
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2024 verpflichtet, den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
Hilfsweise den Klägerinnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;
Hilfsweise festzustellen, dass bei den Klägerinnen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung wird unter Bezugnahme auf die Angaben im Rahmen der Anhörung im Wesentlichen ausgeführt: Die Androhung einer Abschiebung der Klägerinnen sei ungeachtet vom Ausgang des Asylverfahrens wegen Verstoßes gegen Art. 1 und 2 GG sowie Art. 3 EMRK unzulässig, da dies zumindest zu Gefahren für Leib, Leben und Freiheit der Klägerinnen führen werde. Diese seien ivorische bzw. guineische Staatsangehörige. Die Klägerin zu 1) sei in ihrer Heimat Opfer von geschlechtsspezifischer Verfolgung in Form einer Genitalverstümmelung geworden. Den Klägerinnen zu 2) und 3) drohe dies ebenfalls. Es sei zudem anzumerken, dass dem Kindsvater die Abschiebung nach G. angedroht worden sei, weshalb aufgrund der unterschiedlichen Zielstaatsbestimmungen nicht von einer gemeinsamen Ausreise bzw. Abschiebung auszugehen sei. Es sei zudem in Klärung, ob die Klägerinnen überhaupt auch ivorische Staatsangehörige seien. Sowohl bei der Rückkehrprognose als auch der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative sei daher davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1) mit mittlerweile drei kleinen Kindern, nicht in der Lage wäre, das für eine menschenwürdige Existenz notwendige Minimum zu erwirtschaften. Familiäre Unterstützung könne die Klägerin zu 1) nicht in Anspruch nehmen, da von Seiten der Familie die Durchführung der Genitalverstümmelung drohe. Aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen werde die Klägerin zu 1) entweder gezwungen, sich in die Hände irgendeines Mannes zu begeben oder als Person ohne jeglichen familiären Rückhalt unter massiver Vernachlässigung der Betreuungspflicht gegenüber ihren Kindern zu versuchen, außerhalb der Zivilgesellschaft faktisch als Sklavin für nieder Arbeiten, wie Tagelöhnertätigkeiten oder als Prostituierte, in irgendeiner Form an finanzielle Mittel zu kommen. Es gebe daher keine inländische Fluchtalternative, jedenfalls lägen die Voraussetzungen für die Feststellungen eines Abschiebungsverbotes vor.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragt für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen und ergänzend ausgeführt: Der ivorische Staat sei willens und in der Lage, junge Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelungen zu schützen, weshalb davon auszugehen sei, dass für die Klägerinnen zu 2) und 3) keine beachtliche Gefahr der Beschneidung bestehe. Daher komme es nicht darauf an, ob ihnen in G,eine derartige Behandlung drohe. Allein die unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten der Eltern stellten kein inlandsbezogenes Abschiebehindernis dar. Erforderlich sei vielmehr, dass die berücksichtigungsfähige Bezugsperson sich rechtmäßig in Deutschland aufhalte, was nicht der Fall sei. Es sei davon auszugehen, dass eine Wiederherstellung des Familienverbandes im Herkunfts- oder in einem anderen Staat möglich sei.
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3. Am … … 2023 wurde ein weiteres Kind der Klägerin zu 1) geboren, dessen Asylantrag mit Bescheid vom 16. Mai 2024 abgelehnt wurde, wogegen Klage erhoben wurde (Az.: W 6 K 24.30901).
11
Der Asylantrag des traditionellen Ehemanns und Kindsvaters wurde mit Bescheid vom 4. April 2024 abgelehnt und ihm die Abschiebung nach G. angedroht, wogegen ebenfalls Klage erhoben wurde (Az.: W 5 K 24.30562).
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Mit Beschluss vom 11. September 2024 übertrug die Kammer den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung.
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Zur mündlichen Verhandlung am 13. November 2024 ist für die Beklagte niemand erschienen. Die Klägerin zu 1) wurde informatorisch gehört. Der Klägerbevollmächtigte stellte den Antrag aus der Klageschrift.
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4. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte (einschließlich betreffend den traditionellen Ehemann / Kindsvater sowie das nachgeborene Kind der Klägerin zu 1) und das Protokoll über die mündliche Verhandlung am 13. November 2024 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat teilweise Erfolg.
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Sie ist zulässig und begründet, soweit sie sich auf die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nr. 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2024 bezieht. Diese sind im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist in den übrigen angegriffenen Nrn. 1, 3 und 4 rechtmäßig und verletzt den Klägerinnen nicht in ihren Rechten. Sie haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, subsidiären Schutzes oder Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Im Einzelnen:
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1. Über die Klage konnte nach § 102 Abs. 2 VwGO verhandelt und entschieden werden, obwohl für die Beklagte niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen ist.
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Die Beklagte wurde mit Schreiben vom 17. September 2024 ordnungsgemäß zum Termin geladen und hat mit Schriftsatz vom 24. Mai 2024 auf förmliche Zustellung der Ladung gegen Empfangsbekenntnis verzichtet. Die Ladung enthielt den Hinweis auf die Möglichkeit der Verhandlung und Entscheidung bei Ausbleiben eines Beteiligten.
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2. Die Klage ist unbegründet soweit sie sich auf die Nrn. 1, 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheides bezieht. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) oder die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid zum Herkunftsland C... und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Die Ausführungen decken sich mit der diesbezüglichen Erkenntnislage des Gerichts (vgl. insbesondere Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in C..., 10.8.2021; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Elfenbeinküste (C...), Gesamtaktualisierung 28.1.2022).
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Die Klägerinnen haben im gerichtlichen Verfahren nichts vorgetragen, was eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würde.
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Ergänzend ist auszuführen:
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a.) Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559, 560), wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung ausgehen von (1.) dem Staat, (2.) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (3.) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Aus § 3a AsylG ergibt sich, welche Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten. Zwischen derartigen Handlungen und den in § 3b AsylG näher definierten Verfolgungsgründen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
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Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG; vgl. hierzu auch Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2011/95/EU – Qualifikationsrichtlinie), oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1.) beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG; siehe hierzu auch Art. 9 Abs. 1 Buchst. b Qualifikationsrichtlinie).
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Zudem müssen die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d Qualifikationsrichtlinie (vgl. jetzt § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“), was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32 m.w.N.). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG; vgl. hierzu bereits BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – juris; BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris).
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Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr politischer Verfolgung begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 –, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG Nr. 32). Demgemäß setzt ein Asyl- oder Flüchtlingsanspruch voraus, dass der Schutzsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asyl- bzw. Flüchtlingsbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 –, Buchholz, § 108 VwGO Nr. 147).
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Gemessen hieran haben die Klägerinnen keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ein solcher ergibt sich insbesondere nicht für die Klägerinnen zu 2) und 3) aufgrund der vorgetragenen Befürchtung, diese würden in C... von den Eltern der Klägerin zu 1) gegen deren und den Willen des Vaters der Kinder einer Genitalverstümmelung unterzogen.
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Weibliche Genitalverstümmelung stellt grundsätzlich geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG dar. Auch stellt das Gericht nicht in Abrede, dass derartige Eingriffe in C... trotz bestehender gesetzlicher Verbote (s.u.) weiterhin vorkommen.
31
Jedoch stehen den Klägerinnen innerstaatliche Schutz- und Aufenthaltsmöglichkeiten zur Verfügung.
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Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei der befürchteten Verfolgung durch die Familie der Klägerin zu 1) um von nichtstaatlichen Akteuren ausgehende Verfolgungshandlungen handeln würde. Solche können nur dann flüchtlingsschutzrelevant sein, wenn die in § 3d Abs. 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, § 3c Nr. 3 AsylG. Dies kann für C... auch unter Berücksichtigung etwaiger Strafverfolgungsdefizite nicht in dieser Pauschalität angenommen werden. Es kann den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht entnommen werden, dass es für die Kläger von vorneherein aussichtslos wäre, sich aufgrund etwaiger Bedrohungen an die ivorischen Sicherheitsbehörden oder Nichtregierungsorganisationen zu wenden.
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Dies gilt insbesondere auch im Falle einer befürchteten Genitalverstümmelung. Weibliche Genitalverstümmelung steht in C... seit 1998 unter Strafe und es gibt staatliche und nichtstaatliche Stellen, an die sich Frauen wenden können, die befürchten, Opfer von Genitalverstümmelung zu werden, um Schutz nachzusuchen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 14 f.; siehe auch ausführlich zu staatlichen und nichtstaatlichen Anlaufstellen: VG Gera, U.v. 2.9.2024 – 6 K 488/24 Ge – juris Rn. 51 ff. m.w.N.). Vor diesem Hintergrund ist es den Klägerinnen möglich und zumutbar, sich im Bedarfsfalle an entsprechende Stellen zu wenden. Dass dies von vorneherein aussichtlos wäre, kann den Erkenntnismitteln nicht entnommen werden.
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In diesem Zusammenhang ist zudem anzumerken, dass die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung erst auf wiederholte Nachfrage ihres Bevollmächtigten erklärt hat, den Klägerinnen zu 2) und 3) drohe eine zwangsweise Beschneidung auch gegen den erklärten Willen der Eltern durch die Großeltern; zunächst auf Nachfrage des Gerichts aber angegeben hat, sie ziehe es vor, von der Familie verstoßen werden, als dass ein derartiger Eingriff bei ihren Töchtern durchgeführt werde. Dies legt den Schluss nahe, dass jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Klägerin zu 1) glaubhaft und überzeugend angegeben hat, dass sie und ihr traditioneller Ehemann und Vater der Klägerinnen zu 2) und 3) entschieden gegen eine derartige Behandlung eingestellt sind, die Möglichkeit besteht, dass die Eltern die Klägerinnen zu 2) und 3) vor einer drohenden Genitalverstümmelung schützen können.
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Jedenfalls steht den Klägerinnen – selbstständig tragend – eine zumutbare innerstaatliche Aufenthaltsalternative im Sinne des § 3e Abs. 1, Abs. 2 AsylG zur Verfügung. Es erscheint dem Gericht nicht als beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerinnen im Falle einer Rückkehr aufgespürt werden sollten, wenn sie den ursprünglichen Heimatort der Familie der Klägerin zu 1) meiden und sich in einer ivorischen Großstadt, beispielsweise in Abdijan, Bouaké oder Yamoussoukro niederlassen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass C... weder über Adressen noch ein Meldewesen verfügt (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 23) und auch im Falle der befürchteten Genitalverstümmelung (vgl. auch: Auswärtiges Amt, Anfragebeantwortung 508-516.80/54264 vom 26.8.2020).
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Eine etwaige Relokation der Klägerinnen kann auch vernünftigerweise erwartet werden (vgl. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass diese bei lebensnaher Betrachtung nur gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern ihrer Kernfamilie, dem traditionellen Ehemann der Klägerin zu 1) bzw. Vater der Klägerinnen zu 2) und 3) sowie dem weiteren Kind, dem Kläger im Verfahren W 6 K 24.30901, nach C... zurückkehren würden. Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine – zwar notwendig hypothetische – aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Es ist dementsprechend in der Regel davon auszugehen, dass Mitglieder einer gelebten Kernfamilie gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückkehren. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 49.18 – juris Rn. 15 ff.).
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Das Gericht verkennt dabei nicht, dass das Herkunftsland im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AsylG das Land der Staatsangehörigkeit ist und der traditionelle Ehemann der Klägerin zu 1) nicht die ivorische Staatsangehörigkeit, sondern die guineische besitzt. Dies steht der obigen Annahme einer hypothetischen gemeinsamen „Rückkehr“ nach C... gleichwohl nicht entgegen. Denn für die Rückkehrprognose ist in Bezug auf die einzubeziehenden Personen auch zu berücksichtigen, unter welchen Voraussetzungen es überhaupt zu einer Rückkehr kommen kann und wird. Der grund- und konventionsrechtliche Schutz des bestehenden Kernfamilienverbandes wirkt auf diese Rückkehrkonstellation ein und lässt selbst bei bestehender Bleibeberechtigung einzelner Mitglieder eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall in der Regel nicht zu. Bereits das Bundesamt hat davon auszugehen, dass Art. 6 GG/Art. 8 EMRK einer Trennung der in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie entgegenstehen und es daher zur Rückkehr entweder nicht oder nur im Familienverband kommen wird (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 21). Da die Rückkehrprognose sich mithin maßgeblich an den Vorgaben des Art. 6 GG/Art. 8 EMRK orientiert, steht der Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr die unterschiedliche Staatsangehörigkeit nicht entgegen (vgl. so auch: NdsOVG, U.v. 14.3.2022 – 4 LB 20/19 – juris Rn. 94 ff.).
38
Das Gericht hat aufgrund der Aktenlage und dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung, zu der die gesamte Familie gemeinsam erschienen ist, keinen Zweifel am tatsächlichen Bestehen einer von Art. 6 GG / Art. 8 EMRK geschützten gelebten Kernfamilie im obigen Sinne. Vor dem Hintergrund der Schutzgarantien dieser Normen ist bei realitätsnaher Betrachtung davon auszugehen, dass eine Trennung der Kernfamilie ungeachtet der Staatsangehörigkeit ausscheidet. Die Frage, ob in tatsächlicher Hinsicht eine etwaige Abschiebung des traditionellen Ehemanns der Klägerin zu 1) nach C... vollzogen werden könnte, ist in diesem Zusammenhang im Rahmen der hypothetisch anzustellenden Rückkehrprognose nicht entscheidend. Es stellt sich dem erkennenden Einzelrichter ungeachtet dessen aber auch nicht als von vorneherein ausgeschlossen dar, dass der traditionelle Ehemann der Klägerin zu 1) als guineischer Staatsangehöriger ohne größere Schwierigkeiten (freiwillig) nach C... einreisen könnte. Sowohl G. als auch C... sind Mitglieder der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (Economic Community Of West African States – ECOWAS), zwischen denen grundsätzlich Freizügigkeit herrscht (vgl. Chapter IV, Art. 27 Nr. 1 des 1975 Treaty Of The Economic Community Of West African States; https://www.ecowas.int/wp-content/uploads/2022/06/THE-1975-TREATY-OF-ECOWAS.pdf).
39
Vor diesem Hintergrund ist von einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie auszugehen. Dies zu Grunde gelegt, gibt es keine Anhaltspunkte, weshalb die Klägerin zu 1) und ihr traditioneller Ehemann auch ohne familiäre Unterstützung in C... an einem anderen als dem Heimatort der Klägerin zu 1) nicht in der Lage sein sollten, für sich und die Kernfamilie einen den Anforderungen des Art. 3 EMRK genügenden Lebensstandard (vgl. BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 33 ff.) durch Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften, zumal es ihnen möglich und zumutbar ist auf Rückkehr- und Starthilfen für freiwillige Rückkehrer nach C... zurückzugreifen (vgl. zur Berücksichtigung von Rückkehrhilfen: BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 20.21 – juris Rn. 25 ff.).
40
Die Klägerin zu 1) hat im Heimatland nach eigenen Angaben 14 Jahre die Schule besucht und in G,eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Der traditionelle Ehemann der Klägerin zu 1) hat nach eigenen Angaben in seiner Anhörung zwar keine formale Schulbildung erhalten, allerdings den Beruf des Elektrikers ausgeübt (Bl. 116 der Behördenakte betreffend den traditionellen Ehemann). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Klägerin zu 1) und ihrem traditionellen Ehemann vor diesem Hintergrund eine Arbeitsaufnahme in C... nicht möglich sein sollte.
41
Die Klägerin zu 1) hat für sich selbst keine Gründe vorgetragen, die auf eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Falle einer Rückkehr schließen lassen. Das Gericht geht zudem nicht davon aus, dass der Klägerin zu 1) als erwachsener Frau, die bereits in der Vergangenheit einen derartigen Eingriff erlitten hat, im Falle einer Rückkehr erneut eine Beschneidung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wovon die Klägerin zu 1) auch selbst ausgeht (Bl. 376 der Behördenakte). Ungeachtet dessen steht ihr nach obigen Ausführungen eine innerstaatliche Aufenthaltsalternative zur Verfügung.
42
Da den Klägerinnen zu 2) und 3) nach vorstehenden Ausführungen in C... keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob eine solche in G. , dem Land ihrer weiteren Staatsangehörigkeit, drohen würde.
43
Das Gericht geht aufgrund der von der Beklagten herangezogenen Regelungen des Staatsangehörigkeitsrechts G. s bzw. C...s davon aus, dass die Klägerinnen zu 2) und 3) sowohl ivorische als auch guineische Staatsangehörige sind, da sich die Staatsangehörigkeit auch bei einer Geburt im Ausland jedenfalls von den Eltern ableitet (vgl. Bl. 372 der Behördenakte).
44
Im Falle mehrerer Staatsangehörigkeiten ist das Vorliegen der Schutzvoraussetzungen zwar im Hinblick auf sämtliche Herkunftsländer zu prüfen, allerdings kommt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nur dann in Betracht, wenn in sämtlichen in Frage kommenden Staaten die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht und hat dementsprechend auszuscheiden, wenn dem Betroffenen ein Niederlassen in einem dieser Staaten möglich und zumutbar ist (BVerwG, U.v. 26.2.2009 – 10 C 50/07 – juris Rn. 36; zu letzterem: Wittmann in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, 19. Edition Stand: 1.7.2024, § 3 AsylG Rn. 24).
45
Dies ist nach obigen Ausführungen nicht der Fall, da die Klägerinnen zu 2) und 3) sich – gemeinsam mit ihren Eltern – zumutbarer Weise in C... niederlassen können, weshalb eine nähere Auseinandersetzung mit dem Herkunftsland G. unterbleiben kann.
46
Nach alledem haben die Klägerinnen keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
47
b.) Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
48
Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid, macht sich diese aus eigener Überzeugung zu Eigen und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Ergänzend wird zudem auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. Die Klägerinnen müssen sich wie bereits ausgeführt insbesondere auf innerstaatliche Schutzmöglichkeiten verweisen lassen (§ 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3d und e AsylG).
49
Da den Klägerinnen zu 2) und 3) in C... kein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist auch insoweit ein näheres Eingehen auf die Verhältnisse in G,obsolet.
50
c.) Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
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Es ist insoweit voranzustellen, dass die Klägerinnen gemeinsam mit den weiteren Mitgliedern der gelebten Kernfamilie nach C... zurückkehren würden. Auf die obigen Ausführungen wird verwiesen.
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Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung eines Ausländers ist danach unzulässig, wenn ihm im Zielstaat unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht oder wenn im Einzelfall andere in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgte, von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannte Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht sind (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34/99 – juris Rn. 11).
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Dabei können unter bestimmten Umständen auch schlechte humanitäre Bedingungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen. Jedoch können schlechte humanitäre Verhältnisse nur in ganz außergewöhnlichen Fällen zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn es sich hierbei um zwingende humanitäre Gründe handelt (vgl. OVG NW, U.v. 24.3.2020 – 19 A 4470/19.A – juris m.w.N.). Aus der Rechtsprechung des EGMR (U.v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07 und 11449/07 – BeckRS 2012, 8036 – Rn. 278) und des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12) ergibt sich, dass die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraussetzt. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind. Entscheidend ist, dass die Person keiner Situation extremer materieller Not ausgesetzt wird, die es ihr unter Inkaufnahme von Verelendung verwehrt, elementare Bedürfnisse zu befriedigen.
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Nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris) ist bei der dabei anzustellenden Gefahrenprognose grundsätzlich nur darauf abzustellen, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr in der Lage ist, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Hierbei ist insbesondere auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehr- und Starthilfen für freiwillige Rückkehrer nach C... nach dem REAG/GARP-Programm (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/ivory-coast) hinzuweisen.
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Damit ist die Finanzierung eines einfachen Lebensunterhalts in den ersten Monaten nach der Rückkehr nach C... grundsätzlich möglich. Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG,
U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – BVerwGE 104, 265; VGH BW, U.v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris). Dementsprechend ist es den Klägern möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach C... freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen (vgl. zur Berücksichtigung von Rückkehrhilfen: BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 20.21 – juris Rn. 25 ff.).
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Im Übrigen stellen sich die allgemeinen Lebensverhältnisse in C... nach den vorliegenden Erkenntnismitteln (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 20 ff.; BFA, a.a.O., S. 30 f.) ausgehend von obigen Ausführungen nicht generell als derartig defizitär dar, als dass im Allgemeinen von einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Rückkehr auszugehen wäre, wie das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid bereits ausführlich dargestellt hat und worauf im Einzelnen verwiesen wird (§ 77 Abs. 3 AsylG).
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d.) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Das Gericht verweist insoweit auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides und sieht von einer weiteren Darstellung ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Die Klägerinnen haben diesbezüglich nichts vorgetragen, was eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würde.
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e.) Die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nr. 6 des Bescheides sind dagegen rechtswidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) steht der Abschiebungsandrohung aufgrund der im Vergleich zu ihrem Vater (G. ) unterschiedlichen Zielstaatszeichnung (C...) das Kindeswohl der Klägerinnen zu 2) und 3) entgegen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG).
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Die Abschiebungsandrohung stellt eine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne des Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der RL 2008/115/EG (sogenannte Rückführungsrichtlinie) dar (BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41, 45 und 56; BVerwG, B.v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 – juris Rn. 18) und hat gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in gebührender Weise zu berücksichtigen. Dabei müssen die Situation des Minderjährigen bzw. die familiäre Bindung umfassend und eingehend beurteilt werden. Entscheidend für die Gewichtung des Kindeswohls sind insoweit Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 GRCh i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG. Art. 24 Abs. 3 GRCh misst ausdrücklich regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten Kontakten – das meint das unmittelbare Zusammensein, aber auch andere direkte Kontakte (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 19 f.; s.a. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 58) – große Bedeutung bei (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 6 m.w.N.). Maßgeblich ist somit, ob im konkreten Einzelfall eine tatsächlich gelebte Eltern-Kind-Beziehung, welche vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK, Art. 6 GG umfasst ist, besteht, was im Wesentlichen von den konkret-individuellen Umständen des Familienlebens abhängt (BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 63 m.w.N.).
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Wie bereits oben näher ausgeführt, ist das Gericht aufgrund der Aktenlage und des Eindrucks in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass zwischen den Klägerinnen und dem traditionellen Ehemann der Klägerin zu 1) bzw. dem Vater der Klägerinnen zu 2) und 3) eine tatsächliche Verbundenheit im obigen Sinne besteht. Die Klägerinnen zu 2) und 3) sind drei und vier Jahre alt und daher in besonderem Maße auf die Fürsorge ihrer Eltern angewiesen. Dem Vorliegen einer derartigen, von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Lebensgemeinschaft zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist die Beklagtenseite nicht substantiell entgegengetreten. Auch ist zu berücksichtigen, dass noch sehr kleine Kinder einen nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen können und eine solche rasch als endgültigen Verlust erfahren (BVerwG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 64). Das Gericht verkennt nicht, dass weder die Klägerinnen noch die restliche Kernfamilie aktuell über ein gesichertes Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland verfügen. Jedoch können für die Mitglieder einer nach Art. 8 EMRK geschützten Kernfamilie keine Abschiebungsandrohungen in unterschiedliche Zielstaaten erfolgen, da in diesem Fall eine familiäre Trennung droht, die dem Kindeswohl der Klägerinnen zu 2) und 3) widerspricht. Bei einem Vollzug der in den unterschiedlichen Verfahren getroffenen Abschiebungsandrohungen würde die Familieneinheit voraussichtlich in unzumutbarer Weise auseinandergerissen, weshalb konsequenter Weise auch die Abschiebungsandrohung gegenüber der Klägerin zu 1) keinen Bestand haben kann.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist es zudem nicht ausreichend, dass das Kindeswohl ggf. durch die Ausländerbehörde im Rahmen des dem Asylverfahren nachgelagerten Vollzugsverfahrens berücksichtigt wird (EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – BeckRS 2023, 2302 Rn. 28). Vielmehr hat die Beklagte bereits beim Erlass der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen, dass das geschützte familiäre Zusammenleben nicht durch eine (drohende) Abschiebung in verschiedene Zielstaaten verletzt wird. Sie hat die Wahrung der Familieneinheit dahingehend sicherzustellen, dass eine Abschiebung nur gemeinsam in einen übereinstimmenden Zielstaat angedroht wird.
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Der Umstand, dass die Beklagte in der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung darauf hingewiesen hat, dass eine Abschiebung auch in einen anderen aufnahmebereiten Staat erfolgen kann, ist rein deklaratorischer Natur und stellt keine Vollstreckungsgrundlage für eine etwaige Abschiebung der Klägerinnen nach G. dar (vgl. OVG NW, B.v. 13.1.2020 – 19 A 2730/19.A – juris Rn. 3 m.w.N.; Kluth in BeckOK, Ausländerrecht, 42. Edition Stand: 1.7.2024, § 59 AufenthG Rn. 32; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 59 AufenthG Rn. 52).
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Aufgrund der Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung ist auch die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheides rechtswidrig und aufzuheben, da hierfür nach § 75 Nr. 12 i.V.m. § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG eine Abschiebungsandrohung Voraussetzung ist.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.