Titel:
Drittanfechtung einer Baugenehmigung für eine Flüchtlingsunterkunft in einem Gewerbegebiet durch eine Gemeinde, hier: Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (erfolgreich)
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80a Abs. 3 S. 2
BauGB § 14
BauGB § 30 Abs. 1
BauGB § 35 Abs. 5 S. 2
BauGB § 246 Abs. 14
Schlagworte:
Drittanfechtung einer Baugenehmigung für eine Flüchtlingsunterkunft in einem Gewerbegebiet durch eine Gemeinde, hier: Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (erfolgreich)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 35222
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Landratsamts … vom 25. Juni 2024 (Az. … / …*) in Gestalt des Ergänzungsbescheids vom 31. Juli 2024 (Az. … / …*) wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die der Beigeladenen erteilte, auf elf Jahre befristete Baugenehmigung für den Neubau von drei Containergebäuden als Unterkunft für Flüchtlinge und Asylbegehrende auf dem Grundstück FlNr. 2577, Gemarkung V. (Baugrundstück).
2
Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 64 „Gewerbegebiet W. III“ in der Fassung der 4. Änderung, der für das Baugrundstück ein Gewerbegebiet festsetzt, in dem Anlagen für soziale Zwecke ausnahmsweise zugelassen werden können.
3
Im März 2024 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer auf elf Jahre befristeten Baugenehmigung für den Neubau von drei Containergebäuden als Unterkunft für Flüchtlinge und Asylbegehrende.
4
Nach Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens fasste der Gemeinderat der Antragstellerin in der Sitzung vom 30. April 2024 einen auch das Baugrundstück betreffenden Aufstellungsbeschluss für die 5. Änderung des Bebauungsplans Nr. 64 „W. III“ und erließ hierzu eine Veränderungssperre. Aufstellungsbeschluss und Veränderungssperre wurden am 2. Mai 2024 bekannt gemacht.
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Mit Schreiben vom 17. Mai 2024 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, dass das streitgegenständliche Vorhaben im Geltungsbereich der Veränderungssperre liege. Eine Ausnahme hiervon könne nicht zugelassen werden. Der Antragsgegner beabsichtige, nach § 246 Abs. 14 BauGB insbesondere von der Veränderungssperre abzuweichen. Die Antragstellerin wurde hierzu unter Hinweis auf § 246 Abs. 14 Satz 3 BauGB angehört und nahm mit E-Mail vom 13. Juni 2024 Stellung.
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Mit Bescheid vom 25. Juni 2024 (Az. … / F.-W.) genehmigte der Antragsgegner das Vorhaben nach Maßgabe der eingereichten Bauvorlagen (Tenorbuchstabe A.) unter Abweichung von den Vorschriften des Baugesetzbuchs und den aufgrund des Baugesetzbuchs erlassenen Vorschriften (Tenorbuchstabe B.). In der Begründung führte der Antragsgegner insb. aus, dass für das Vorhaben von den Vorschriften des Baugesetzbuchs und den aufgrund des Baugesetzbuches erlassenen Vorschriften gemäß § 246 Abs. 14 BauGB abgewichen werde. Mit Bescheid vom 31. Juli 2024 (Az. … / F.-W.) ergänzte der Antragsgegner die Begründung des vorgenannten Bescheids.
7
Am 11. Juli 2024 erhob die Antragstellerin Klage gegen den Bescheid vom 25. Juni 2024 und bezog am 13. August 2024 auch den Bescheid vom 31. Juli in diese Klage mit ein (Az. M 1 K 24.4132). Über die Klage ist noch nicht entschieden.
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Am 15. Oktober 2024 hat die Antragstellerin Eilrechtsschutz beantragt. Die angefochtene Baugenehmigung sei unbestimmt. § 246 Abs. 14 BauGB habe nicht angewendet werden dürfen. Die Geltungsdauer von elf Jahren sei jedenfalls unangemessen.
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Die Antragstellerin beantragt,
Die aufschiebende Wirkung der Klage zum Verwaltungsgericht München gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 25.06.2024, Az.: …, in der Gestalt des Ergänzungsbescheids des Landratsamts … vom 31.07.2024, Az.: … … wird angeordnet.
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Der Antragsgegner beantragt sinngemäß den Antrag abzulehnen.
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Der Antragsgegner tritt dem Vorbringen der Antragstellerin unter Vertiefung seiner Tatsachen- und Rechtsausführungen in den angefochtenen Bescheiden entgegen. Ergänzend führt er aus, die Bescheide seien hinreichend bestimmt.
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Die Beigeladene beantragt,
13
Auch die Beigeladene verteidigt die angefochtenen Bescheide.
14
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die beigezogene Behördenakte sowie die Gerichtsakten des Eil- und des Hauptsacheverfahrens.
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1. Der zulässige, insbesondere im Hinblick auf § 212a Abs. 1 BauGB auch im Falle der Anfechtungsklage einer Gemeinde statthafte Antrag nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO hat Erfolg.
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Nach summarischer Prüfung der derzeitigen Sach- und Rechtslage wird die im Hauptsacheverfahren erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich Erfolg haben, sodass das Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Baugenehmigung überwiegt.
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Das Gericht hat im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden eigenen Ermessensentscheidung abzuwägen, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Eilantrags. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. BayVGH, B.v. 18.9.2017- 15 CS 17.1675 – juris Rn. 11; B.v. 7.11.2022 – 15 CS 22.1998 – juris Rn. 25; BVerwG, B.v. 11.11.2020, 7 VR 5.20 – juris Rn. 8).
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Die in der Hauptsache erhobene Klage wird voraussichtlich Erfolg haben, da die Abweichungsentscheidung (Tenorbuchstabe B.) und die Baugenehmigung (Tenorbuchstabe A.) rechtswidrig sind und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Dem Vorhaben steht derzeit die Veränderungssperre der Antragstellerin gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 BauGB entgegen. Eine Ausnahme hiervon gemäß § 14 Abs. 2 BauGB hat der Antragsgegner nicht zugelassen und insoweit auch das gemeindliche Einvernehmen nicht eingeholt oder ersetzt.
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Auch die Voraussetzungen für ein Abweichen von der Veränderungssperre der Antragstellerin nach § 246 Abs. 14 BauGB lagen im Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Baugenehmigung nicht vor. Es fehlt an der nach § 246 Abs. 14 Satz 5 BauGB erforderlichen Verpflichtungserklärung des Vorhabenträgers, das Vorhaben spätestens nach Ablauf der Geltungsdauer der befristeten Baugenehmigung zurückzubauen und Bodenversiegelungen zu beseitigen.
21
Nach § 246 Abs. 14 Satz 1 BauGB kann, soweit auch bei Anwendung der von § 246 Abs. 8 bis 13 BauGB dringend benötigte Unterkunftsmöglichkeiten im Gebiet der Gemeinde, in der sie entstehen sollen, nicht oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden können, bei Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften oder sonstigen Unterkünften für Flüchtlinge oder Asylbegehrende bis zum Ablauf des 31. Dezember 2027 von den Vorschriften dieses Gesetzbuchs oder den aufgrund dieses Gesetzbuchs erlassenen Vorschriften in erforderlichem Umfang abgewichen werden.
22
Für unter Anwendung des § 246 Abs. 14 Satz 1 BauGB genehmigte Vorhaben bestimmen § 246 Abs. 14 Sätze 5 bis 8 i.V.m. § 35 Abs. 5 Satz 1 erster Halbsatz und Satz 3 BauGB als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung die Abgabe einer Verpflichtungserklärung durch den Vorhabenträger, das Vorhaben nach dauerhafter Aufgabe der zulässigen Nutzung (oder – im Falle einer Befristung – spätestens nach Ablauf der Geltungsdauer der Baugenehmigung) zurückzubauen und Bodenversiegelungen zu beseitigen. Die Erfüllung dieser Verpflichtung soll zudem von der Baugenehmigungsbehörde nach Maßgabe des § 35 Abs. 5 Satz 3 BauGB gesichert werden. Die Rückbauverpflichtung gilt dabei für alle Vorhaben, die nach § 246 Abs. 14 Satz 1 BauGB zugelassen worden sind, d.h. auch dann, wenn der Vorhabenstandort dem Außenbereich zuzuordnen sein sollte (BT-Drs. 18/6185, S. 55).
23
Das Anerkenntnis der Rückbaupflicht in Gestalt einer Verpflichtungserklärung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 35 Abs. 5 Satz 1 BauGB konstitutiv für die Genehmigungserteilung (BVerwG, U.v. 17.10.2012 – 4 C 5.11 – juris Rn. 10). Dies gilt nach Auffassung der Kammer auch bei entsprechender Anwendung dieser Vorschrift nach § 246 Abs. 14 Satz 5 BauGB. Insoweit kann die Rückbauverpflichtung zwar nicht dem Außenbereichsschutz dienen, wenn das nach § 246 Abs. 14 Satz 1 BauGB genehmigte Vorhaben nicht im Außenbereich liegt. Die Rückbauverpflichtung soll jedoch nach der Systematik des § 246 Abs. 14 BauGB absichern, dass der mit der Anwendung des Sonderabweichungstatbestandes verbundene Eingriff in die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich geschützte gemeindliche Planungshoheit auch in zeitlicher Hinsicht tatsächlich auf das Maß des Erforderlichen beschränkt bleibt (vgl. VG Würzburg, B.v. 12.6.2024 – W 5 S 24.502 – juris Rn. 41).
24
Im vorliegenden Fall fehlt es nach summarischer Prüfung derzeit an der Verpflichtungserklärung nach § 246 Abs. 14 Satz 5 i.V.m. § 35 Abs. 5 Satz 1 erster Halbsatz BauGB. Eine solche lässt sich den Akten nicht entnehmen, deren vollständige Übermittlung gegenüber dem Berichterstatter am 2. Dezember 2024 durch den Sachbearbeiter im Landratsamt R. telefonisch versichert wurde. Auch enthält der angefochtene Bescheid in Gestalt des Ergänzungsbescheids die Abgabe einer Verpflichtungserklärung nicht als Nebenbestimmung.
25
Auf die Verletzung des § 246 Abs. 14 Satz 5 BauGB kann sich die Antragstellerin, die sich einer Anwendung des § 246 Abs. 14 BauGB im Rahmen der Anhörung (E-Mail vom 13. Juni 2024, Bl. 79-80 der Behördenakte) widersetzt hat, voraussichtlich auch berufen. Wird eine Baugenehmigung unter rechtswidriger Abweichung von einer Veränderungssperre nach § 246 Abs. 14 BauGB erlassen, so wird die übergangene Gemeinde in ihrer verfassungsrechtlich geschützten Planungshoheit (Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 11 Abs. 2 BV) verletzt. Nach § 246 Abs. 14 Satz 3 zweiter Halbsatz tritt an die Stelle des gemeindlichen Einvernehmens eine Anhörung. Die Wirkungen einer rechtsfehlerhaften Anwendung des § 246 Abs. 14 BauGB sind somit vergleichbar mit Zulassung einer Ausnahme nach § 14 Abs. 2 Satz 1 BauGB unter Übergehung (oder rechtswidriger Ersetzung) des gemeindlichen Einvernehmens, wogegen die sich eine Gemeinde nach allgemeiner Ansicht zur Wehr setzen kann (siehe nur Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 155. EL August 2024, § 14 Rn. 146). Dieser Fehler erfasst auch – wiederum vergleichbar mit den Fällen der Genehmigungserteilung unter Verletzung der Vorschriften über das gemeindliche Einvernehmen und seine Ersetzung – die Baugenehmigung selbst, sodass die betroffene Gemeinde deshalb ihre Aufhebung verlangen kann (vgl. zum Ganzen Scheidler, ZfBR 2016, 756, 759; Beckmann, KommJur 2016, 366, 371).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO und § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GVG i.V.m. Nrn. 9.10 (analog), 1.5 des Streitwertkatalogs.