Inhalt

VG München, Urteil v. 26.11.2024 – M 24 K 23.32415
Titel:

Folgeantrag, Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (verneint), Hilfsantrag, Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, Anspruch auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung und der Einreise- und Aufenthaltsverbote, Passivlegitimation, Kindeswohl

Normenketten:
AsylG § 71
VwVfG § 51
AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
Schlagworte:
Folgeantrag, Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (verneint), Hilfsantrag, Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, Anspruch auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung und der Einreise- und Aufenthaltsverbote, Passivlegitimation, Kindeswohl
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35226

Tenor

I.Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. Oktober 2023 verpflichtet, im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens die Verfügungen in den Ziffern 5 bis 7 im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juni 2017 aufzuheben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.Die Klägerin und die Beklagte haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Kostenschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweilige Kostengläubigerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Die Klägerin ist nordmazedonische Staatsangehörige und begehrt asyl- und aufenthaltsrechtlichen Schutz.
2
Die Klägerin stellte erstmals am 9. Mai 2017 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Mit bestandskräftigem Bescheid vom 2. Juni 2017 (Az. …*) lehnte das Bundesamt die Anträge auf internationalen Schutz bzw. Asylanerkennung (Nrn. 1 bis 3) jeweils als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde – unter Androhung der Abschiebung – aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Nr. 5). Weiter wurde ein unbedingtes und ein bedingtes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und jeweils befristet (Nr. 6 und Nr. 7).
3
Am 26. September 2023 stellte die Klägerin erneut einen Asylantrag beim Bundesamt, der zunächst nicht näher begründet wurde. Mit Schreiben vom 28. September 2023 teilte der Bevollmächtigte der Klägerin dem Bundesamt mit, dass davon auszugehen sei, dass es sich bei der Zwillingsschwangerschaft der Klägerin um eine Risikoschwangerschaft handele. Sie habe bereits Anfang 2023 eine Totgeburt gehabt. Weiter teilte der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 12. Oktober 2023 mit, dass der Vater der ungeborenen Kinder im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei. Dies habe Auswirkungen auf die im Verfahren … erlassene Rückführungsentscheidung. Der Aufenthaltstitel des Vaters müsse zur Folge haben, dass die Rückführungsentscheidung aufgehoben werde. Er verwies auf die Entscheidung des EuGH vom 15. Februar 2023 – C-484/22.
4
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 24. Oktober 2023, Az. … – ein Zustellnachweis findet sich nicht in der Akte – lehnte das Bundesamt den Asylantrag vom 26. September 2023 als unzulässig ab (Nr. 1). Der Antrag auf Abänderung des früheren Bescheids bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten wurde abgelehnt (Nr. 2).
5
Am 20. Februar 2024 gebar die Klägerin zwei Kinder. Für beide wurde bereits am 6. November 2023 die Vaterschaft durch einen nordmazedonischen Staatsangehörigen, der Inhaber einer Niederlassungserlaubnis ist, anerkannt. Beide Kinder sind derzeit Inhaber von Fiktionsbescheinigungen (gültig bis zum 15.2.2025) und leben mit der Mutter und dem Vater in einer gemeinsamen Wohnung.
6
Gegen den Bescheid vom 24. Oktober 2023 ließ die Klägerin am 3. November 2023 durch ihren Bevollmächtigten Klage zum Verwaltungsgericht München erheben. Der Bevollmächtigte beantragt für die Klägerin,
7
den Bescheid des Bundesamts vom 24. Oktober 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ein neues Asylverfahren durchzuführen, hilfsweise festzustellen, dass die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung aus dem Asylerstbescheid aufgehoben werden und weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote vorliegen.
8
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Rückführungsentscheidung bereits verbraucht sei, weil die Klägerin nach Erhalt des Bescheids vom 2. Juni 2017 nach Nordmazedonien zurückgekehrt sei. Jedenfalls sei die Rückkehrentscheidung aus dem Bescheid vom 2. Juni 2017 nach der Rechtsprechung des EuGH aufzuheben, weil das Wohl der Kinder angemessen zu berücksichtigen sei. Weiter müssten nach der Rechtsprechung des EuGH neben der Aufhebung der Rückführungsentscheidung auch Abschiebungsverbote festgestellt werden.
9
Die Beklagte beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Aufhebung der Ziffern 5 bis 7 des Bescheides vom 2. Juni 2017 nicht in Betracht komme, weil die Beklagte nicht passivlegitimiert sei. Die Abschiebungsandrohung sei bestandskräftig. Die angesprochene EuGH-Rechtsprechung und der in deren Folge erlassene § 34 Abs. 1 Nr. 5 Asylgesetz (AsylG) würden nicht die – hier vorliegende – Ablehnung eines Folgeantrags ohne neue Rückkehrentscheidung betreffen. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 5 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) mit Aufhebung der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung. Jedenfalls lägen die Voraussetzungen für eine Ermessensreduktion nicht vor. Änderungen des Unionsrechts würden nicht zur Aufhebung nach § 51 Abs. 5 VwVfG verpflichten. Das Festhalten an der bestandskräftigen Entscheidung führe nicht zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis, sodass sich das Ermessen nicht zu einem Anspruch verdichte. Die Klägerin könne Schutz vor einer Abschiebung (auch) gegenüber der Ausländerbehörde geltend machen und erlangen.
12
Die Entscheidung der Rechtsstreitigkeit wurde mit Kammerbeschluss vom 20. September 2024 auf den Einzelrichter übertragen. Die Klagepartei verzichtete im Schreiben vom 7. November 2024 auf eine mündliche Verhandlung. Ebenso verzichtete die Beklagte mit Schreiben vom 11. November 2024 auf eine mündliche Verhandlung.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten dieses Verfahrens und des Klageverfahrens, sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14
Die Klage hat im Hilfsantrag Erfolg.
15
1. Über die Klage konnte aufgrund des jeweiligen Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
16
2. Soweit die Klägerin im zulässigen Hauptantrag beantragt, unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 24. Oktober 2023 durchzuführen, ist die Klage unbegründet und daher abzuweisen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens.
17
Das Bundesamt hat den Folgeantrag in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids zu Recht als unzulässig abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorliegen (§ 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der zutreffenden Begründung des Bescheids und sieht – vorbehaltlich der nachfolgenden ergänzenden bzw. zusammenfassenden Ausführungen – von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG).
18
Die Klägerin hat nichts dahingehend vorgetragen, dass sie im Heimatland wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Diskriminierung betroffen sei (vgl. Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz – GG und § 3 Abs. 1 AsylG). Auch hinsichtlich eines ernsthaften Schadens im Heimatland im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG wurde nichts vorgetragen. Die Klägerin bringt lediglich inlandsbezogene Gründe vor. Sie stützt ihren Vortrag auf Familienangehörige, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten. Hinsichtlich der Fortsetzung des Asylverfahrens fehlt es damit an der Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung (vgl. BVerfG, B.v. 4.12.2019 – 2 BvR 1600/19 – juris Rn. 20 m.w.N.).
19
3. Die Klage hat hinsichtlich des ersten Hilfsantrags Erfolg.
20
3.1. Der erste Hilfsantrag ist gemäß § 88 VwGO im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahingehend auszulegen, dass (hilfsweise) beantragt wird, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24. Oktober 2023 zu verpflichten, im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens die Abschiebungsandrohung sowie die Einreise- und Aufenthaltsverbote im Bescheid vom 2. Juni 2017 aufzuheben. Das Gericht ist gemäß § 88 VwGO nicht an die Fassung des Antrags gebunden, der die Verpflichtung zu einer Feststellung beinhaltet und insofern nicht sachgerecht ist, weil die Feststellung einer Aufhebung rechtlich bedeutungslos ist. Rechtsgestaltenden Charakter hat allein die Aufhebung selbst. Sachgerecht ist daher, direkt die Verpflichtung zur Aufhebung von Abschiebungsandrohung und Ausreiseaufforderung zu begehren.
21
Die prozessuale Bedingung des Misserfolgs des Hauptantrags ist eingetreten. Die Klage ist ebenfalls als Versagungsgegenklage gemäß § 42 Abs. 1 Var. 3 VwGO statthaft. Mit Bescheid vom 24. Oktober 2023 hat das Bundesamt das Wiederaufgreifen des Verfahrens abgelehnt; ausdrücklich hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten und konkludent hinsichtlich der Aufhebung der Ziffern 5 bis 7 aus dem Bescheid vom 2. Juni 2017. Dies ergibt sich daraus, dass die Klägerin über ihren Bevollmächtigten mit dessen Schreiben vom 12. Oktober 2023 die Aufhebung der Rückführungsentscheidung aus dem Bescheid vom 2. Juni 2017 und damit schlüssig das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Abschiebungsandrohung einschließlich der hiermit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbote beantragt hatte. Hierüber hatte das Bundesamt also zu entscheiden, sodass davon auszugehen ist, dass die negative Entscheidung vom 24. Oktober 2023 jedenfalls konkludent auch die Ablehnung des Wiederaufgreifensantrags umfasst.
22
3.2. Die Klage ist im ersten Hilfsantrag begründet. Soweit der auf die Aufhebung der Abschiebungsandrohung (Ziff. 5) einschließlich der Einreise- und Aufenthaltsverbote (Ziff. 6 und 7) im Bescheid vom 2. Juni 2017 gerichtete Wiederaufgreifensantrag der Klägerin durch das Bundesamt abgelehnt wurde, ist dies rechtswidrig und rechtsverletzend (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung (Ziff. 5) und der Einreise- und Aufenthaltsverbote (Ziff. 6 und 7) im Bescheid vom 2. Juni 2017 im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens.
23
3.2.1. Die Beklagte ist passivlegitimiert.
24
Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist die Klage gegen den Bund, das Land oder die Körperschaft, deren Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen oder den beantragten Verwaltungsakt unterlassen hat. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Vorschrift trotz ihrer Formulierung, die Verpflichtungsklage nicht nur in ihrer Form der Untätigkeitsklage bei unterlassenem Behördenhandeln, sondern auch in der – hier vorliegenden – Form der Versagungsgegenklage nach der Ablehnung des Antrags auf Erlass eines Verwaltungsakts durch die Behörde erfasst (vgl. Meissner/Schenk in Schoch/Schneider, 45. EL Januar 2024, VwGO § 78 Rn. 32). Das Bundesamt hat den streitgegenständlichen Verwaltungsakt vom 24. Oktober 2023 erlassen. Rechtsträger des Bundesamts ist die Bundesrepublik Deutschland.
25
Soweit im Rahmen von Verpflichtungsklagen – insbesondere bei der Änderung der Zuständigkeit – eine von den genannten Grundsätzen abweichende Passivlegitimation gilt (vgl. BayVGH, B.v. 20.8.2021 – 10 C 21.1649 – juris Rn. 22; Eyermann, 16. Aufl. 2022, VwGO § 78 Rn. 31), ist dies hier nicht von Belang. Denn die Zuständigkeit hinsichtlich des streitgegenständlichen Wiederaufgreifens des Verfahrens hinsichtlich des Bescheides des Bundesamts vom 2. Juni 2017 hat sich nicht geändert. Diese oblag dem Bundesamt und obliegt diesem noch immer. Für das Wiederaufgreifen des Verfahrens richtet sich die örtliche und sachliche Zuständigkeit nach der Zuständigkeit, wie sie zum Zeitpunkt des Antrags auf Wiederaufgreifen für den Erlass des in Frage stehenden Verwaltungsaktes geregelt ist (Falkenbach in BeckOK VwVfG, 65. Ed. 1.10.2024, VwVfG § 51 Rn. 62). Hier steht ein Verwaltungsakt in Gestalt der Aufhebungsentscheidung bezüglich der Ziffern 5 bis 7 des Bescheids vom 2. Juni 2017 in Frage. Da für die Aufhebung von ablehnenden Bescheiden des Bundesamts fachrechtlich keine Zuständigkeit geregelt ist, ist das Bundesamt als diejenige Behörde zuständig, die für den Erlass des aufzuhebenden Verwaltungsakts zuständig wäre (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, 5. EL Juli 2024, VwVfG § 48 Rn. 329 und § 49 Rn. 206). Zuständig für den Erlass der Verfügungen unter den Ziffern 5 bis 7 des Bescheids vom 2. Juni 2017 wäre das Bundesamt (§ 34 Abs. 1 AsylG, § 75 Nr. 12 Aufenthaltsgesetz – AufenthG)
26
Eine abweichende Passivlegitimation ergibt sich – entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht daraus, dass die Ausländerbehörde zuständig sei. Die Ausländerbehörde ist zwar dafür zuständig, die Abschiebung der Klägerin ggf. auszusetzen (§ 60a Abs. 2 AufenthG). Im vorliegenden Verfahren streitgegenständlich ist aber nicht die Aussetzung der Abschiebung, sondern das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich Ziffern 5 bis 7 des Bescheids des Bundesamts vom 2. Juni 2017. Eine Zuständigkeit für ein Verwaltungshandeln, das nicht streitgegenständlich ist, kann die Passivlegitimation nicht beeinflussen.
27
3.2.2. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Abschiebungsandrohung sowie der hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbote gemäß § 51 VwVfG.
28
3.2.2.1. Der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zulässig.
29
Die Klägerin hat einen entsprechenden Antrag durch ihren Bevollmächtigten gestellt (§ 51 Abs. 1 VwVfG). Dieser hatte in seinem Schreiben vom 12. Oktober 2023 an das Bundesamt ausgeführt, dass die Rückführungsentscheidung aufgehoben werden müsse. Hiermit wurde deutlich, dass die Überprüfung der Abschiebungsandrohung – einschließlich der hiermit verknüpften Einreise- und Aufenthaltsverbote – begehrt wird. Die Klägerin hat den Wiederaufgreifensgrund auch schlüssig behauptet (zum Erfordernis Decker in BeckOK MigR, 17. Ed. 15.10.2023, VwVfG § 51 Rn. 8), indem sie zum damaligen Zeitpunkt vortragen ließ, dass sie schwanger sei und eine Abschiebung aus Gründen des Kindeswohls ausgeschlossen sei, weil der Vater Inhaber eines Aufenthaltstitels sei. Außerdem hat sie die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG eingehalten. Es ist nicht ersichtlich, dass sie von den entsprechenden Umständen mehr als drei Monate vor der Mitteilung am 12. Oktober 2023 Kenntnis hatte. Es war auch nicht möglich, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Die Schwangerschaft bestand erst seit 2023 und damit deutlich nach Abschluss des ersten Asylverfahrens.
30
Das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Abschiebungsandrohung sowie der Einreise- und Aufenthaltsverbote ist – entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht wegen eines Vorrangs der Berücksichtigung inlandsbezogener Gründe durch die Ausländerbehörde etwa im Rahmen der Aussetzung der Abschiebung ausgeschlossen (so auch Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 34 AsylG Rn. 113 f.).
31
Die Möglichkeit des Wiederaufgreifens des Verfahrens steht als Alternative neben der Möglichkeit, bei der Ausländerbehörde zur Verhinderung der Abschiebung deren Aussetzung zu erwirken. Im Sinne einer Absicherung seiner Rechtsposition muss einem Betroffenen die Möglichkeit verbleiben, auch die Abschiebungsandrohung, aufgrund der die Abschiebung vollstreckbar ist, zu beseitigen und nicht nur die Aussetzung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde zu erwirken. Denn mit dem Wiederaufgreifen und der Aufhebung der Abschiebungsandrohung kann er bereits die Grundlage einer Abschiebung beseitigen und so wesentlich mehr Rechtssicherheit gewinnen als wenn er alleine die Aussetzung ihres Vollzugs begehrt. Es ist dem Betroffenen nicht zumutbar, eine rechtswidrig gewordene Abschiebungsandrohung hinzunehmen und darauf zu vertrauen, dass diese aufgrund seiner inlandsbezogenen Gründe nicht vollstreckt wird (a.A. VG München, B.v. 24.8.2023 – M 13 ES 21.32795 – juris Rn. 72 f.).
32
Auch aus den Gesetzgebungsmaterialien zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG (vgl. BT-Drs. 20/9463, S. 58) ergibt sich nichts Anderes. Zwar ist richtig, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers mit der neu geschaffenen Regelung weiterhin zwischen der asyl- und ausländerrechtlichen Prüfzuständigkeit differenziert werden soll und er hinsichtlich bestandskräftigen Altfällen – auch beim Entfallen der Voraussetzungen für die Abschiebungsandrohung – die Ausländerbehörden als „sachnäher“ als das Bundesamt betrachtet. Dennoch schließt der Gesetzgeber die Möglichkeit der Berücksichtigung des Entfallens der Voraussetzungen für die Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt im Rahmen des Wiederaufgreifens des Verfahrens nicht aus. Ein solcher Ausschluss ergibt sich insbesondere nicht aus dem Verweis auf die Zuständigkeit der Ausländerbehörden für die „weiteren aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen“ (BT-Drs. 20/9463, S. 58), denn das Wiederaufgreifen des Verfahrens der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung ist gerade keine aufenthaltsrechtliche, sondern eine asylrechtliche Maßnahme. Die Möglichkeit, eine Korrektur der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung mittels eines Wiederaufgreifensantrags anzustreben, wird in der Gesetzesbegründung zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG nicht ausdrücklich thematisiert, obgleich die Möglichkeit eines solchen Antrags in einer Stellungnahme gegenüber dem Referentenentwurf erwähnt wurde (vgl. DAV, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Ausschuss Migrationsrecht zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung, S. 8 f.). Insofern ist davon auszugehen, dass ein Ausschluss von Wiederaufgreifensanträgen nicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Dies spiegelt sich auch in dem Verzicht auf eine Übergangsregelung zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG wieder (vgl. VG München, Gerichtsbescheid v. 6.3.2024 – M 10 K 24.30366 – juris Rn. 24).
33
Aus der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 1.2.2024 – 10 CE 24.191 – juris Rn. 10), auf die die Beklagte verweist, folgt kein anderes Ergebnis. Der vom Bundesamt vertretene Ausschluss des Wiederaufgreifens des Verfahrens ist nicht Gegenstand der bezeichneten Entscheidung. Sie befasst sich lediglich damit, ob die Durchbrechung der Bestandskraft der Rückkehrentscheidung unionsrechtlich geboten sei. Die Frage der unionsrechtlichen Gebotenheit stellt sich jedoch im vorliegenden Verfahren nicht. Entscheidend ist allein, dass eine gesetzliche Möglichkeit des Wiederaufgreifens nach nationalem Recht besteht. Darüber hinaus betrifft die genannte Entscheidung nicht die aktuelle Rechtslage, da sie am 1. Februar 2024 und damit vor Einführung des neuen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG (am 27.2.2024) erging.
34
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus den vom Bundesamt vorgebrachten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Bayreuth (U.v. 13.4.2023 – B 7 K 22.31218 – juris Rn. 53 f.) und des Verwaltungsgerichts Magdeburg (B.v. 27.7.2023 – 3 B 150/23 MD – juris Rn. 3). Diese beschränken sich auf die Feststellung, dass bei einem Asylfolgeantrag keine neue Rückkehrentscheidung bzw. Abschiebungsandrohung ergehe (vgl. § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG), weshalb inlandsbezogene Gründe (damals noch in Anbetracht der Entscheidung des EuGH vom 15.2.2023 – C-484/22) nicht zum Tragen kämen. Mit der hier vorliegenden Konstellation eines Wiederaufgreifensantrags bezüglich der Abschiebungsandrohung bzw. der Einreise- und Aufenthaltsverbote aus dem Asylerstbescheid beschäftigen sich die Entscheidungen nicht, da jeweils die Abschiebungsandrohung aus dem Erstbescheid nicht streitgegenständlich war.
35
3.2.2.2. Der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Abschiebungsandrohung einschließlich der Einreise- und Aufenthaltsverbote ist voraussichtlich begründet. Sach- und Rechtslage haben sich gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nachträglich zugunsten der Klägerin geändert.
36
Die Sachlage im Fall der Klägerin hat sich geändert. Entscheidend ist insofern der im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) gegebene Umstand, dass die Klägerin Mutter zweier Kinder ist, die Inhaber gültiger Fiktionsbescheinigungen sind. Dies war im Zeitpunkt des die Abschiebungsandrohung enthaltenden Bescheids im Jahr 2017 nicht der Fall, sodass eine Sachverhaltsänderung vorliegt. Darüber hinaus hat sich die Rechtslage zugunsten der Klägerin geändert. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG darf seit dem 27. Februar 2024 eine Abschiebungsandrohung nur erlassen werden, wenn der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen.
37
Aufgrund dieser Änderungen kommt eine für die Klägerin günstigere Entscheidung objektiv ernsthaft in Betracht. In Asylverfahren genügt bereits eine durch die Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetretene „Unsicherheit“ bei der Frage, ob sich die Änderung positiv auswirken wird (Falkenbach in BeckOK VwVfG, 65. Ed. 1.10.2024, VwVfG § 51 Rn. 33).
38
Die Beklagte hat gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG das Verfahren bei Vorliegen der Voraussetzungen wiederaufzugreifen. Da kein Ermessen besteht, kommt es insofern auch auf eine Ermessensreduktion nicht an.
39
3.2.3. Im Rahmen des wiederaufzugreifenden Verfahrens hat die Klägerin einen Anspruch auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung (Ziff. 5) und der Einreise- und Aufenthaltsverbote (Ziff. 6 und 7) im Bescheid vom 2. Juni 2017.
40
Ein solcher Anspruch ergibt sich – entgegen der Meinung der Klagepartei – nicht daraus, dass sich die Abschiebungsandrohung infolge der Ausreise der Klägerin erledigt habe. Aus § 71 Abs. 5 AsylG ergibt sich, dass nach unanfechtbarem Abschluss des Asylerstverfahrens allein das Verlassen des Bundesgebiets – sei es im Wege der Abschiebung oder durch freiwillige Ausreise – nicht zum Verbrauch der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung führt (VGH BW, B.v. 17.11.2023 – 12 S 986/23 – juris Rn. 20 m.w.N.).
41
Der Aufhebungsanspruch ergibt sich aus § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG. Da sich das Bundesamt im angefochtenen Bescheid vom 24. Oktober 2023 sachlich nicht mit den geltend gemachten inlandsbezogenen Umständen der Klägerin befasst hat, hat das Gericht diese Belange selbst zu prüfen und ist insofern zu einem „Durchentscheiden“ verpflichtet (VG München, Gerichtsbescheid v. 6.3.2024 – M 10 K 24.30366 – juris Rn. 24 mit Verweis auf BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 61).
42
Die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 2. Juni 2017 ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt. Sie ist mit § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG nicht vereinbar, da der Abschiebung der Klägerin mittlerweile das Wohl ihrer Kinder entgegensteht. Das Wohl der Kinder ist zu berücksichtigen, obwohl diese nicht Adressaten der Rückkehrentscheidung sind, BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 63 m.w.N.).
43
Eine gemeinsame Abschiebung der Klägerin mit ihren Kindern ist ausgeschlossen, da die Kinder nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind. Deren Aufenthalt im Bundesgebiet gilt derzeit aufgrund der Fiktionsbescheinigungen als erlaubt (§ 81 Abs. 3, Abs. 5 AufenthG).
44
Eine im Fall der Abschiebung der Klägerin stattfindende Trennung von ihren Kindern wäre nicht mit dem Kindeswohl in Einklang zu bringen. Regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte haben für das Kindeswohl eine große Bedeutung. Auch ist zu berücksichtigen, dass noch sehr kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und eine solche rasch als endgültigen Verlust erfahren. Daher ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt der Kinder und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zur Mutter der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder dient (BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 63 f.). Diese Erwägungen gelten auch für den konkreten Fall der Klägerin. In ihrem Fall ist von einer tatsächlichen familiären Lebensgemeinschaft mit ihren Kindern auszugehen, in der die Klägerin die Elternverantwortung wahrnimmt. Dies folgt daraus, dass die Klägerin mit ihren Kindern und dem Vater der Kinder in einer gemeinsamen Wohnung wohnt und entgegenstehende Anhaltspunkte weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind. Zu ihrem Wohl sind die Kinder der Klägerin angesichts ihres geringen Alters von etwas mehr als acht Monaten auf die Aufrechterhaltung der Mutter-Kind-Beziehung angewiesen.
45
Das der Beklagten im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zustehende Ermessen ist im vorliegenden Einzelfall auf Null reduziert. Die Aufrechterhaltung der rechtswidrigen bestandskräftigen Abschiebungsandrohung ist schlechthin unerträglich. Aufgrund der Abschiebungsandrohung steht eine rechtswidrige Abschiebung im Raum, die einen besonders intensiven Eingriff in die Rechte der Klägerin darstellen würde. Es ist durch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung sicherzustellen, dass die hier betroffenen besonders hochrangigen Rechtsgüter aus Art. 6 Abs. 1 GG (entsprechend ihrer einfachgesetzlichen Ausgestaltung in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG, s.o.) zur Geltung kommen. Der Klägerin ist es nicht zumutbar, die rechtswidrige Abschiebungsandrohung hinzunehmen und somit weiter darauf angewiesen zu sein, dass diese – im Wege der Aussetzung nach § 60a Abs. 2 AufenthG – nicht vollstreckt wird. Es ist sicherzustellen, dass die Abschiebung nicht vollzogen werden kann, indem ihr die Grundlage in Form der Abschiebungsandrohung entzogen wird.
46
Durch die Verpflichtung zur Aufhebung der Abschiebungsandrohung ist auch den erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverboten in Nummern 6 und 7 des Bescheids vom 2. Juni 2017 die rechtliche Grundlage entzogen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG), sodass diese ebenfalls vom Bundesamt aufzuheben sind.
47
4. Über den zweiten Hilfsantrag – betreffend Abschiebungsverbote – ist nicht zu entscheiden, da die prozessuale Bedingung nicht eingetreten ist. Ein Hilfsantrag wird für den Misserfolg des Hauptantrags gestellt. Bei mehreren Hilfsanträgen, wird der weitere Hilfsantrag für den Fall des Misserfolgs des vorherigen Hilfsantrags gestellt. Da hier der vorherige (erste) Hilfsantrag – betreffend das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Abschiebungsandrohung – Erfolg hatte, liegt der Misserfolg, der für den Eintritt der Bedingung des zweiten Hilfsantrags erforderlich ist, nicht vor.
48
5. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
49
6. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).