Titel:
Erfolgloser Eilantrag der Nachbarn gegen isolierte Befreiung von vorderer Baugrenze
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5, § 80a Abs. 3, § 212a Abs. 1
BauGB § 31 Abs. 2
BayVwVfG Art. 3 Abs. 1 Nr. 1, Art. 37 Abs. 1
BayBO Art. 63 Abs. 3 S. 1, Art. 66
Leitsätze:
1. Bei einer isolierten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB handelt es sich um eine bauaufsichtliche Zulassung iSd § 212a Abs. 1 BauGB. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen durch Baulinien oder Baugrenzen sind nicht generell drittschützend. Ob eine solche Festsetzung auch dem Schutz eines Nachbarn dienen soll, hängt vielmehr vom Willen des Planungsträgers ab. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. § 12 Abs. 2 BauNVO begründet für den Regelfall auch hinsichtlich der durch die Nutzung von Stellplätzen und Garagen verursachten Lärmimmissionen eine Vermutung der Nachbarverträglichkeit. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Nachbar kann nicht allein wegen eines Verstoßes gegen Art. 66 BayBO die Aufhebung einer isolierten Befreiung erreichen, da Art. 66 BayBO als solcher nicht nachbarschützend ist. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Auslegung von Anträgen, Isolierte Befreiung von der Baugrenze, Fahrspuren, Drittschutz von Festsetzungen eines Baulinienplans (verneint), Rücksichtnahmegebot, Nachbarbeteiligung, Prüfungsumfang im Befreiungsverfahren
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 09.12.2024 – 2 CS 24.1834
Fundstelle:
BeckRS 2024, 34365
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf EUR 3.750,- festgesetzt.
Gründe
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Die Antragsteller begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage vom 20. August 2024, die bei dem erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen M 8 K 24.5033 geführt wird, gegen eine den Beigeladenen erteilte isolierte Befreiung vom Bauliniengefüge zur Errichtung zweier mit Wabengittern befestigter Fahrspuren auf dem Grundstück FlNr. …8 Gemarkung …, M. Straße ...
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Die Antragstellerin zu 2. ist Miteigentümerin zu ½ des Grundstücks FlNr. …7 Gemarkung … M. Str. ... (im Folgenden: Nachbargrundstück). Die Antragsteller zu 1. bis 3. sind im Übrigen in ungeteilter Erbengemeinschaft Miteigentümer zu ½ des Nachbargrundstücks.
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Die Beigeladenen sind Miteigentümer des Grundstücks FlNr. …8 Gemarkung …, M. Str. ... (im Folgenden: Baugrundstück).
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Mit Bauantrag vom 14. Juni 2023 beantragten die Beigeladenen bei der Antragsgegnerin eine isolierte Befreiung von den für das Baugrundstück bestehenden Baugrenzen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB zur Errichtung von Fahrspuren mit Wabengittern und zur Vergrößerung eines Mülltonnenhäuschens.
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Die Antragsgegnerin erteilte die entsprechende Befreiung mit Bescheid vom 21. August 2023. Dabei enthielt Ziffer 1 des Bescheids die Befreiung für die zwei Fahrspuren, während Ziffer 2 des Bescheids die Befreiung für die Erweiterung des Mülltonnenhäuschens erfasste.
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Ausweislich der Zustellungsurkunde wurde jedenfalls der Antragstellerin zu 1. der Bescheid vom 21. August 2023 als Nachbarausfertigung am 8. August 2024 zugestellt. Ob auch den Antragstellern zu 2. und 3. eine Nachbarausfertigung zugestellt wurde, ließ sich nicht ermitteln. Jedenfalls haben die Antragsteller zu 2. und 3. vor der Erhebung ihrer Klage von der erteilten Befreiung anderweitig Kenntnis erlangt.
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Die Antragsteller zu 1. bis 3. haben mit ihrer am 20. August 2024 bei Gericht eingegangenen Klage beantragt festzustellen, dass der von der Lokalbaukommission Herrn … und Frau … (M. Str. ..., …) erteilte Bescheid vom 21.08.2023 bezüglich ihres Antrags vom 31.07.2023 auf Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB wegen Überschreitung der Baugrenze unwirksam bzw. rechtswidrig ist und dass die Kläger durch das genehmigte Vorhaben in ihren Rechten verletzt werden. Dabei haben die Antragsteller ausdrücklich klargestellt, dass sich die Klage nicht auf Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides beziehen solle.
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Mit demselben Schriftsatz beantragen die Antragsteller im einstweiligen Rechtsschutz:
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Der Vollzug des Befreiungsbescheides wird bis zum Erlass einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert bzw. die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 20.08.2024 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21.08.2023 wird angeordnet. Der Antrag bezieht sich nicht auf Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids.
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Zur Begründung bringen die Antragsteller vor, dass gewichtige Gründe für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorliegen würden. Es sei zu befürchten, dass vollendete Tatsachen geschaffen würden. Außerdem sei die isolierte Befreiung rechtswidrig und verletze die Antragsteller in ihren Rechten. Der Bescheid sei wegen mangelnder Zuständigkeit der Beklagten und Verstößen gegen die Vorschriften über die Nachbarbeteiligung bereits formell rechtswidrig. Aber auch materiell sei der Bescheid rechtswidrig. Dies liege unter anderem darin begründet, dass der Gebietserhaltungsanspruch verletzt sei und sich das Vorhaben als rücksichtslos darstelle. Es sei von den Beigeladenen nicht dargelegt, wofür sie die betroffene Fläche nutzen wollten und ob eine gewerbliche Nutzung, die in dem Gebiet unzulässig sei, geplant sei. Zudem gebe es Bedenken hinsichtlich der von dem Vorhaben ausgehenden Lärm- und Geruchsbelästigungen. Der Bescheid sei auch zu unbestimmt. Es sei nicht erkennbar, was durch die isolierte Befreiung genehmigt werde. Darüber hinaus seien auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht gegeben. Das Vorhaben berühre die Grundzüge der Planung, da der Bebauungsplan vorsehe, dass die Vorgärten zu begrünen seien, nun aber durch das Vorhaben der Vorgartenbereich des Nachbargrundstücks vollständig versiegelt und zu einer 100 m2 großen „Stellplatzanlage“ umgewandelt werde. Ferner gebe es noch eine Vielzahl weiterer Verstöße. So seien unter anderem Vorschriften über den Brandschutz und straßen- und wegerechtliche Vorgaben nicht eingehalten.
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Die Antragsgegnerin beantragt
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den Eilantrag abzulehnen.
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Dazu trägt die Antragsgegnerin vor, dass der Bescheid rechtmäßig sei und keine nachbarschützenden Vorschriften verletze. Ein Verstoß gegen Art. 66 BayBO sei nicht gegeben. Art. 66 BayBO sei schon gar nicht anwendbar, da dieser bei isolierten Befreiungen nur dann entsprechend anzuwenden sei, wenn nachbarschützende Vorschriften berührt seien. Dies sei hier nicht der Fall, da lediglich von den nicht nachbarschützenden Baugrenzen befreit worden sei. Der Bescheid sei auch nicht zu unbestimmt. Ferner sei es den Antragstellern verwehrt, sich auf Vorschriften über die Stellplatzpflicht zu berufen. Die von den Antragstellern angesprochene Regelung über die Schaffung von Stellplätzen sei nicht Teil eines Bebauungsplans. Vielmehr gelte Art. 47 BayBO, welcher keinen Drittschutz vermittle. Auch seien die Grundzüge der Planung nicht berührt. Sofern überhaupt eine bodenrechtliche Relevanz vorliege, sei jedenfalls die planerische Konzeption, den Vorgartenbereich von Bebauung freizuhalten, nicht beeinträchtigt. Zuletzt sei auch nicht erkennbar, wie zwei mit Wabengittern befestigte Fahrspuren das Rücksichtnahmegebot verletzen könnten.
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Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt und sich nicht zum Verfahren geäußert.
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Mit Schriftsatz vom 30. September 2024 haben die Antragsteller um die Beiziehung weiterer Behördenakten gebeten. Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die beigezogenen Behördenakten sowie die Gerichtsakten im hiesigen und im Hauptsacheverfahren M 8 K 24.5033 Bezug genommen.
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Der Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80a Abs. 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB ist zulässig, aber unbegründet und hat daher keine Aussicht auf Erfolg.
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1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft. Die Klage der Antragsteller in der Hauptsache hat gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung.
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1.1 Die von den Antragstellern in der Hauptsache erhobene Klage ist als Anfechtungsklage gegen die den Beigeladenen mit Bescheid vom 21. August 2023 erteilte isolierte Befreiung auszulegen. Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtschutzbegehren zu ermitteln. Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel (BVerwG, U.v. 1.9.2016 – 4 C 4.15 –, BVerwGE 156, 94-102, juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 20.5.2020 – 8 ZB 20.868 – juris Rn. 12). Maßgebend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück (BVerwG, U.v. 27.4.1990 – 8 C 70.88 – juris Rn. 23). Dabei sind nicht nur Klageantrag und Klagebegründung, sondern auch die Interessenlage des Klägers, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und den sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt, zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 1.9.2016 – 4 C 4.15 –, BVerwGE 156, 94-102, juris Rn. 9). Der gestellte Antrag ist danach so auszulegen bzw. umzudeuten, dass er den zu erkennenden Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung trägt (BVerwG, U.v. 1.9.2016 – 4 C 4.15 –, BVerwGE 156, 94-102, juris Rn. 9 mit Verweis auf BVerfG, B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – juris Rn. 37).
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Dies zugrunde gelegt ergibt die Auslegung des Begehrens der Antragsteller in der Klage in der Hauptsache, dass sie die Anfechtung der den Beigeladenen erteilten isolierten Befreiung begehren. Dass die Antragsteller ihren Klageantrag dabei als Feststellungsantrag formuliert haben, schadet – wie bereits dargelegt – nicht. Wie aus den Ausführungen der Antragsteller hervorgeht, zielt ihre Klage in der Hauptsache maßgeblich darauf ab, die den Beigeladenen erteilte isolierte Befreiung im Bescheid vom 21. August 2023 hinsichtlich Ziffer 1 aus der Welt zu schaffen, um eine Durchführung des Bauvorhabens zu verhindern. Dieses Begehren können die Antragsteller nur effektiv im Wege einer Anfechtungsklage erreichen.
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1.2 Das Gericht konnte auch ohne die Beiziehung der von den Antragstellern mit Schriftsatz vom 30. September 2024 erbetenen zusätzlichen Behördenakten entscheiden, da sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt bereits aus den von der Antragsgegnerin vorgelegten Akten ergibt.
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1.3 Gemäß § 212a Abs. 1 BauGB hat eine Anfechtungsklage eines Dritten gegen die einem anderen erteilte bauaufsichtliche Zulassung keine aufschiebende Wirkung. Bei einer isolierten Befreiung nach § 31 Abs. 2 handelt es sich um eine solche bauaufsichtliche Zulassung. Der Begriff bauaufsichtliche Zulassung ist weit zu verstehen und erfasst grundsätzlich alle bauaufsichtlichen Entscheidungen, die eine Bauausführung zulassen (Széchényi in Jäde/Dirnberger, Baugesetzbuch, 10. Auflage 2022, § 212a Rn. 2). Dazu zählen neben der Baugenehmigung auch Teilbaugenehmigungen, sowie isolierte Abweichungen und Befreiungen bei Vorhaben, die keiner Baugenehmigung bedürfen (vgl. Széchényi in Jäde/Dirnberger, Baugesetzbuch, 10. Auflage 2022, § 212a Rn. 2; Wolfgang Rieger in Schrödter, Baugesetzbuch, 9. Auflage 2019, § 212a Rn. 2; zu isolierten Befreiungen auch BayVGH, B.v. 15.12.1999 – 26 ZS 99.820 – juris Rn. 9). Diese Überlegung ergibt sich daraus, dass es der Wertung des § 212a BauGB zuwiderliefe, wenn der Bauherr in Bezug auf den Suspensiveffekt bei der Planung eines genehmigungspflichtigen Vorhabens mit einer Befreiung oder Abweichung besser stünde, als bei der Planung eines genehmigungsfreien Vorhabens, das ebenfalls einer Befreiung oder Abweichung bedarf (so für eine isolierte Abweichung VG München, B.v. 15.5.2000 – M 1 K SN 00.1413 – juris Rn. 20).
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1.4 Das Gericht kann auf Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Dabei nimmt das Gericht eine eigene, umfassende Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einerseits und dem Interesse des Bauherrn an der Ausnutzung seiner Baugenehmigung andererseits vor. Die Interessen des Nachbarn und diejenigen des Bauherrn stehen sich dabei grundsätzlich gleichwertig gegenüber. Im Rahmen dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht einziges Indiz zu berücksichtigen (vgl. Hoppe in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Auflage 2022 Rn. 85 ff.). Fällt die Erfolgsprognose der Klage in der Hauptsache nach summarischer Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit zugunsten des Antragstellers aus, erweist sich die angefochtene Baugenehmigung also als rechtswidrig, so überwiegen in der Regel die Interessen des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Erweist sich die Baugenehmigung hingegen als mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtmäßig und die Klage in der Hauptsache damit als nicht erfolgversprechend, so überwiegen in der Regel die Interessen des Bauherrn an der Ausnutzung der Baugenehmigung (vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2011 – 14 CS 11.535 – juris Rn. 18). Sind die Erfolgsaussichten offen, so findet eine reine Abwägung aller für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2011, a.a.O.).
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Ein Dritter kann eine Baugenehmigung – und entsprechend eine isolierte Befreiung –, die einem anderen erteilt wurde, nur dann erfolgreich anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die in dem jeweiligen Verfahren zu prüfen sind und die auch dem Schutz des Nachbarn dienen, weil dieser in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in schutzwürdigen Rechten betroffen ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 – 4 C 5/87 – juris; BayVGH B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
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2. Dies zugrunde gelegt, wird die Klage in der Hauptsache nach gebotener, aber auch ausreichender summarischer Prüfung keinen Erfolg haben. Die Klage erweist sich als voraussichtlich zulässig, aber unbegründet. Die angefochtene isolierte Befreiung vom 21. August 2023 ist voraussichtlich rechtmäßig, weil sie keine nachbarschützenden Vorschriften verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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2.1 Die Klage in der Hauptsache betrifft ausschließlich eine isolierte Befreiung von den Festsetzungen eines übergeleiteten Baulinienplans für zwei mit Wabengittern befestigten Fahrspuren. Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans – und damit auch wie vorliegend bei einem übergeleiteten Baulinienplan, der gemäß § 233 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 173 Abs. 3 BBauG1960 als einfacher Bebauungsplan i.S.v. § 30 Abs. 3 BauGB fortgilt – hängt der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine Voraussetzung des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, richtet sich der Nachbarschutz hingegen nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots, welches aus dem Erfordernis der „Würdigung nachbarliches Interessen“ des § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO abzuleiten ist (BayVGH, B.v. 18.6.2018 – 15 ZB 17.635 – juris Rn. 13).
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2.1.1 Vorliegend beinhaltet der übergeleitete Baulinienplan Nr. ... keine nachbarschützenden Festsetzungen. Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen durch Baulinien oder Baugrenzen sind nicht generell drittschützend (BayVGH, B.v. 18.6.2018 – 15 ZB 17.635 – juris Rn. 16). Ob eine solche Festsetzung auch dem Schutz eines Nachbarn dienen soll, hängt vielmehr vom Willen des Planungsträgers ab (für Bebauungspläne vgl. BVerwG, B.v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – juris Rn. 3). Anhaltspunkte dafür, dass der Plangeber in dem übergeleiteten Baulinienplan Nr. ... den Baugrenzen drittschützenden Charakter beimessen wollte, gibt es nicht. Vielmehr erscheint es, dass die Änderung des Bauliniengefüges allein aus städtebaulichen Gründen erfolgt ist, nämlich zum Zweck der Neuordnung des Gebiets zwischen der F.straße, äußeren B.straße, K. Straße und der M. Straße samt der unmittelbar an der M. Straße im Osten liegenden Grundstücke.
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Aus diesem Grund können sich die Antragsteller auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass es am Vorliegen der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB fehlt, zum Beispiel etwa, dass die Grundzüge der Planung durch die Befreiung berührt seien.
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2.1.2 Es kommt für den Rechtsschutz der Antragsteller als Nachbarn folglich auf das in § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerte Rücksichtnahmegebot an. Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH, B.v. 18.6.2018 – 15 ZB 17.635 – juris Rn. 13).
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Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, solche Spannungen und Störungen möglichst zu vermeiden, die durch eine unverträgliche Grundstücksnutzung entstehen können. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, auf die Rücksicht zu nehmen ist, umso mehr kann Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen desjenigen sind, der das Vorhaben verwirklichen will, umso weniger ist Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 25. 2. 1977 – 4 C 22/75 – juris Rn. 22). Für eine sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Das Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit des Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch zumutbar ist, überschritten wird (vgl. BVerwG, U.v. 25. 2. 1977 a.a.O.; BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1/04 – juris Rn. 22).
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Bei Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Vorhaben der Beigeladenen in seinen Auswirkungen auf das Nachbargrundstück nicht als rücksichtslos. Die erteilte isolierte Befreiung hat für die Antragsteller keine unzumutbaren Störungen und Belästigungen zur Folge, die zu einem Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot führen würden. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit die Antragsteller durch die beiden Fahrspuren bzw. deren Nutzung unzumutbar beeinträchtigt sein sollen.
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Insbesondere eine über das zumutbare Maß hinausgehende Belastung durch Lärm- und Geruchsimmissionen ist nicht erkennbar. Nach § 12 Abs. 2 BauNVO sind in Wohngebieten Stellplätze und Garagen für den durch die zugelassene Nutzung notwendigen Bedarf zulässig. Die Vorschrift begründet für den Regelfall auch hinsichtlich der durch die Nutzung verursachten Lärmimmissionen eine Vermutung der Nachbarverträglichkeit. Der Grundstücksnachbar hat deshalb die Errichtung notwendiger Garagen und Stellplätze für ein Bauvorhaben und die mit ihrem Betrieb üblicherweise verbundenen Immissionen der zu- und abfahrenden Kraftfahrzeuge des Anwohnerverkehrs grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. BVerwG, B.v. 20.3.2003 – 4 B 59.02 – juris Rn. 6 ff.; BayVGH, B.v. 29.1.2016 – 15 ZB 13.1759 – juris Rn. 23 m.w.N.). Gleiches gilt auch für die bei der Nutzung von Fahrspuren, welche durch die Wohnnutzung bedingt sind, entstehenden Immissionen.
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2.2 Die isolierte Befreiung ist auch nicht in nachbarrechtlicher Hinsicht zu unbestimmt. Eine Baugenehmigung – und entsprechend eine isolierte Befreiung – verletzt Rechte des Nachbarn, wenn sie hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Fragen unter Missachtung von Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG unbestimmt ist und infolge dessen im Falle der Umsetzung des Vorhabens eine Verletzung von Nachbarrechten nicht ausgeschlossen ist (BayVGH, B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 30). Aus den Festsetzungen in dem Bescheid von 21. August 2023 ist erkennbar, dass eine isolierte Befreiung von der Baugrenze für zwei mit Wabengittern befestigte Fahrspuren erteilt wurde. Der Einwand, die Beigeladenen hätten nicht dargelegt, wofür sie die Fahrspuren verwenden wollten, verfängt nicht. Fahrspuren auf einem Privatgrundstück werden gewöhnlich dazu genutzt, um mit Kraftfahrzeugen das Grundstück anzufahren. Hier den im Plan dargestellten und sowohl im Bescheidstenor als auch in der Bescheidsbegründung beschriebenen Stellplatz. Dies ist sowohl objektiv als auch für die Antragsteller erkennbar.
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2.3 Einen Zuständigkeitsmangel, wie die Antragsteller ihn vorbringen, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG, da das Vorhaben auf dem Gebiet der … … entstehen soll. Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO, wonach die Gemeinde, also vorliegend die … …, für die Erteilung isolierter Befreiungen bei verfahrensfreien Vorhaben zuständig ist.
34
2.4 Allein auf einen etwaigen Verstoß gegen die Nachbarbeteiligung nach Art. 66 BayBO können sich die Antragsteller nicht berufen. Es ist schon umstritten, in welchem Umfang Art. 66 BayBO bei isolierten Befreiungen überhaupt anwendbar ist. Zum Teil wird vertreten, dass eine entsprechende Anwendung nur stattfinde, wenn eine dem Nachbarschutz dienende Vorschrift von der Befreiung betroffen ist (so etwa Laser in Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 66 Rn. 3). Selbst wenn man aber annimmt, dass Art. 66 BayBO auch ohne konkreten Bezug zu drittschützenden Normen entsprechend anwendbar ist, führt ein Verstoß vorliegend nicht zur Aufhebung des Bescheids. Denn jedenfalls kann der Nachbar nicht allein wegen eines Verstoßes gegen Art. 66 BayBO die Aufhebung der isolierten Befreiung erreichen, da auch Art. 66 BayBO als solcher nicht nachbarschützend ist (BayVGH, B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 27; Dirnberger in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Werkstand 153. EL Januar 2024, Art. 66 Rn. 208).
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2.5 Im Übrigen beziehen sich die Bedenken der Antragsteller auf Umstände und Vorschriften, die nicht Teil des Prüfungsumfangs im Befreiungsverfahren sind und die sie daher nicht erfolgreich rügen können. Bei einer isolierten Befreiung gemäß Art. 63 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB ist der Prüfungsumfang begrenzt. Es wird lediglich am Maßstab des § 31 BauGB geprüft, ob der Widerspruch zu den materiellen Anforderungen – hier des übergeleiteten Baulinienplans – durch die beantragte Befreiung aufgehoben werden kann (Dhom/Simon in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Werkstand 153. EL Januar 2024, Art. 63 Rn. 51).
36
Insbesondere der Vortrag der Antragsteller, das der gesamte 100 m2 große Vorgarten des Baugrundstücks versiegelt werde, hat keinen Bezug zum Prüfungsumfang der isolierten Befreiung im hiesigen Verfahren. Gegenstand der isolierten Befreiung ist ausschließlich die Befreiung von der Baugrenze für zwei mit Wabengittern befestigten Fahrspuren, nicht aber die Genehmigung einer von den Antragstellern befürchteten 100 m2 großen „Stellplatzanlage“. Genauso ist auch der Gebietserhaltungsanspruch nicht verletzt, da die isolierte Befreiung sich schon gar nicht mit der Art der Nutzung des Vorhabens auseinandersetzt. Auch der Vortrag zu brandschutzrechtlichen Bedenken wegen der befürchteten Errichtung eines hölzernen Carports verfängt nicht. Ein hölzerner Carport ist weder beantragt noch in irgendeiner Weise Teil der isolierten Befreiung. Gleiches gilt für den Vortrag zur Sichtbeeinträchtigung durch ein geplantes Einfahrtstor, zur Entfernung der Trennmauer und zur Beschädigung des Gehweges durch die Bauarbeiten. Auch straßen- und wegerechtliche Vorschriften werden im vorliegenden Fall nicht im Rahmen der Befreiung geprüft. Deren Verletzung kann daher nicht mit Erfolg geltend gemacht werden.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.