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OLG München, Urteil v. 25.07.2024 – 29 U 1294/19 Kart
Titel:

Differenzschadensersatz für vom Dieselskandal betroffenes Fahrzeug (hier: VW Golf VII 1.6 TDI)

Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287
Leitsätze:
1. Die Geltendmachung des Differenzschadens anstelle des großen Schadensersatzes ist nicht als Klageänderung anzusehen, weil der Lebenssachverhalt im Übrigen unverändert ist. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Übereinstimmungsbescheinigung ist unzutreffend, wenn das betreffende Kraftfahrzeug mit einer gem. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist, weil die Bescheinigung dann eine tatsächlich nicht gegebene Übereinstimmung des konkreten Kraftfahrzeugs mit Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 ausweist (stRspr BGH BeckRS 2023, 15117). (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei Vorliegen eines Thermofensters kann die Höhe des dem Käufer entstandenen Vermögensschadens gem. § 287 ZPO mit 10% des gezahlten Kaufpreises geschätzt werden, da der objektive Wert des Fahrzeugs durch das mit der Abschalteinrichtung verbundene Risiko der Betriebsstilllegung in diesem Umfang gemindert ist. (Rn. 63) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Restwert des Fahrzeugs kann in Höhe des Händlereinkaufspreises gemäß Gebrauchtwagenbewertung erstellt mit SilverDAT geschätzt werden (§ 287 ZPO). (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)
5. Einen Differenzschaden bejahend auch: KG BeckRS 2024, 13983; OLG Celle BeckRS 2023, 32827; OLG Dresden BeckRS 2023, 22299; BeckRS 2023, 32835; BeckRS 2024, 28982; OLG Hamburg BeckRS 2023, 26911; BeckRS 2024, 13979; OLG Hamm BeckRS 2023, 25175; BeckRS 2023, 29622; BeckRS 2023, 32870; OLG München BeckRS 2024, 5142; BeckRS 2024, 5496; BeckRS 2024, 5589; BeckRS 2024, 6664; BeckRS 2024, 6950; BeckRS 2024, 7525; BeckRS 2024, 8552; BeckRS 2024, 8714; BeckRS 2024, 11301; BeckRS 2024, 23145; BeckRS 2024, 24738; BeckRS 2024, 27999; BeckRS 2024, 27994; OLG Oldenburg BeckRS 2024, 643; BeckRS 2024, 5526; OLG Saarbrücken BeckRS 2024, 31665; OLG Schleswig BeckRS 2023, 35465; BeckRS 2024, 3307; OLG Stuttgart BeckRS 2023, 35483; BeckRS 2024, 394; für Wohnmobil: OLG Naumburg BeckRS 2023, 27644. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, Schutzgesetzverstoß, Übereinstimmungsbescheinigung, Differenzschaden, unvermeidbarer Verbotsirrtum, Restwert, Nutzungsentschädigung
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 15.02.2019 – 37 O 10028/18
Fundstelle:
BeckRS 2024, 34038

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 15.02.2019, Az. 37 O 10028/18, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.660,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 28.08.2018 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Verfahrens 1. Instanz trägt die Klägerin.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten der Berufungsinstanz tragen die Klägerin 89% und die Beklagte 11 %.
III. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts München I in obiger Fassung sind vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klagepartei begehrt von der Beklagten Schadensersatz im Zusammenhang mit dem sogenannten „Dieselskandal“.
2
Die Klagepartei erwarb im Jahr 2015 einen gebrauchten PKW VW Golf VII 1.6 TDI (Euro 5) zum Kaufpreis von 16.600,Euro (brutto). In dem Fahrzeug ist ein Motor des Typs EA 288 verbaut. Zum Zeitpunkt des Erwerbs wies das Fahrzeug einen Kilometerstand von 9.375 km auf.
3
Die Klagepartei hat erstinstanzlich zunächst vorgetragen, im streitgegenständlichen Fahrzeug sei ein Motor des Typs EA 189 verbaut. Mit Schriftsatz vom 04.11.2019 wurde der Vortrag dahingehend korrigiert, dass ein Motor des Typs EA 288 verbaut sei. Dieser verfüge über eine unzulässige Abschalteinrichtung, die erkennen könne, wenn das Fahrzeug auf dem Prüfstand den Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) durchlaufe.
4
Die Klagepartei hat erstinstanzlich beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 20.637,08 nebst Zinsen in Höhe von 4 % aus einem Betrag in Höhe von 16.600,€ seit dem 21. Januar 2015 bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit sowie in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit aus einem Betrag in Höhe von 20.637,08 € zu zahlen. Die Verurteilung erfolgt Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs der Marke VW vom Typ Golf VII 1.6 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) … nebst zwei Fahrzeugschlüsseln, Kfz-Schein, Kfz-Brief und Serviceheft.
Hilfsweise:
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Schadensersatz zu zahlen für Schäden, die aus der Ausstattung des Fahrzeugs der Marke VW vom Typ Golf VII 1.6 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) … mit der manipulierten Motorsoftware durch die Beklagte resultieren.
3. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme der in vorgenannten Klageanträgen genannten Zug-um-Zug-Leistung im Annahmeverzug befindet.
4. Es wird festgestellt, dass der in Antrag zu 1) bezeichnete Anspruch aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt.
5. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 1.266,16 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen und sie von weiteren EUR 414,12 freizustellen.
5
Weiter hilfsweise:
6. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Auskunft darüber zu erteilen, welche Motorsteuerungssoftware im streitgegenständlichen Fahrzeug:
a. VW
b. Golf VII 1.6 TDI
c….
verbaut ist sowie auch Auskunft darüber zu erteilen, welche Funktionen und welche Arbeitsweise des Abgasreinigungssystems durch diese Motorsteuerungssoftware ausgelöst werden.
6
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
7
Die Beklagte hat vorgetragen, im Fahrzeug der Klagepartei seien keine unzulässigen Abschalteinrichtungen verbaut.
8
Mit Urteil vom 15.02.2019, auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat das Landgericht München I die Klage abgewiesen.
9
Die Klagepartei hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und zur Begründung ihrer Berufung vorgetragen, das streitgegenständliche Fahrzeug verfüge über zwei Technologien zur Reduktion des Stickoxidausstoßes (NOx). Zum einen komme ein SCR-Katalysator, der mit Ad-Blue betrieben werde, zum Einsatz und zum anderen eine sogenannte Abgasrückführung. Die Beklagte bediene sich u.a. einer Abschaltvorrichtung in Form eines Thermofensters sowie einer Fahrkurvenerkennung und einer weiteren – der Klagepartei unbekannten – Abschaltvorrichtung.
10
Die Klagepartei hat in der Berufungsinstanz zunächst unter Abänderung des am 15.02.2019 verkündeten Urteils des Landgerichts München I (Az. 1. Instanz: 37 O 10028/19) wie folgt beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 16.600, 00 nebst Zinsen in Höhe von 4 % seit dem 21. Januar 2015 bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit sowie in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Die Verurteilung erfolgt Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs der Marke VW vom Typ Golf VII 1.6 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) … nebst zwei Fahrzeugschlüsseln, Kfz-Schein, Kfz-Brief und Serviceheft sowie Zahlung eines Nutzungsersatzes in Höhe von EUR 1.920,60.
Hilfsweise:
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Schadensersatz zu zahlen für Schäden, die aus der Ausstattung des Fahrzeugs der Marke VW vom Typ Golf VII 1.6 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) … mit der manipulierten Motorsoftware durch die Beklagte resultieren.
3. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme der in vorgenannten Klageanträgen genannten Zug-um-Zug-Leistung im Annahmeverzug befindet.
4. Es wird festgestellt, dass der in Antrag zu 1) bezeichnete Anspruch aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt.
5. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 1.266,16 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen und sie von weiteren EUR 414,12 freizustellen.
11
Weiter hilfsweise:
6. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Auskunft darüber zu erteilen, welche Motorsteuerungssoftware im streitgegenständlichen Fahrzeug:
a. VW
b. Golf VII 1.6 TDI
c. …
verbaut ist sowie auch Auskunft darüber zu erteilen, welche Funktionen und welche Arbeitsweise des Abgasreinigungssystems durch diese Motorsteuerungssoftware ausgelöst werden.
12
Die Klagepartei beantragt zuletzt nach Umstellung der Klage auf Ersatz des Differenzschadens:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Entschädigungsbetrag bezüglich des Fahrzeugs der Marke VW mit der Fahrzeugidentifikationsnummer … zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, der jedoch mindestens EUR 2.490,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit betragen muss.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den durch die Beauftragten der Prozessbevollmächtigten der Klägerin entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.266,16 € freizustellen.
13
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
14
Die Beklagte verteidigt das Ersturteil und macht geltend, es fehle an einer sittenwidrigen Schädigungshandlung der Beklagten. Das KBA habe für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp in einer amtlichen Auskunft bestätigt, dass in dem Fahrzeug keine unzulässigen Abschalteinrichtungen zum Einsatz kämen. Die Fahrkurvenerkennung und das Thermofenster im streitgegenständlichen Fahrzeug würden keine solche darstellen. Jedenfalls läge kein Verschulden vor, denn die Beklagte wäre einem unvermeidbaren Verbotsirrtum erlegen. Mit Schriftsatz vom 09.01.2024 hat die Beklagte vorgetragen, dass eine Anpassung der Abgasrückführungsrate – entgegen dem vorherigen Vortrag – auch bei einer Umgebungstemperatur zwischen -24°C und +70°C erfolge, ohne den Temperaturbereich, in dem die Anpassung erfolgt, näher einzugrenzen.
15
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20.06.2024 Bezug genommen.
II.
16
Die nach § 511 Abs. 1, Abs. 2 Nummer 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere gemäß § 519 Abs. 1, Abs. 2, § 517 ZPO formund fristgerecht eingelegte und gemäß § 520 Abs. 2, Abs. 3 ZPO begründete Berufung der Klagepartei hat teilweise Erfolg.
17
1. Die Berufung der Klagepartei ist zulässig.
18
a) Nach § 520 Abs. 3 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Bezeichnung der Umstände enthalten, aus denen sich die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt.
19
Der Berufungsführer kann die Verletzung materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Vorschriften rügen. Er hat dabei die Punkte anzugeben, die aus seiner Sicht rechtlich unzutreffend sind, und hat die Gründe darzulegen, aus denen sich die Erheblichkeit für eine andere, ihm günstige Entscheidung ergibt (BGH NJW 2002, 682). Für die Zulässigkeit ist es dabei ohne Bedeutung, ob seine Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind (BGH NJW 1999, 3784; NJW-RR 2003, 1580). Formularmäßige Sätze und allgemeine Redewendungen genügen nicht (BGH NJW 2000, 1576; NJW-RR 2019, 937; NJW-RR 2021, 1438). Ebenso unzureichend ist die Verwendung von Textbausteinen, die andere Verfahren betreffen (BGH NJW-RR 2020, 1187). Die Begründung muss vielmehr auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein (BGH NJW 2015, 511). Der Berufungsführer muss seine Rechtsauffassung darlegen (BGH NJW 2003, 2531). Nicht ausreichend ist es, die Auffassung des Erstrichters als falsch, die Anwendung einer bestimmten Vorschrift als irrig zu rügen oder allein eine angeblich verletzte oder außer Acht gelassene Norm zu nennen (BGH NJW 1995, 1559; NJW-RR 2019, 937). Ebenso wenig reicht grundsätzlich die bloße Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags (BGH NJWRR 2021, 1507). Das Festhalten an einer in erster Instanz zurückgewiesenen Rechtsauffassung führt dagegen auch dann nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, wenn lediglich erstinstanzlich vorgetragene Argumente wiederholt werden (BGH NJW 2018, 2894; BeckOK ZPO/Wulf, 52. Ed. 1.3.2024, § 520, Rn. 23).
20
b) Nach diesen Grundsätzen genügt die Berufungsbegründung der Klagepartei noch den Zulässigkeitsanforderungen.
21
Auf den Seiten 10 bis 14 enthält die Berufungsbegründung vom 15.02.2021 zumindest im Ansatz auf das Ersturteil zugeschnittene, individuelle Rügen der materiell-rechtlichen Beurteilung des Ersturteils sowie der Anwendung des Verfahrensrechts, die nach der erkennbaren Auffassung der Klagepartei insoweit entscheidungserheblich sein sollen, als sich aus ihnen zureichende Gründe für das Vorliegen der behaupteten Abschaltvorrichtung und die Sittenwidrigkeit der Handlung der Beklagten ersehen lassen sollen. Auf die Schlüssigkeit und rechtliche Haltbarkeit kommt es nach dem oben Gesagten im Rahmen von § 520 Abs. 3 Nr. 2 ZPO nicht an.
22
2. Die erstmalige Geltendmachung des Differenzschadens im Berufungsverfahren ist zulässig.
23
Die Geltendmachung des Differenzschadens anstelle des großen Schadensersatzes ist nicht als Klageänderung anzusehen, weil der Lebenssachverhalt im Übrigen unverändert ist (vgl. BGH, Urteil vom 22.02.2018 – VII ZR 46/17 –, juris Rn. 53).
24
3. Die Klagepartei hat gegen die Beklagte keinen Anspruch aus § 826, § 31 BGB.
25
a) Aus dem Einsatz einer temperaturgesteuerten Abgasrückführung (Thermofenster) kann die Klagepartei einen Anspruch aus § 826 BGB nicht herleiten.
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Soweit in dem streitgegenständlichen Fahrzeug ein solches Thermofenster eingebaut ist, rechtfertigt dies den Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht. Denn der Einsatz eines Thermofensters – dessen Unzulässigkeit unterstellt – reicht für sich genommen nicht aus, um einen Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB zu begründen (BGH NJW 2021, 921, Rn. 16; BGH BeckRS 2021, 30607, Rn. 15). Anhaltspunkte dafür, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen, zeigt die Klagepartei auch in der Berufungsbegründung nicht auf. Vielmehr bezieht sich der Vortrag der Klagepartei zur Sittenwidrigkeit sowohl in der Klage als auch in der Berufungsbegründung auf Motoren des Typs EA 189, die über eine Abschaltvorrichtung in Form einer Umschaltlogik verfügen. Vorliegend erfolgt bei Implementierung des Thermofensters hingegen die Abgasreinigung im Grundsatz auf dem Prüfstand und im realen Betrieb in gleicher Weise; es liegt damit gerade kein System der Prüfstandserkennung vor.
27
Gegen ein besonders verwerfliches Verhalten der Beklagten spricht, dass die Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des von allen Herstellern eingesetzten Thermofensters angesichts der kontrovers geführten Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a) VO (EG) Nr. 715/2007 als unsicher anzusehen war. Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genügt aber für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten – ebenso wie für den erforderlichen Schädigungsvorsatz – nicht (BGH NJW 2020, 1962 Rn. 62).
28
Auch aus einer etwaig unterbliebenen Offenlegung der genauen Wirkungsweise des Thermofensters gegenüber dem KBA folgen keine Anhaltspunkte, dass für die Beklagte tätige Personen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Denn nach den zum Zeitpunkt der hier gegenständlichen Emissionsgenehmigung geltenden Genehmigungsvorschriften waren keine Angaben des Herstellers zu den Emissionsstrategien gefordert. Die genaue Beschreibung der Emissionstrategien wurde erst ab 16.05.2016 mit der Verordnung (EU) 2016/646 eingeführt, mithin nach der Erteilung der Typengenehmigung für das in Rede stehende Fahrzeug. Aber selbst wenn die Beklagte dabei erforderliche Angaben zu den Einzelheiten der temperaturabhängigen Steuerung unterlassen haben sollte, wäre die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG gehalten gewesen, diese zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug zu prüfen (BGH BeckRS 2021, 30607, Rn. 26). Anhaltspunkte für wissentlich unterbliebene oder unrichtige Angaben der Beklagten im Typgenehmigungsverfahren, die noch dazu auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des KBA und damit auf einen bewussten Gesetzesverstoß hindeuten würden, hat die Klagepartei nicht vorgetragen und vermag der Senat auch nicht zu erkennen.
29
Auch soweit die Beklagte mit Schriftsatz vom 09.01.2024 vorträgt, dass eine Korrektur der Abgasrückführungsrate (AGR) als Teil der allgemeinen Motorsteuerung auch bei Umgebungstemperaturen oberhalb von -24 °C und unterhalb von +70 °C erfolgen könne, kann hierin kein Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Entsprechende Anhaltspunkte zeigt die Klagepartei auch nicht auf.
30
b) Auch im Hinblick auf die Fahrkurvenerkennung kommt ein Anspruch aus § 826 BGB nicht in Betracht.
31
Sofern die verwendete Abschalteinrichtung nicht grenzwertkausal ist oder auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise funktioniert, kommt eine Haftung nach §§ 826, 31, 830 BGB nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass die Beklagte bei der Entwicklung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm. Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (st. Rspr., vgl. BGH BeckRS 2023, 37216, Rn. 12; BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 – III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 12; – III ZR 303/20, juris Rn. 13 mwN).
32
Danach fehlen greifbare Anhaltspunkte dafür, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Denn nach den von der Beklagten angeführten Auskünften des Kraftfahrtbundesamtes hat dieses in Bezug auf diverse Ausführungen des Motors der Baureihe EA 288 (Anlagen BE 78 und 79) mitgeteilt, dass die Deaktivierung der Fahrkurvenerkennung nicht zu einer Überschreitung der Grenzwerte geführt habe. Dem ist die Klagepartei nicht substantiiert entgegengetreten. Greifbare Anhaltspunkte für die Annahme, die Beklagte habe das KBA über Funktionsweise und Wirkung der Fahrkurvenerkennung getäuscht, bestehen nicht.
33
c) Greifbare Anhaltspunkte für das Vorhandensein sonstiger unzulässiger Abschalteinrichtungen, die dem KBA – aus welchen Gründen auch immer – verborgen geblieben wären, bestehen ebenfalls nicht. Fehlt es wie hier nämlich an einem Rückruf des streitgegenständlichen Fahrzeugs, so bedarf es anderer gewichtiger Indizien für das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung (OLG München BeckRS 2021, 9658 Rn. 36). Solche sind jedoch nicht vorgetragen.
34
Unergiebig ist der pauschale Verweis auf angeblich erhöhte Abgaswerte außerhalb des Prüfstandbetriebs in der Klageschrift. Zum einen beziehen sich die insoweit vorgelegten Nachweise bereits überwiegend auf Fahrzeuge, die der Dieselnorm Euro 6 unterfallen (Anlagen K 29 und K 30) bzw. beziehen sich nicht auf das streitgegenständliche Fahrzeug (Anlage K 31). Auch der Anlage K 32 lässt sich nicht entnehmen, welche Abgaswerte das streitgegenständliche Fahrzeug außerhalb des Prüfstandbetriebs aufweist. Vielmehr ergibt sich hieraus lediglich, dass die EAL (Emissions Analytics Limited) das – nach dem Vortrag der Klagepartei – streitgegenständliche Fahrzeug der Klasse E zugeordnet habe. Fahrzeuge dieser Klasse haben einen NOx-Ausstoß von 0,25 g/km bis 0,50 g/km. Im Hinblick darauf, dass das streitgegenständliche Fahrzeug zulässigerweise 0,12 bis 0,18 g/km NOx ausstoßen darf (Euro 5-Norm) und nicht ersichtlich ist, unter welchen Bedingungen die Tests durchgeführt wurden, lässt sich hieraus kein greifbarer Anhaltspunkt für das Vorhandensein einer weiteren Abschaltvorrichtung entnehmen. Zum anderen ergibt sich aus erhöhten Abgaswerten außerhalb des Prüfstandes nicht, dass eine unzulässige Abschaltvorrichtung vorhanden sein muss (BGH BeckRS 2021, 37995 Rn. 30; OLG München BeckRS 2022, 29312 Rn. 18). Vielmehr liegt auf der Hand, dass eine eventuelle Überschreitung der Grenzwerte ohne weiteres darauf zurückzuführen sein kann, dass der Motor im realen Fahrbetrieb aufgrund der konkreten Verkehrsverhältnisse deutlich mehr Schadstoffe emittiert als in einem zu Vergleichszwecken festgelegten, standardisierten Fahrzyklus. Da der europäische Gesetzgeber für die Schadstoffnormen Euro 5 und Euro 6 im Jahr 2013 die Messung allein im Prüfstandbetrieb festgelegt hatte, kommt es nicht darauf an, ob im Normalbetrieb die der Zulassung zugrundeliegenden Werte im NEFZ eingehalten werden (OLG Braunschweig BeckRS 2019, 38719).
35
Es ist auch nicht statthaft, alle Fahrzeuge der Beklagten dahingehend gleichsam über einen Kamm zu scheren, dass, wenn eine unzulässige Abschalteinrichtung in einem Motor eines Fahrzeugherstellers vorliegt, dies im Regelfall die gesamte Motorenreihe oder gar alle Fahrzeuge dieses Herstellers bzw. dieses Konzerns betreffe (OLG Hamm BeckRS 2021, 31189 Rn. 78; OLG Koblenz BeckRS 2019, 18418 Rn. 22). Ein solcher Erfahrungssatz kann nicht angenommen werden, schon weil damit sämtliche Motoren einer Motorenfamilie bzw. einer Baureihe ohne Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen technischen Merkmale einem Generalverdacht unterworfen würden (OLG München BeckRS 2021, 9658 Rn. 23; OLG Brandenburg BeckRS 2020, 41726 Rn. 29).
36
Soweit sich die Klagepartei auf einen Rückruf des Fahrzeugmodells VW T6 wegen einer Überschreitung des Euro-6 Grenzwertes beruft, lässt dies auch keine Rückschlüsse auf eine weitere Abschaltvorrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug zu, denn bei diesem handelt es sich um ein Fahrzeug, das der Euro-5 Norm unterfällt.
37
4. Eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB scheitert bei dem hier vorliegenden Kauf eines Gebrauchtwagens jedenfalls an der erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden (vgl. BGH BeckRS 2021, 30607, Rn. 40; BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 VI ZR 5/20 Rn. 17 ff., ZIP 2020, 1715).
38
5. Die Beklagte haftet auch nicht nach §§ 831, 826 BGB. Insoweit fehlt es schon an der Darlegung einer zumindest bedingt vorsätzlichen Schädigungshandlung der für die Beklagte tätigen Personen. Die allgemeinen Ausführungen der Klagepartei beziehen sich erneut lediglich pauschal auf einen Motor, der über eine Abschaltvorrichtung in Form einer Umschaltlogik verfügt, die erkennt, ob der NEFZ durchlaufen wird.
39
Im Übrigen war die Auslegung, dass es sich bei einem Thermofenster bzw. der Fahrkurvenerkennung nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 handelt, jedenfalls zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs eine zulässige Auslegung des Gesetzes. Damit liegen keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Mitarbeiter oder eventuelle Repräsentanten der Beklagten in dem Bewusstsein handelten, mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeugs möglicherweise gegen gesetzliche Vorschriften zu verstoßen, und damit einen Gesetzesverstoß sowie eine Schädigung des Käufers des Fahrzeugs auch nicht zumindest billigend in Kauf genommen haben.
40
6. Soweit die Klagepartei die geltend gemachten Ansprüche auch auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m § 16 UWG stützt, fehlt es – wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat – an jedem Vortrag zu einer konkreten Werbeaussage.
41
7. Die geltend gemachten Ansprüche stehen der Klagepartei auch nicht aus § 823 Abs. 2 i.V.m. § 1 GWB, Art. 101 AEUV zu. Soweit die Klagepartei vorträgt, es habe Absprachen zur Abgasnachbehandlung mittels SCR-Katalysators und insbesondere zur Größe der AdBlueTanks gegeben, verfängt dies vorliegend nicht, denn der streitgegenständliche Motor verfügt nicht über einen SCR-Katalysator. Diesem Vortrag der Beklagten ist die Klagepartei nicht substantiiert entgegengetreten. Im Übrigen fehlt es – wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat – an schlüssigem Vortrag zu den konkreten Absprachen. Hiergegen wendet sich die Berufung lediglich mit dem Vortrag, die Argumentation überzeuge nicht.
42
8. Vertragliche Ansprüche oder solche aus vorvertraglicher Haftung (§ 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 311 Abs. 3 BGB) scheiden mangels rechtsgeschäftlicher oder rechtsgeschäftsähnlicher Beziehungen zwischen den Parteien aus.
43
9. Der Klagepartei steht jedoch ein Anspruch in Höhe von 1.660,00 € aus § 823 Abs. 2 BGB, §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zu.
44
a) Bei §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV handelt es sich um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB (BeckOK BGB/Förster, 70. Ed. 1.5.2024, BGB § 823 Rn. 290; BGH NJW 2023, 2270 Rn. 25 ff.; BGH NJW 2023, 2259 Rn. 18 ff.).
45
b) Die Beklagte hat eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung erteilt. Unzutreffend ist eine Übereinstimmungsbescheinigung, wenn das betreffende Kraftfahrzeug mit einer gem. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist, weil die Bescheinigung dann eine tatsächlich nicht gegebene Übereinstimmung des konkreten Kraftfahrzeugs mit Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 ausweist (BGH NJW 2023, 2259, Rn. 34).
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aa) Das streitgegenständliche Kraftfahrzeug ist mit einer Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 ausgestattet.
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(1) Nach Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 ist eine Abschalteinrichtung ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
48
(2) Danach weist das streitgegenständliche Fahrzeug eine Abschalteinrichtung in Gestalt einer temperaturabhängigen Anpassung der Abgasrückführung auf. Diese bewirkt, dass die Abgasrückführungsrate bereits bei Außentemperaturen über 5 °C reduziert wird und, damit die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs im Unionsgebiet verringert wird, Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 (Verordnung (EG) Nr. 715/2007).
49
Die Klagepartei hat vorgetragen, zur Reduktion des Stickoxidausstoßes (NOx) komme bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug eine Abgasrückführung zum Einsatz. Diese weise ein Abschaltvorrichtung in Form eines Thermofensters auf. Hierbei werde die Abgasrückführung bei Temperaturen von unter +17 °C und über +30 °C heruntergefahren. Eine signifikante Reduktion der Abgasrückführung erfolge bereits bei einer Temperatur von +5 °C (Bl. 197 d.A.). Da in Europa durchschnittlich Temperaturen unter +17 °C herrschten, führe dies dazu, dass die Abgasrückführung faktisch dauerhaft reduziert sei. Zur Funktionsweise des Thermofensters führt die Klagepartei darüber hinaus aus, dass diese Abschalteinrichtung auf das Zusammenspiel zahlreicher Fahrzeugteile und auf die äußeren Umstände Rücksicht nehmen müsse. Die Software der Motorsteuerung berechne aus einer Vielzahl von Eingangsgrößen und Parametern die notwendigen Steuersignale für den Betrieb des Motors und der Abgasreinigung.
50
Die Beklagte ist diesem Vortrag entgegengetreten und hat zunächst vorgetragen, dass bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug eine Korrektur der Abgasrückführungsrate vorgenommen werde, wenn die Umgebungstemperatur -24 °C unterschreite oder +70 °C überschreite. Bei Temperaturen zwischen -24 °C und +70 °C sei die Abgasrückführung hingegen zu 100% aktiv und innerhalb dieses Temperaturbereichs finde eine Abrampung nicht statt (vgl. bspw. Schriftsatz der Beklagten vom 25.08.2023, S. 5). Mit Schriftsatz vom 09.01.2024 (S. 3 und S. 15) hat die Beklage ihren ursprünglichen Vortrag relativiert und eingeräumt, dass neben der Korrektur der AGR-Rate aufgrund der Umgebungstemperatur weitere Korrekturen der Abgasrückführung anhand verschiedener Parameter stattfinden könnten. Im streitgegenständlichen Fahrzeug sei eine Korrekturfunktion an zwei Temperaturgrößen geknüpft, die im Motorraum durch Sensoren gemessen würden. Diese Sensoren befänden sich am Heißfilmluftmassenmesser (HFM) – dort werde neben der Masse der einströmenden Frischluft auch deren Temperatur gemessen – sowie im Motor nach dem saugrohrintegrierten Ladeluftkühler (SiLLK). Diese Korrektur bewirke, dass die AGR-Rate in Abhängigkeit der Temperaturen am HFM und nach dem SiLLK angepasst werde. Diese im Motorraum gemessenen Temperaturen könnten von der Umgebungstemperatur vollständig unabhängig sein. Sie könnten aber auch mittelbar von der Umgebungstemperatur beeinflusst sein, das treffe z.B. auf die am HFM gemessene Temperatur zu. Daher könne es auch bei Umgebungstemperaturen zwischen -24 °C und +70 °C zu einer Korrektur der Abgasrückführungsrate (AGR-Rate) kommen (Bl. 458 d.A.).
51
Damit ist nach dem (neuen) Vortrag der Beklagten unstreitig, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug die Abgasrückführung auch bei Umgebungstemperaturen zwischen -24°C und +70°C nicht zu 100% aktiv ist, sondern – zumindest auch – in Abhängigkeit von der Außentemperatur „korrigiert“, also angepasst wird. Damit ist – nach dem Vortrag der Beklagten – die Motorsteuerung des streitgegenständlichen Fahrzeugs in der Lage, die AGR-Rate, im Vergleich zur primären Konfiguration der AGR-Rate für den herrschenden Betriebszustand, zu reduzieren und damit die Funktion eines Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren. Dies führt vorliegend auch zwingend zu einer Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems, wie die Klagepartei vorgetragen hat (vgl. Bl. 198 d.A. „weshalb es nicht zu einer Abgasreinigung kommt“). Zwar kommt es für die Wirkung der Funktionsänderung auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit an. Da das streitgegenständliche Fahrzeug vorliegend jedoch weder über einen SCR-Speicherkatalysator noch über einen NOx-Speicherkatalysator verfügt (SS. d. Beklagten vom 09.01.2024, S. 2) und damit nicht über ein System zur NOx-Abgasreinigung, ist es ausgeschlossen, dass eine Verringerung der Abgasrückführung durch eine verbesserte Abgasreinigung ausgeglichen wird und nicht zu einer reduzierten Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems führt.
52
Diese verringerte Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems erfolgt auch unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs im Unionsgebiet. Die Klagepartei hat insoweit vorgetragen, dass die Abgasrückführung bei Temperaturen von unter +17 °C und über +30 °C heruntergefahren werde und eine signifikante Reduktion der Abgasrückführung bereits bei einer Temperatur von 5 °C erfolge (Bl. 197 d.A.), da die Software der Motorsteuerung aus einer Vielzahl von Eingangsgrößen und Parametern die notwendigen Steuersignale für den Betrieb der Abgasreinigung, mithin auch für die Abschalteinrichtung berechne (Bl. 198 d.A.). Im Hinblick darauf, dass die Anforderungen an den Tatsachenvortrag der Klagepartei zum Vorhandensein einer Abschalteinrichtung nicht überspannt werden dürfen (BGH BeckRS 2023, 15117, Rn. 53) und die Beklagte eine Korrektur bzw. Anpassung der AGR-Rate in (mittelbarer) Abhängigkeit von der Außentemperatur auch innerhalb des Temperaturbereichs zwischen -24 °C und +70 °C nunmehr zugestanden hat und es gleichzeitig unterlassen hat, den Temperaturbereich, in dem die Anpassung erfolgt, näher einzugrenzen, ist es als unstreitig anzusehen, dass bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug die Abgasrückführung bei Temperaturen von unter +17 °C heruntergefahren und ab einer Temperatur von +5 °C signifikant reduziert wird.
53
bb) Die Abschalteinrichtung ist auch nicht ausnahmsweise zulässig nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
54
Der Beklagten obliegt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine festgestellte Abschalteinrichtung zulässig ist. Das ergibt sich aus dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, weil die Verwendung einer Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 grundsätzlich unzulässig und nur unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ausnahmsweise zulässig ist (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21 –, BGHZ 237, 245280, juris Rn. 54).
55
Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in (mittelbarer) Abhängigkeit von der Außentemperatur aus Gründen des Motorschutzes und des sicheren Fahrzeugbetriebs erforderlich ist. Soweit sie dazu vorgetragen hat, dass die Deaktivierung der AGR-Rate unterhalb von -24 °C und oberhalb von +70 °C zum Schutz des Motors und für einen sicheren Fahrbetrieb erforderlich ist, betrifft dieser Vortrag schon nicht die Reduzierung der Abgasrückführung innerhalb dieses Temperaturbereichs. Insoweit hat sie nur vorgetragen, diese Reduktion soll eine „geeignete Verbrennung schützen und den Motor schützen“. Damit genügt sie ihrer Darlegungslast nicht.
56
cc) Der Verstoß der Beklagten gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV durch die Erteilung einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung ist auch schuldhaft erfolgt.
57
Die Beklagte hat die aus der Schutzgesetzverletzung folgende Verschuldensvermutung (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21 –, BGHZ 237, 245-280, juris Rn. 59) weder ausgeräumt noch einen unvermeidbaren Verbotsirrtum konkret dargelegt.
58
Die Beklagte hat zu einem Irrtum ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter über die zuletzt eingeräumte Abschaltvorrichtung keinen Vortrag gehalten. Es fehlt schon an der konkreten Darlegung eines Verbotsirrtums. Jedenfalls fehlt es an Vortrag, dass dieser unvermeidbar gewesen wäre. Denn die Beklagte hat sich weder auf eine tatsächliche Genehmigung der zuständigen Behörde noch auf einen eingeholten externen qualifizierten Rechtsrat berufen. Soweit sie sich auf eine hypothetische Genehmigung berufen hat, bezieht sich der Vortrag lediglich auf die Deaktivierung der Abgasrückführung außerhalb des Temperaturbereichs zwischen -24 °C und +70 °C. Im Hinblick auf die Korrektur der AGR-Rate hat die Beklagte vielmehr vorgetragen, sie habe die zuständige Typengenehmigungsbehörde über die Funktionsweise informiert. Weitere Details hierzu würden noch untersucht.
59
10. Durch den schuldhaften Verstoß der Beklagten gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV hat die Klagepartei einen Vermögensschaden in Höhe von 1.660,00 € erlitten.
60
a) Die Klagepartei hat einen Schaden in Höhe des Betrages erlitten, um den sie das Fahrzeug mit Rücksicht auf die mit der unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Risiken zu teuer erworben hat.
61
b) Zur Erwerbskausalität kann sich die Klagepartei nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf den Erfahrungssatz stützen, dass sie den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 55 f.). Umstände, die diesen Erfahrungssatz widerlegen, sind im Streitfall weder dargetan noch sonst ersichtlich.
62
c) Der Differenzschaden beläuft sich auf 1.660,00 €.
63
aa) Der Senat schätzt die Höhe des der Klagepartei entstandenen Vermögensschadens gemäß § 287 ZPO unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles innerhalb der unionsrechtlich vorgegebenen Bandbreite (vgl. BGH NJW 2023, 2259, Rn. 71 ff.) mit 10% des gezahlten Kaufpreises. Der Senat geht davon aus, dass der objektive Wert des Fahrzeugs durch das mit der Abschalteinrichtung verbundene Risiko der Betriebsstilllegung in diesem Umfang gemindert ist. Die Höhe des entstandenen Differenzschadens ist einer tatrichterlichen Schätzung nach § 287 ZPO zugänglich. Unter Berücksichtigung der maßgeblichen Umstände (vgl. hierzu BGH NJW 2023, 2259, Rn. 76 f.) handelt es sich in jeder Hinsicht, sowohl was die Art als auch was die möglichen Folgen des Verstoßes angeht, um einen mittelschweren Fall innerhalb der unionsrechtlich vorgegebenen Bandbreite von 5% bis 15%, der die Anwendung des mittleren Prozentsatzes von 10% rechtfertigt. Ein höherer Schadensersatz ergibt sich auch nicht aus dem Vorliegen einer weiteren Abschaltvorrichtung in Form einer Fahrkurvenerkennung, denn die Beklagte hat (zuletzt SS d. Beklagten vom 25.08.2023, S. 7) vorgetragen, dass die Fahrkurvenerkennung im streitgegenständlichen Fahrzeug keinen Einfluss auf die Schadstoffemission hat (zum Erfordernis der Auswirkung auf das Emissionsverhalten vgl. BGH NJW 2023, 2259, Rn. 48). Diesem Vortrag ist die Klagepartei nicht substantiiert entgegengetreten.
64
Daraus ergibt sich zunächst ein Schaden in Höhe von 1.660,00 €.
65
bb) Auf den Differenzschaden sind im Wege der Vorteilsausgleichung die Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs nach den Grundsätzen für die Berechnung des sogenannten kleinen Schadensersatzanspruchs anzurechnen (vgl. BGH NJW 2023, 2259, Rn. 80). Danach sind Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs auf den Schadensersatzanspruch erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen (BGH, Urteil vom 24. Januar 2022 – VIa ZR 100/21 –, juris Rn. 22).
66
(1) Der Klagepartei ist ein Nutzungsersatz iHv 5.772,97 Euro anzurechnen. Dieser berechnet sich wie folgt:
67
(2) Grundsätzlich gilt für den Nutzungsersatz, dass der Wert des Gebrauchs eines Fahrzeugs nicht genau berechenbar ist. Daher muss er im Bestreitensfall analog § 287 Abs. 1 ZPO nach freiem Ermessen geschätzt werden (BGH NJW 2022, 463 Rn. 52 m.w.N.). Bei der Schätzung des Werts der gezogenen Nutzungen ist die zeitanteilige lineare Wertminderung zugrunde zu legen, die bei Neufahrzeugen ausgehend vom Bruttokaufpreis anhand eines Vergleichs zwischen tatsächlichem Gebrauch (gefahrene km) und voraussichtlicher Gesamtnutzungsdauer (erwartete Gesamtlaufleistung) zu bestimmen ist (BGH NJW 2022, 463 Rn. 55 m.w.N.). Die Parteien sind sich hier einig, dass die folgende Formel zum Tragen kommt (statt vieler BGH NJW-RR 2021, 1388 Rn. 13:
68
(3) Der Senat geht von einer Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs vom Typ VW Golf VII 1.6 TDI in Höhe von 250.000 km aus, da es sich um ein Fahrzeug handelt, das grundsätzlich auf eine umfangreiche und robuste Nutzung ausgelegt ist, die Beklagte selbst für sich in Anspruch nimmt, hochwertige Fahrzeuge anzubieten, die entsprechend gehobene Kaufpreise haben, und noch heute zahlreiche Dieselfahrzeuge der Beklagten mit einem identischen oder ähnlichen Baujahr zugelassen, betriebsbereit und im Verkehr sichtbar sind (Senat, Urteil vom 04.11.2021, Az. 29 U 234/19).
69
Da das Fahrzeug zum Kaufzeitpunkt 9.375 km gefahren war, betrug die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt 240.625 km. Das Fahrzeug wies zum Schluss der mündlichen Verhandlung einen km-Stand von 93.057 km auf. Unter Anwendung der oben dargestellten Formel ergibt sich bei einem Bruttokaufpreis von 16.600,00 € und von der Klagepartei gefahrenen 83.682 km ein im Wege der Vorteilsausgleichung in Abzug zu bringender Betrag in Höhe von 5.772,97 €.
70
(4) Der Senat schätzt den Restwert auf 8.695,93 €.
71
Die Beklagte hat den Restwert des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit 11.506, 00 € (Händlerverkaufswert) beziffert. Die Klagepartei hat vorgetragen, der Restwert betrage 8.500,00 €.
72
Hinsichtlich des Restwerts des Fahrzeugs geht der Senat vom Händlereinkaufspreis gemäß Gebrauchtwagenbewertung erstellt mit SilverDAT aus (§ 287 ZPO). Dabei handelt es sich nach Auffassung des Senats um denjenigen Betrag, den der Verkäufer eines Gebrauchtwagens bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge zu erzielen vermag, zumal sich in Zeiten weitestgehender Verbreitung des Internets nicht nur gewerbliche, sondern auch private Gebrauchtwagenkäufer bei lebensnaher Würdigung an den im Internet verfügbaren KFZ-Bewertungsmöglichkeiten orientieren werden. Soweit die Beklagte meint, für den Restwert sei auf den Händlerverkaufspreis abzustellen, weil es sich hierbei um den Wert des Fahrzeuges für die Klagepartei handele, da sie diesen Betrag aufwenden müsste, wenn sie ein entsprechendes Gebrauchtfahrzeug erwerben möchte, handelt es sich bei dem Händlerverkaufspreis um den Wiederbeschaffungspreis. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dieser jedoch nicht maßgeblich. Vielmehr ist der Restwert des Fahrzeugs anzusetzen.
73
Vorliegend ergab die SilverDAT-Abfrage einen aktuellen Restwert des Fahrzeugs von 8.695,93 €.
74
(5) Der um den Differenzschaden geminderte Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags beläuft sich auf 14.940,Euro (entspricht hier 90% des Kaufpreises in Höhe von 16.600,Euro).
75
(6) Addiert man den Restwert des Fahrzeugs iHv 8.695,93 € und den Nutzungsersatz iHv 5.772,97 €, ergibt dies einen Betrag für die Vorteilsanrechnung von 14.468,90 Euro. Nachdem dieser Betrag im Rahmen der Vorteilsausgleichung aber nur insoweit zu berücksichtigen ist, wie er den um den Differenzschaden geminderten Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags iHv 14.940,00 Euro übersteigt, kommt er vorliegend nicht zum Tragen.
76
11. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288, 291 ZPO.
77
12. Da der Klagepartei bereits dem Grunde nach weder Schadensersatzansprüche gemäß § 826 BGB noch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB bzw. i.V.m. § 16 UWG oder § 1 GWB gegen die Beklagte zustehen, kann sie nach diesen Anspruchsgrundlagen auch nicht die Zahlung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangen.
78
Auf der Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV kann neben dem Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens eine Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nicht verlangt werden (BGH, Urteil vom 16. Oktober 2023 – VIa ZR 14/22 –, juris Rn. 13). Die Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 280 Abs. 1 und 2, § 286 BGB sind weder dargetan noch ersichtlich.
79
13. Das Verfahren war nicht analog § 148 ZPO im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des LG Ravensburg im Verfahren 2 O 331/19 auszusetzen (vgl. BGH VIa ZR 716/23 Rn. 15).
III.
80
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92 Abs. 1, Abs. 2, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Die erstinstanzlichen Kosten hat die Klagepartei nach § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, 713 ZPO.
81
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung (§ 543 auf Satz 2 Satz 1 Nummer 1 ZPO) hat und auch die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nummer 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache erfordert, wie die obigen Ausführungen zeigen, lediglich die Anwendung gesicherter Rechtsprechungsgrundsätze auf den Einzelfall.