Inhalt

VG München, Urteil v. 21.11.2024 – M 26a K 24.31218
Titel:

Asylrecht Tunesien, 60jährige geschiedene Frau, Posttraumatische Belastungsstörung, Mittelgradige depressive Episode, Suizidgefahr im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, Verfahrenseinstellung nach Klagerücknahme, Nationales Abschiebungsverbot bejaht

Normenketten:
VwGO § 92 Abs. 3
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Schlagworte:
Asylrecht Tunesien, 60jährige geschiedene Frau, Posttraumatische Belastungsstörung, Mittelgradige depressive Episode, Suizidgefahr im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, Verfahrenseinstellung nach Klagerücknahme, Nationales Abschiebungsverbot bejaht
Fundstelle:
BeckRS 2024, 34350

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. April 2024, Gesch.-Z.: ... wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesiens vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin ¾ und die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldne darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorhe Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die am … … 1964 geborene Klägerin ist ihren Angaben im Asylverfahren zufolge tunesische Staatsangehörige.
2
Im Rahmen ihrer Anhörung zur Zulässigkeit ihres am … Februar 2023 gestellten Asylantrags trug sie gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … Februar 2023 vor, Tunesien wegen Morddrohungen verlassen zu haben. Einer ihrer Brüder sei drogenabhängig und schlage alle, auch sie. Zugleich legte sie einen Befundbericht des Bezirksklinikums R. , Zentrum für Allgemeinpsychiatrie II der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität R. vom … Februar 2023 vor, in dem sie sich von … Januar 2023 bis … Februar 2023 in stationärer Behandlung befand. Die Aufnahme sei aufgrund von Suizidgedanken auf Anraten des Integrationsdienstes notfallmäßig erfolgt. In diesem Befundbericht wurde als Diagnose u.a. eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) angegeben. Da die Klägerin aufgrund der aktuellen Ausprägung und Schwere der Erkrankung nicht in der Lage sei, sich ausreichend auf einen Deutschkurs vor Beginn einer Therapie zu konzentrieren, wurde nach Möglichkeit eine wohnortnahe Traumatherapie in der Muttersprache Arabisch empfohlen. Zugleich wurde aufgrund der depressiven Symptomatik mit Schlafstörungen, Inappetenz und Anhedonie die tägliche Gabe von Sertralin, Pipamperon und L-Thyroxin als Medikation verordnet.
3
Aufgrund der Angaben der Klägerin, aus Italien kommend nach Deutschland eingereist zu sein, und aufgrund eines EURODAC-Treffers für Italien lehnte das Bundesamt zunächst mit Bescheid vom 6. Juni 2023 den Asylantrag als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen, ordnete die Abschiebung der Klägerin nach Italien an, ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete es auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Nach Ablauf der Überstellungsfrist am 28. Dezember 2023 wurde dieser Bescheid mit Bescheid vom 2. April 2024 aufgehoben.
4
Im Rahmen ihrer Anhörung zu den Gründen für ihren Asylantrag im nationalen Verfahren am … März 2024 gab die Klägerin gegenüber dem Bundesamt an, dass sie im Jahr 1984 geheiratet habe, jedoch 2,5 Monate später wieder geschieden worden sei und seitdem in B. … (in der Nähe von T. *) bei ihrer Mutter gewohnt habe. Sie habe Tunesien verlassen, weil einer ihrer Brüder, der drogenabhängig sei, viel Alkohol trinke und Tabletten nehme, sie gefoltert habe. Dieser habe ihr ins Gesicht gespuckt, sie beleidigt und sie in der letzten Zeit mehrmals mit Mord bedroht. Er habe auch mehrmals versucht, sie umzubringen. Sie habe versucht umzuziehen, jedoch zu wenig Geld verdient, um sich eine eigene Wohnung zu leisten. Da ihre Mutter krank geworden sei, habe es keine andere Möglichkeit gegeben, als zu ihrer Mutter (und damit auch zu dem gewalttätigen Bruder) zurückzukehren. Sie habe auch mehrmals bei der Polizei Anzeige erstattet, habe dort zwar übernachten können, mehr habe die Polizei jedoch nicht unternommen. Auch ihre Geschwister hätten sie nicht vor diesem Bruder beschützen können, da diese selbst Angst vor ihm gehabt hätten. Sie habe keinen Ausweg mehr gefunden und habe sogar angefangen, an Selbstmord zu denken. Sie habe sich in ihrem Wohnzimmer eingesperrt und Putzmittel getrunken, sei jedoch gerettet worden. Sie sei dann in Depressionen gefallen und immer kränker geworden. Sie habe keine Kraft mehr gehabt und habe das Ganze nicht mehr ertragen können. Für sie habe nur die Option, Suizid zu begehen oder Tunesien zu verlassen, bestanden. Sie sei hier in Deutschland mit einem Nervenzusammenbruch angekommen und stationär behandelt worden.
5
Hierzu legte die Klägerin mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 2. April 2024 einen fachärztlich-psychiatrischen und psychologisch-psychotherapeutischen Befundbericht von Refugio M. vom … März 2024 vor, in dem bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) und eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F32.1) diagnostiziert wurden. Sie weise alle diagnostischen Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung auf: das A-Kriterium (Traumaereignis) bestehe in der körperlichen Gewalt, den Morddrohungen und den Angriffen durch den Bruder. Außerdem bestehe ein Wiedererleben (Kriterium B) mit Albträumen und Intrusionen (eindringlichen Erinnerungen) an körperliche Gewalt und Morddrohungen durch den Bruder sowie ein kognitives Vermeidungsverhalten hinsichtlich der Thematisierung der genannten belastenden Ereignisse. Die Patientin berichte darüber nicht spontan und meide Gespräche, ähnlich aussehende Personen, die sie daran erinnern können (Kriterium C). Außerdem bestehe eine allgemeine erhöhte Schreckhaftigkeit (Hyperarousal, Kriterium D), so dass die Patientin bei lauten oder plötzlichen Geräuschen massiv erschrecke und lange brauche, wieder zur Ruhe zu kommen. Dadurch seien alle ICD-10-Kriterien für die Diagnosestellung der posttraumatischen Belastungsstörung bei der Klägerin erfüllt. Die durchgeführte diagnostische Testung mittels PCL-5 bestätige dies ebenfalls. Die bei der Klägerin vorliegende depressive Symptomatik mit den drei Hauptsymptomen gedrückte depressive Stimmung (die Patientin erscheine niedergestimmt, affektlabil, zeitweise hoffnungslos), Antriebsminderung (sie sei energielos und schnell ermüdbar) und Interessenverlust und Anhedonie (sie erscheine freudlos und berichte über eine allgemeine Unfähigkeit, Freunde zu empfinden) und fünf Zusatzsymptomen (verminderter Selbstwert, negative Zukunftsperspektive, Schlafstörungen, Appetitverlust) über länger als zwei Wochen (seit der Behandlung bei Refugio beobachtet, also seit Juni 2023) entsprächen den ICD-10-Kriterien für eine schwere depressive Episode. Unter der aktuellen therapeutischen Behandlung (die Patientin habe am … Juni 2023 ein diagnostisches Erstgespräch bei Refugio M. gehabt, außerdem seien am … Juli 2023 und am … Dezember 2023 von einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie psychiatrische Untersuchungen in den Räumlichkeiten von Refugio M. vorgenommen worden, seit dem … Juni 2023 nehme sie die psychotherapeutische Behandlung bei Refugio M. in Anspruch, die Psychotherapie finde wöchentlich in arabischer Sprache statt, bisher seien 23 Sitzungen erfolgt) sei vor allem die Antriebslosigkeit besser geworden, sodass die Patientin in der Lage sei, regelmäßig die Schule zu besuchen und klinisch von einer mittelgradigen depressiven Episode auszugehen sei. Die Patientin leide unter schweren behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen mit hohem Risiko von krisenhaften Exacerbationen mit akuter Suizidalität und stationärer Behandlungsbedürftigkeit. Bei fehlender Behandlung bestehe ein sehr hohes Risiko einer Chronifizierung der Symptomatik mit dauerhafter Einschränkung der psychischen Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit sowie erhöhter Suizidgefahr. Nur mit Hilfe psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung könne ein Fortschreiten der psychischen Beschwerden aufgehalten und eine schrittweise Besserung der psychischen Symptomatik erreicht werden. Die Stabilisierung der Lebenssituation mit sozialer Anbindung und Fortführen der psychotherapeutischen Behandlung in einem für die Patientin sicheren Umfeld seien dafür wichtige Voraussetzungen. Diese seien jedoch bei drohender Abschiebung in ein für die Patientin als nicht sicher empfundenes Land nicht gegeben. Die Besserung der depressiven Symptomatik habe lediglich in einem solchen Rahmen, mit stabilen und sicheren Lebensbedingungen und bei regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung erreicht werden können. Die Kernsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Wiedererleben traumatischer Erinnerungen, Vermeidungsverhalten und erhöhter Schreckhaftigkeit seien trotzdem weiterhin präsent. Bei vorzeitigem Abbruch der psychotherapeutischen Behandlung sei ein Fortbestehen und weiteres Fortschreiten der mittelgradigen depressiven Erkrankung und Traumafolgestörung mit weitreichenden Einschränkungen im psychosozialen Funktionsniveau zu erwarten. Eine Abschiebung nach Tunesien bedeute für die Klägerin eine emotionale erneute Konfrontation mit den vor der Flucht erlebten traumatischen Ereignissen (Unterdrückung, Ausbeutung, Misshandlung, Morddrohungen, Unsicherheit, Todesangst, fehlende psychotherapeutische Behandlung und ein andauerndes Bedrohungsgefühl). Unabhängig von der real bestehenden Gefahr für die Patientin in Tunesien, welche von den Unterzeichnern nicht überprüft werden könne, werde eine zwangsweise Rückführung ins Heimatland von der Patientin mit einer konkreten Bedrohung für ihr Leben verbunden. Sie sehe auch keinen Schutz in der lokalen Polizei, sodass sie sich hilflos und in ernsthafter Gefahr in Tunesien erleben würde. Dies stelle einen massiven Stressfaktor dar. Unter diesen Umständen und angesichts der noch bestehenden depressiven Symptomatik, der durchgeführten Suizidversuche und nach dem Vulnerabilität-Stress-Modell der Depression wäre im Fall der Klägerin bei einer zwangsweisen Rückführung ins Heimatland und bereits bei deren Ankündigung mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer erheblichen Verschlechterung der depressiven Symptomatik und einer erneuten Zunahme von Suizidgedanken bis hin zu akuter Suizidalität und einem erneuten Suizidversuch zu rechnen. Die Konfrontation mit Reizen, die in Verbindung zu traumatischen Ereignissen stehen, würde außerdem eine Verschlechterung der posttraumatischen Belastungsstörung bedingen, die konkret mit einer weiteren Zunahme der Intrusionen und Albträumen, mit sich verstärkenden Bedrohungswahrnehmungen und Überregung mit Verringerung der Schlafdauer einhergehen würde. Dies könne für die Klägerin zur Folge haben, dass sie nur eingeschränkt handlungsfähig wäre und dass ein suizidales Verhalten im Rahmen der steigenden wahrgenommenen Bedrohung auftreten könnte. Ein Abbruch der bestehenden, mittlerweile vertrauensvollen therapeutischen Beziehung würde aus fachärztlicher und psychotherapeutischer Sicht mit großer Wahrscheinlichkeit eine Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes der Klägerin verursachen. Eine Abschiebung würde daher durch verschiedene Belastungsmechanismen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin und eine potentielle Lebensgefahr bedingen. Sie sei weiterhin dringend behandlungsbedürftig; aufgrund der Komplexität der psychischen Erkrankung sei von einem längerfristigen psychotherapeutischen Prozess auszugehen.
6
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 8. April 2024 (Gesch.-Z.: …*), lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab, und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Zugleich wurde die Klägerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Anderenfalls würde sie nach Tunesien oder in einen anderen, zu ihrer Aufnahme bereiten oder verpflichteten Staat abgeschoben. Die durch die Bekanntgabe dieser Entscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
7
Am 16. April 2024 erhob die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom selben Tag Klage mit dem Antrag,
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die Beklagte zu verpflichten, unter Aufhebung des Bescheides vom 8. April 2024 – Az. …, zugestellt am 15. April 2024, die Klägerin als Flüchtling gemäß § 3 Abs. 1 AsylG anzuerkennen, hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass bei der Klägerin Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesien vorliegen.
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Mit Schreiben vom 18. April 2024 beantragte das Bundesamt unter Vorlage der Behördenakte und unter Bezugnahme auf die angefochtene Entscheidung,
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die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 23. September 2024 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2024 übersandten die Bevollmächtigten der Klägerin einen aktuellen fachärztlich-psychiatrischen und psychologisch-psychotherapeutischen Befundbericht von Refugio M. vom … Oktober 2024, der im Wesentlichen mit dem Befundbericht vom … März 2024 übereinstimmt. Am … Oktober 2024 habe eine weitere Untersuchung der Klägerin mit einem Dolmetscher für die arabische Sprache in den Räumlichkeiten von Refugio M. stattgefunden. Mittlerweile seien 35 Therapiesitzungen erfolgt. Im Hinblick auf die diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung wurde ausgeführt, dass sich keine Anhaltspunkte für eine Simulation oder Aggravation während der psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlung ergeben hätten. Neben den bereits im Befundbericht vom … März 2024 aufgeführten Zusatzsymptomen der diagnostizierten mittelgradigen depressiven Episode wurden als weiteres Zusatzsymptom Suizidgedanken aufgeführt. Die Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung und derzeit mittelgradige depressive Episode würden aus fachärztlich-psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht als gesichert gelten. Laut DSM-V stelle nicht die reale, sondern bereits die gefühlte Bedrohung einen möglichen retraumatisierenden Faktor dar. Aus der Perspektive der Klägerin wäre die Rückkehr ins Herkunftsland mit einer Lebensgefahr gekoppelt. Sie sehe auch keinen Schutz in der lokalen Polizei, sodass sie sich hilflos und in ernsthafter Gefahr in Tunesien erleben würde. Die gefühlte Bedrohung wäre in dem Fall massiv und würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer drastischen Verschlechterung des psychischen Zustandes nach dem Vulnerabilität-Stress-Modell führen. Durch eine (drohende oder vollzogene) unfreiwillige Rückkehr ins Heimatland käme es außerdem zu einem Verlust der in Deutschland erworbenen Sicherheit. Die Angst vor erneuten Angriffen, welche weiterhin bei der Patientin bestehe, würde höchstwahrscheinlich extrem zunehmen. Dies käme einer Retraumatisierung gleich. Konkret würden sich die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung massiv verschlechtern und es käme bereits bei der Ankündigung einer zwangsweisen Rückführung zu einer akuten Belastungsreaktion, welche potentiell mit Eigengefährdung einhergehe. Diese wäre auf der einen Seite durch Kurzschlusshandlungen bedingt, die zu unfallmäßiger oder gezielter Selbsttötung oder zu anderen erheblichen gesundheitlichen Schäden führen könnten. Im Fall der Klägerin bestünden außerdem bereits bei einer drohenden, unfreiwilligen Rückführung nach Tunesien Suizidabsichten, sodass es aus psychiatrischer Sicht mit höchster Wahrscheinlichkeit auch zur geplanten Selbsttötung im Rahmen der sich zuspitzenden depressiven Episode der Hoffnungslosigkeit kommen könnte. Indizien dafür, dass dies sehr ernst zu nehmende Gefahren sind, seien die weiterhin vorhandenen Suizidgedanken, von denen sich die Patientin derzeit mühsam und lediglich unter stabilen Lebensumständen distanzieren könne, sowie mehrere anamnestisch eruierbare Suizidversuche. Ein erneuter Suizidversuch wäre unter den oben genannten Bedingungen aus psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht zu erwarten. Zu berücksichtigen sei außerdem, dass in dem Heimatland der Patientin die Voraussetzungen für eine traumafokussierte Psychotherapie aufgrund der von ihr empfundenen fehlenden Sicherheit nicht mehr gegeben wären, sodass die Gefahr einer Zuspitzung und Chronifizierung der Symptomatik sehr hoch wäre. Spezifisch würde die von der Patientin wahrgenommene Bedrohung extrem starke Ängste auslösen und dadurch retraumatisierend wirken, sodass selbst bei vorhandener Behandlungsmöglichkeit die Voraussetzungen für eine Behandlung (d.h. sichere Lebensbedingungen) nicht mehr gegeben wären. Konkret wäre dann mit einer Zunahme der Intrusionen und der Albträume über die erlebte Gewalt mit massiven Ein- und Durchschlafstörungen, Todesangst, Konzentrationsstörungen und massiv erhöhter Schreckhaftigkeit sowie mit starkem Vermeidungsverhalten bis hin zu kompletten sozialem Rückzug zu rechnen. Unter den genannten Umständen sowie aufgrund der schweren psychischen Erkrankung wäre die Klägerin in ihrem Heimatland nicht in der Lage, ein strukturiertes Leben zu führen und erwerbstätig zu sein.
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Mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2024 übersandten die Bevollmächtigten der Klägerin zudem ein ärztliches Attest einer Fachärztin für Allgemeinmedizin vom … Oktober 2024, in dem eine eindeutig behandlungsbedürftige Schilddrüsenunterfunktion bei der Klägerin bestätigt wurde.
14
Mit weiterem Schriftsatz vom 7. November 2024 wurden seitens der Bevollmächtigten der Klägerin umfangreiche Ausführungen zur Begründung der Klage gemacht.
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In der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2024, zu der die Klägerin in Begleitung ihrer Bevollmächtigten und des Diplom-Psychologen/Psychologischen Psychotherapeuten, der neben der oben bereits erwähnten Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie die Befundberichte von Refugio M. vom … März 2024 und vom … Oktober 2024 unterzeichnet hatte, erschienen ist, wurde die Klägerin zu ihren Asylgründen und zu ihrer gesundheitlichen Verfassung in arabischer Sprache befragt. Sowohl im Rahmen dieser Befragung als auch beim Diktieren und der Rückübersetzung der von ihr gemachten Angaben weinte die Klägerin. Beim Diktieren und der Rückübersetzung ihrer Angaben, dass sie sich, sollte sie nach Tunesien zurückkehren müssen, umbringen würde, da sie keine Hoffnung mehr in Tunesien habe, klagte sie über akute Herzschmerzen, so dass die mündliche Verhandlung unterbrochen werden musste. An deren Fortführung nahm die Klägerin, die mit dem sie begleitenden Diplom Psychologen/Psychologischen Psychotherapeuten den Sitzungssaal verlassen hatte, dann nicht mehr teil.
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Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2024 unter Rücknahme der Klage im Übrigen
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die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheides vom 8. April 2024 zu verpflichten festzustellen, dass bei der Klägerin Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesiens vorliegen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegte Behördenakte des Bundesamtes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist, soweit sie noch anhängig ist, zulässig und begründet.
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1. Das Gericht konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2024 entscheiden, obwohl von Seiten der Beklagten niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen war. Denn in dem Ladungsschreiben vom 27. September 2024 war darauf hingewiesen worden, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
21
Aufgrund des Kammerbeschlusses vom 23. September 2024 ist die Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung über die Klage berufen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
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2. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2024 die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
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3. Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist diese zulässig und begründet, da die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG) einen Anspruch gegenüber der Beklagten auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesiens vorliegen, hat. Der diesen Anspruch verneinende Bescheid der Beklagten vom 8. April 2024 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
24
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
25
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Nach den sehr ausführlichen, nachvollziehbaren und überzeugenden fachärztlich-psychiatrischen und psychologisch-psychotherapeutischen Befundberichten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und des Diplom-Psychologen/Psychologischen Psychotherapeuten vom … März 2024 und vom … Oktober 2024 sind bei der Klägerin die Kriterien für die Diagnosen „Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 F 43.1“ und „mittelgradige depressive Episode nach ICD-10 F32.1“ erfüllt. Die Befundberichte gehen dabei sowohl auf die Vorgeschichte der Klägerin, die von ihr berichtete Symptomatik, körperliche Beschwerden, psychiatrische Vorbehandlungen, psychopathischer Befund und Verhaltensbeobachtung, derzeitige Medikation und Prognose umfänglich ein. Im Rahmen der testpsychologischen Untersuchung wurde die sog. Hopkins Symptom Checklist (HSCL-25) und die PTSD Checklist for DSM-5 (PCL-5) bei der Diagnose, ob die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung vorliegen, angewandt. Auf die beiden Befundberichte, die im Tatbestand bereits auszugsweise wiedergegeben wurden, wird hierbei ausdrücklich Bezug genommen.
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Angesichts des gegenwärtigen schwerwiegenden behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen der Klägerin bedingt durch vor der Flucht erlebten traumatischen Ereignisse muss bei einer Abschiebung von einer erheblichen Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes mit einer ernstzunehmenden Suizidgefahr ausgegangen werden. Die gefühlte Bedrohung würde ausweislich des Befundberichtes vom … Oktober 2024 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer drastischen Verschlechterung des psychischen Zustandes der Klägerin führen. Konkret würden sich die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung massiv verschlechtern und es käme bereits bei der Ankündigung einer zwangsweisen Rückführung zu einer akuten Belastungsreaktion, welche potentiell mit Eigengefährdung einhergehe. Diese wäre auf der einen Seite durch Kurzschlusshandlungen bedingt, die zu unfallmäßiger oder gezielter Selbsttötung oder zu anderen erheblichen gesundheitlichen Schäden führen könnten. Im Fall der Klägerin bestünden außerdem bereits bei einer drohenden, unfreiwilligen Rückführung nach Tunesien Suizidabsichten, sodass es aus psychiatrischer Sicht mit höchster Wahrscheinlichkeit auch zur geplanten Selbsttötung im Rahmen der sich zuspitzenden depressiven Episode der Hoffnungslosigkeit kommen könnte. Indizien dafür, dass dies sehr ernst zu nehmende Gefahren sind, seien die weiterhin vorhandenen Suizidgedanken, von denen sich die Patientin derzeit mühsam und lediglich unter stabilen Lebensumständen distanzieren könne, sowie mehrere anamnestisch eruierbare Suizidversuche. Ein erneuter Suizidversuch wäre unter den oben genannten Bedingungen aus psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht zu erwarten.
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Vor diesem Hintergrund geht die erkennende Einzelrichterin davon aus, dass angesichts der durch die Befundberichte, die die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG erfüllen, dargestellten gesundheitlichen Verfassung der Klägerin und insbesondere des prognostizierten erneuten Suizidversuches im Falle einer Rückkehr der Klägerin nach Tunesien zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine erhebliche konkrete Gefahr für deren Leib und Leben aus gesundheitlichen Gründen besteht. Diese Annahme wird auch durch den Eindruck, den sich die Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2024 von der Klägerin gemacht hat, insbesondere durch deren Reaktionen bei der Befragung zu ihren Asylgründen, bestätigt.
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An dieser Einschätzung ändert auch der Umstand nichts, dass nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln in Tunesien die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptablen funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) zumindest in T. gut und die Behandlung psychischer Erkrankungen grundsätzlich möglich ist und nahezu alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zum Gesundheitssystem haben (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien, Stand Mai 2023, IV.1.1. und 1.3, Seiten 18 und 19 und Länderinformation der Staatendokumentation Tunesien des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Version 8 vom 3. August 2023, Seiten 45 und 46). Denn nach dem Befundbericht vom … Oktober 2024 ist zu berücksichtigen, dass die Voraussetzungen für eine traumafokussierte Psychotherapie aufgrund der von der Klägerin empfundenen fehlenden Sicherheit in Tunesien nicht mehr gegeben wären, sodass die Gefahr einer Zuspitzung und Chronifizierung der Symptomatik sehr hoch wäre. Spezifisch würde die von der Patientin wahrgenommene Bedrohung extrem starke Ängste auslösen und dadurch retraumatisierend wirken, sodass selbst bei vorhandener Behandlungsmöglichkeit die Voraussetzungen für eine Behandlung (d.h. sichere Lebensbedingungen) nicht mehr gegeben wären.
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Demzufolge war das Bundesamt unter Aufhebung der Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheides vom 8. April 2024 zu verpflichten festzustellen, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesiens vorliegen.
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Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich bei dem national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris, Rn. 16).
31
4. Weil die Klägerin unter entsprechender Aufhebung der Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheides einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesiens hat, ist das Bundesamt in dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt nicht befugt, eine Abschiebungsandrohung zu erlassen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Deshalb erweisen sich die in dem streitgegenständlichen Bescheid in Nr. 5 verfügte Abschiebungsandrohung und die damit untrennbar zusammenhängende Ausreiseaufforderung als rechtswidrig und sind aufzuheben.
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5. Ist die Abschiebungsandrohung aufzuheben, weil sie sich als rechtswidrig erweist, so steht nach der gesetzlichen Regelung eine Abschiebung, die zu einem Einreise- und Aufenthaltsverbot führen könnte, nicht im Raume, weswegen das in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheides angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ebenfalls rechtswidrig und daher aufzuheben ist.
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6. Die Kostenentscheidung beruht im Hinblick auf den zurückgenommenen Streitgegenstand auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorgenommene Quotelung ergibt sich daraus, dass die Streitgegenstände Flüchtlingszuerkennung und Abschiebungsverbote (international/national) zueinander gleich zu gewichten sind (vgl. BayVGH, U.v. 17.02.2006 – 13a B 05.30781 – juris Rn. 41).
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7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff der Zivilprozessordnung (ZPO).