Inhalt

VGH München, Beschluss v. 03.12.2024 – 12 CE 24.1793
Titel:

Anspruch auf behördliches Einschreiten bei Gefährdung des Kindeswohls 

Normenketten:
GG Art. 6 Abs. 2 S. 1
SGB VIII § 8a
BGB § 1666
Leitsatz:
Aus dem Elternrecht kann angesichts seines dienenden Charakters und dem Kindeswohl als oberster Richtschnur im Einzelfall ein einklagbares Recht des nichtsorgeberechtigten Elternteils auf behördliches Einschreiten folgen, wenn hinreichende Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls gegeben sind, die der andere (sorgeberechtigte) Elternteil zu verhindern nicht imstande ist. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antragsbefugnis des nichtsorgeberechtigten Elternteils, Anspruch auf behördliches Einschreiten, Kindeswohl, schwerwiegende Gefährdung, hinreichende Anhaltspunkte, behördliches Einschreiten, Anspruch, nichtsorgeberechtigter Elternteil, Elterngrundrecht, Elternrecht, Einzelfall
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 17.10.2024 – RO 4 E 24.2350
Fundstellen:
FamRZ 2025, 372
LSK 2024, 34685
BeckRS 2024, 34685

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 17. Oktober 2024 wird zurückgewiesen.
II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
III. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

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Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 17. Oktober 2024 hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig; der Antragsteller ist nach § 42 Abs. 2 Satz 1 VwGO analog antragsbefugt.
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Die Annahme einer Antragsbefugnis erfordert, dass nach dem Vorbringen des Antragstellers dessen Verletzung in eigenen Rechten zumindest möglich erscheint. Hier kommt als möglicherweise verletztes Recht des Antragstellers sein verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiertes Elternrecht in Betracht. Das Verwaltungsgericht übersieht, dass dieses dem Antragsteller im Einzelfall einen Anspruch auf behördliches Einschreiten zum Zwecke der Prüfung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung vermitteln kann.
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1.1 Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Die Vorschrift verbürgt den Eltern ein klassisches Grundrecht, das sogenannte Elternrecht, das wesentlich im Interesse des Kindes besteht. Es umfasst die Gesamtsorge und -verantwortung für die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes. Daher wird mit dem Elternrecht ein umfassendes Bestimmungsrecht über das Kind begründet, das sowohl das Handeln gegenüber dem Kind als auch das Handeln für das Kind erfasst (Uhle in BeckOK GG, Stand 15.9.2024, Art. 6 Rn. 48, 52). Das Kindeswohl ist dabei die zentrale Leitidee des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Gegenüber dem Kind ist die Gewährleistung ein dienendes, ein treuhänderisches, ein fiduziarisches Grundrecht (Robbers in Huber/Voßkuhle, Grundgesetz, 8. Aufl. 2024, Art. 6 Rn. 145).
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Das Elternrecht steht dem Antragsteller als leiblichem Vater unabhängig von der Kindsmutter zu. Denn Träger des Elternrechts sind nicht die Eltern als Gemeinschaft, sondern jeder Elternteil für sich (vgl. BVerfG, U. v. 19.2.2013 – 1 BvL 1/11 – juris Rn. 51). Zudem bleibt er Träger seines Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, auch wenn er für seine Tochter zivilrechtlich nicht sorgeberechtigt ist und derzeit wohl auch kein Umgangsrecht besitzt. Dieses kann ihm nicht entzogen werden. Es ist als Menschenrecht i. S. v. Art. 1 Abs. 2 GG zu qualifizieren und somit unveräußerlich und unverletzlich (Heiderhoff in v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 102, 150).
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1.2 Aus dem Elternrecht kann angesichts seines dienenden Charakters und dem Kindeswohl als oberster Richtschnur im Einzelfall ein einklagbares Recht des nichtsorgeberechtigten Elternteils auf behördliches Einschreiten folgen, wenn hinreichende Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls gegeben sind, die der andere (sorgeberechtigte) Elternteil zu verhindern nicht imstande ist. Denn Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG weist dem Staat vor dem Hintergrund der Bindung des Elternrechts an das Wohl des Kindes das Amt des Wächters zu. Dieses berechtigt nicht nur zu den erforderlichen Maßnahmen, sondern ist dem Staat verpflichtend auferlegt (Uhle in Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Stand 15.9.2024, Art. 6 Rn. 60). Der grundrechtliche Anspruch des Kindes auf den Schutz des Staates gebietet es daher, dem nichtsorgeberechtigten Elternteil einen Anspruch darauf zu vermitteln, dass der Staat sein Wächteramt wahrnimmt, also bei Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls entsprechende Ermittlungen aufnimmt (§ 8a SGB VIII). Ob diese Voraussetzungen hier tatsächlich gegeben sind, ist eine Frage der Begründetheit des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz. Für die Bejahung der Antragsbefugnis genügt es, dass der Antragsteller möglicherweise in seinem Elternrecht verletzt ist.
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2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, weil der Antragsteller keinen Anordnungsgrund glaubhaft machen konnte.
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Der aktuelle Stand der familiengerichtlichen, jugendhilferechtlichen und strafrechtlichen Verfahren spricht gegen eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls.
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Das Jugendamt der Antragsgegnerin geht bis heute davon aus, dass keine gewichtigen Anhaltspunkte für die Gefährdung des Kindeswohls gegeben sind (vgl. zuletzt die Stellungnahme vom 7.10.2024, Bl. 65f. der Akte des Verwaltungsgerichts Regensburg). Das Familiengericht hat laut Antragsteller alle Anträge nach § 1666 BGB abgelehnt. Es sieht insofern also auch keine Kindeswohlgefährdung.
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Die Staatsanwaltschaft R. hat mit Verfügung vom 25. März 2024 das Ermittlungsverfahren gegen den Großvater nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Das Kind habe sowohl im Rahmen der Anhörung bei der Kriminalpolizei als auch bei der aussagepsychologischen Begutachtung keinerlei Angaben gemacht, die auf einen sexuellen Missbrauch durch den Beschuldigten hindeuteten. Die Sachverständige halte das Kind für das verfahrensgegenständliche Geschehen nicht für aussagetüchtig. Zudem sei bei der Beweiswürdigung kritisch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller angesichts der hochkonflikthaften familienrechtlichen Auseinandersetzung ein Falschbelastungsmotiv haben könne, und seine Angaben zur Aussageentstehung voneinander abwichen.
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Soweit der Antragsteller im Rahmen des Eilverfahrens eine „Gutachterliche Analyse einer Video- und zweier Tonaufzeichnungen“ vorgelegt hat, welche er selbst in Auftrag gegeben hat und die insbesondere die Aussagetüchtigkeit des Kindes bejaht, führt auch dies nicht zur Annahme eines Anordnungsgrundes. Denn eine reine „Analyse“ ist – zumal in einem lediglich summarischen Eilverfahren – per se nicht geeignet, ein umfassendes, auf einer persönlichen Exploration beruhendes Gutachten einer öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen substanziell in Frage zu stellen. Die „Analyse“ stellt somit entgegen der Ansicht des Antragstellers mitnichten einen Tatnachweis dar.
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3. Je nach dem Ergebnis der neuerlichen Ermittlungen, welche die Staatsanwaltschaft aufgrund der Beschwerde des Ergänzungspflegers gegen die Einstellungsverfügung wieder aufgenommen hat, steht es dem Antragsteller frei, einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO analog zu stellen und eine etwaige Änderung der Sachlage geltendzumachen.
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4. Die Beschwerde bleibt auch im Hinblick auf die Versagung der Beiordnung eines Opferanwalts ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass diese Möglichkeit allein im Rahmen der Nebenklage im Strafverfahren besteht.
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5. Aus den dargelegten Gründen hat auch die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe keinen Erfolg.
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6. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Beschwerdeverfahren war abzulehnen, weil – wie dargelegt – die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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7. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).