Titel:
Dublin-Verfahren (Zuständigkeitsübergang nach Fristversäumnis für Aufnahmegesuch)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
Dublin III-VO Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3, Art. 23 Abs. 3
Leitsatz:
Beruht das Aufnahmegesuch auf einer Eurodac-Treffermeldung, ist es so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Treffermeldung zu stellen; wird das Aufnahmegesuch auf "andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System" gestützt, ist es innerhalb von drei Monaten nach Asylantragstellung an den anderen Mitgliedsstaat zu richten. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufnahmegesuch, Fristen, Zuständigkeitsübergang, Eurodac-Treffer, andere Beweismittel
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35320
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2024 (Gz.: …*) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien im Rahmen eines sog. „Dublin-Verfahrens“.
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1. Der Kläger, eigenen Angaben zufolge somalischer Staatsangehöriger, reiste im Dezember 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte am 20. Dezember 2024 ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch behördliche Mitteilung vom selben Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Am 3. Januar 2024 stellte der Kläger einen förmlichen Asylantrag.
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Für das Bundesamt lagen aufgrund einer entsprechenden Eurodac-Abfrage vom 20. Dezember 2024 Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Die Eurodac-Treffermeldung ergab einen Treffer der Kategorie 2 zu Italien (Zeitpunkt des Aufgriffs am 22.6.2023) und einen Treffer der Kategorie 1 zur Schweiz (Zeitpunkt der Antragstellung am 2.8.2023). Auf das Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 20. Februar 2024 teilten die schweizerischen Behörden mit Schreiben vom selben Tag mit, dass dem Ersuchen nicht stattgegeben werden könne, da Italien für die Durchführung des Asylverfahrens weiter zuständig sei. Das seitens des Bundesamts am 21. Februar 2024 daraufhin an die italienischen Behörden gerichtete weitere Aufnahmeersuchen blieb unbeantwortet.
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Am 25. Juni 2024 fand die Anhörung des Klägers beim Bundesamt statt. Auf seine dabei gemachten Angaben wird Bezug genommen.
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Mit Bescheid vom 27. Juni 2024 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Ziffer 3), und das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Wegen der Begründung wird auf den vorgenannten Bescheid Bezug genommen. Ausweislich der bei den Behördenakten befindlichen Postzustellungsurkunde wurde der Bescheid dem Kläger am 29. Juni 2024 zugestellt.
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2. Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 2. Juli 2024, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ließ der Kläger gegen den vorgenannten Bescheid des Bundesamts Klage erheben und beantragen,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2024 aufzuheben.
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Zur Begründung ließ der Kläger im Wesentlichen vortragen, dass eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG voraussetze, dass eine Abschiebungsanordnung nach Italien auch tatsächlich innerhalb der Überstellungsfrist durchgeführt werden könne. Davon könne aufgrund der aktuellen Weigerung Italiens, Dublin-Rückkehr wiederaufzunehmen, nicht ausgegangen werden, zumal diese Weigerungshaltung seit Dezember 2022 bestehe.
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3. Mit Schriftsatz des Bundesamts vom 3. Juli 2024 beantragt die Beklagte,
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Zur Begründung bezog sie sich zunächst auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend führte das Bundesamt aus, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens vorliegend nicht auf die Beklagte übergegangen sei, da das Übernahmeersuchen an Italien nicht aufgrund des Eurodac-Treffers gestellt worden sei, sondern aufgrund der Rückmeldung der schweizerischen Behörden und somit auf Grundlage anderer Beweismittel im Sinne des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Damit habe vorliegend die dreimonatige Frist ab Zeitpunkt der Äußerung des Asylgesuchs des Klägers gegolten.
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4. Mit Beschluss vom 15. Juli 2024 hat das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet (W 4 S 24.50221). Auf die Gründe dieses Beschlusses wird verwiesen.
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Mit gerichtlichen Schreiben jeweils vom 29. August 2024 wurden die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
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Mit Beschluss vom 24. September 2024 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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5. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte im diesem Verfahren und im Verfahren W 4 S 24.50221 sowie auf die beigezogene Bundesamtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten hierzu nach § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO angehört wurden.
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Die Klage ist zulässig und begründet, denn der Bescheid des Bundesamts vom 27. Juni 2024 ist zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Da Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt, da Italien nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers sei.
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Diese Entscheidung ist rechtswidrig, da die Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung des Asylantrags des Klägers noch vor Erlass des hier streitgegenständlichen Bescheids nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO bzw. nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden war.
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1.1. Dem Bundesamt lagen ausweislich der Behördenakte (vgl. Blatt 5 f. der elektr. Behördenakte) am 20. Dezember 2023 Eurodac-Treffermeldungen bezüglich Italien (Treffer der Kategorie 2, Zeitpunkt des Aufgriffs am 22.6.2023) sowie der Schweiz (Treffer der Kategorie 1, Zeitpunkt der Antragstellung am 2.8.2023) vor. Am 20. Februar 2024, also am letzten Tag der Zwei-Monats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 bzw. Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin III-VO, richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an die schweizerischen Behörden. Diese lehnten mit Schreiben vom selben Tag das Ersuchen ab, da Italien (weiterhin) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei (vgl. Blatt 69 der elektr. Behördenakte). Erst am 21. Februar 2024 richtete das Bundesamt daraufhin ein weiteres Übernahmeersuchen an Italien, das in der Folge unbeantwortet blieb. Dabei hat das Bundesamt dieses Ersuchen in seiner Begründung einerseits auf andere Beweismittel („based on evidence“) gestützt, andererseits hat es unter dem Punkt „sonstige zweckdienliche Informationen“ auf den entsprechenden Eurodac-Treffer zu Italien Bezug genommen bzw. hingewiesen (vgl. Blatt 72 der elektr. Behördenakte).
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1.2. Unter Berücksichtigung des Wortlauts, der Systematik und des Sinn und Zwecks der hier einschlägigen Regelungen der Dublin III-VO ist zum 21. Februar 2024 jedoch bereits die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden (vgl. Art. 23 Abs. 3 i.Vm. Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO bzw. Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 i.Vm. Unterabs. 2 Dublin III-VO). Dies gilt dabei unabhängig davon, ob man vorliegend Art. 23 Dublin III-VO für einschlägig hält, da der Kläger in der Schweiz bereits einen Asylantrag gestellt hat, oder Art. 21 Dublin III-VO, da der Kläger jedenfalls in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hat. Denn die Fristen sind insoweit gleichlaufend, ebenso die grundsätzliche Regelungssystematik in Art. 23 und Art. 21 Dublin III-VO.
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Sowohl Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin III-VO als auch Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO bestimmen, dass im Falle einer Eurodac-Treffermeldung das entsprechende (Wieder-)Aufnahmegesuch so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Treffermeldung zu stellen ist. Nur wenn das Wieder-Aufnahmegesuch auf „andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System“ gestützt wird, ist das Wiederaufnahmegesuch innerhalb von drei Monaten nach Asylantragstellung an den anderen Mitgliedsstaat zu richten (vgl. Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO). In Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin III-VO gilt im Falle eines Eurodac-Treffers die Zwei-Monats-Frist „abweichend“ von der dreimonatigen Frist in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO.
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Nach Wortlaut und Systematik der beiden Vorschriften wird somit eindeutig danach unterschieden, ob eine Eurodac-Treffermeldung vorliegt oder nicht. Dies hat den Hintergrund, dass im Falle einer solchen Treffermeldung ein förmliches Beweismittel vorliegt, das das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats gegenüber Fällen, in denen kein solches Ergebnis vorliegt, vereinfacht, wodurch auch die kürzere Frist gerechtfertigt ist. (vgl. hierzu EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – juris Rn. 71 f.).
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Worauf das Bundesamt sein Ersuchen konkret stützt, ist nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut nicht entscheidend. Denn zwischen Art. 21 Abs. 1 Unterabsätze 1 und 2 bzw. Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO besteht demnach ein Alternativverhältnis (in diesem Sinne wohl auch EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – juris Rn. 72; so auch die ganz überwiegende Literaturauffassung, vgl. etwa Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand: 9/2024, § 29 Rn. 250; Hailbronner, Ausländerrecht, 137./138. Update, § 29 AsylG Rn. 41 sowie Rn. 43d; Hruschka in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Auflage 2021, § 29 AsylG Rn. 32; Nuckelt in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2024, § 29 AsylG Rn. 16 und Rn. 19).
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Für diese Sichtweise spricht schließlich auch Sinn und Zweck der Dublin III-VO. Denn nach deren Erwägungsgrund 5 ist es gerade Ziel der Dublin III-VO, Anträge auf internationalen Schutz gerade auch zum Schutz der Antragsteller (vgl. hierzu Erwägungsgrund 19) zügig zu bearbeiten. Dementsprechend sehen sowohl Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 als auch Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO vor, dass ein (Wieder-) Aufnahmegesuch grundsätzlich „so bald wie möglich“ zu stellen ist.
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Schließlich ist es für das Bundesamt im Falle des Vorliegens mehrerer Eurodac-Treffer für einen Asylantragsteller nicht nur gesetzlich geboten („so bald wie möglich“), sondern auch zumutbar, ein erstes (Wieder-)Aufnahmegesuch so rechtzeitig zu stellen, dass ggf. auch noch weitere Gesuche innerhalb der Zwei-Monats-Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 bzw. Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO gestellt werden können, zumal der Arbeitsaufwand für das Erstellen eines (Wieder-)Aufnahmegesuchs überschaubar ist, insbesondere wenn es auf einen Eurodac-Treffer gestützt werden kann.
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1.3. Da im vorliegenden Fall dem Bundesamt bereits am 20. Dezember 2023 auch eine Eurodac-Treffermeldung bezüglich Italien vorlag und das Bundesamt hierauf im (Wieder-)Aufnahmeersuchen an die italienischen Behörden auch hingewiesen bzw. Bezug genommen hat, hätte das Bundesamt nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck der hier einschlägigen Vorschriften der Dublin III-VO bis spätestens zum 20. Februar 2024 das entsprechende Ersuchen an Italien richten müssen.
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Da dies erst am 21. Februar 2024, also nach Ablauf der Zwei-Monats-Frist geschah, ist die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags des Klägers gem. Art. 23 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Unterabs. 1 AsylG bzw. Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 i.V.m. Unterabs. 2 auf die Beklagte übergegangen.
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Das Bundesamt durfte daher den Asylantrag des Klägers nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG als unzulässig ablehnen. Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist damit rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. hierzu EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – Ls. 1) und war daher aufzuheben.
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2. In der Folge sind auch die Ziffern 2 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheids rechtswidrig und damit aufzuheben.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.