Titel:
Erfolgreicher Eilantrag gegen Abschiebungsanordnung nach Italien (Dublin-Verfahren)
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
Dublin III-VO Art. 12 Abs. 4
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a Abs. 1 S. 1, § 76 Abs. 4
Leitsätze:
1. Es steht erst dann fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, wenn sie rechtlich zulässig und auch mit großer Wahrscheinlichkeit zeitnah tatsächlich möglich ist, wobei Bezugspunkt grundsätzlich die sechs Monate dauernde Überstellungsfrist ist. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die äußerst niedrigen Rückführungszahlen erschüttern in Zusammenschau mit der nicht revidierten Willenserklärung des italienischen Innenministeriums, dass aufgrund fehlender Aufnahmekapazitäten Dublin-Überstellungen – außer Fälle betreffend Familiennachzug oder unbegleitete Minderjährige – vorläufig ausgesetzt würden, das grundsätzliche Vertrauen in die tatsächliche Aufnahmebereitschaft Italiens. (Rn. 27 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin: Italien, Eilantrag, Asylverfahren, Dublin-Verfahren, Italien, Abschiebungsanordnung, Kurzaufenthaltsvisum, Aufnahmeersuchen, Überstellungsfrist, Aufnahmebereitschaft, konkrete Zweifel an der Möglichkeit der Überstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens, rechtswidrige Abschiebungsanordnung nach Italien
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33988
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Oktober 2024 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich mit dem gegenständlichen einstweiligen Rechtsschutzantrag gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien im Wege des Dublin-Verfahrens.
2
Der Antragsteller ist konfessionsloser Staatsangehöriger Kubas. Er reiste am 16. Januar 2024 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte einen Asylantrag, von dem das Bundesamt für ... (Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am 18. Juli 2024 schriftlich Kenntnis erlangte. Der Antragsteller stellte am 30. Juli 2024 einen förmlichen Asylantrag.
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Eine am 18. Juli 2024 vorgenommene Eurodac-Recherche brachte für den Antragsteller keinen Treffer hervor. Bei einer Recherche im Europäischen Visa-Auskunftssystem (VIS) stellte das Bundesamt am selben Tag fest, dass dem Antragsteller mit Entscheidung vom 3. Januar 2024 durch das italienische Konsulat in Havanna ein Kurzaufenthaltsvisum für die Schengen-Staaten erteilt wurde (Visum Nr.: …), gültig vom 1. Januar 2024 bis zum 14. Februar 2024 für eine einzige Einreise und einen Aufenthalt von maximal 30 Tagen.
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Im Rahmen seiner Erstbefragung am 30. Juli 2024 gab der Antragsteller an, er habe Kuba erstmalig am 15. Januar 2024 verlassen und sei am 16. Januar 2024 mit dem Flugzeug in Deutschland eingereist.
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Das Bundesamt richtete am 5. August 2024 unter Bezugnahme auf Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO ein auf den Antragsteller bezogenes Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden. Zwar forderten die italienischen Behörden mit E-Mail vom 6. August 2024 einen fehlenden Anhang an, das Aufnahmegesuch blieb aber im Nachgang unbeantwortet.
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In der Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags am 9. August 2024 gab der Antragsteller an, von Kuba aus direkt nach Deutschland geflogen zu sein. Sein Bruder lebe in Italien, dort sei es daher leichter gewesen, ein Besuchsvisum zu bekommen. Zu seinem Bruder habe er aber keinen Kontakt, in Italien kenne er niemanden. Deutschland sei das Land, das ihm am besten gefalle. Am selben Tag wurde der Antragsteller in der Sache zu seinen Asylgründen angehört. Auf die dabei gemachten Angaben des Antragstellers wird Bezug genommen.
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Mit Bescheid vom 7. Oktober 2024, dem Antragsteller zugestellt am 12. Oktober 2024, wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und die Abschiebung des Antragstellers nach Italien wurde angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Hiergegen hat der Antragsteller am 21. Oktober 2024 mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach Anfechtungsklage erhoben (AN 14 K 24.50726) und den gegenständlichen Antrag im einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylG seien nicht gegeben. Die dafür erforderliche Wahrscheinlichkeit, dass eine Überstellung des Antragstellers zeitnah tatsächlich möglich ist, sei nicht gegeben.
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Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Das Gericht wies die Beteiligten mit der Erstzustellung auf das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 11. Juli 2024 hin (Az.: 24 B 24.50010).
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Mit Schreiben vom 22. Oktober 2024 ergänzte die Bevollmächtigte des Antragstellers daraufhin, dem Antragsteller drohe in Italien anders als den Klägern im Verfahren des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – eine Frau und ihr vierjähriger Sohn – eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Bundesamtsakte Bezug genommen.
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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO ist hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides statthaft nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG, da die in der Hauptsache statthafte Anfechtungsklage nach § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat. Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG fristgerecht gestellte Antrag ist auch im Übrigen zulässig.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegen das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin abgewogen wird. Grundlage ist dabei die anhand einer summarischen Prüfung erfolgende Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (BVerwG, B.v. 7.7.2020 – 7 VR 2/10 u.a. – juris Rn. 20; B.v. 23.1.2015 – 7 VR 6/14 – juris Rn. 8).
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Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids vom 7. Oktober 2024 erweist sich bei summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). In der Abwägung überwiegt daher das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage.
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1. Zwar ist Italien nach den Regeln der Dublin III-VO grundsätzlich der für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller zuständige Mitgliedstaat.
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Italien ist aufgrund des gewährten Visums gemäß Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 i.V.m. Abs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Asylgesuch des Antragstellers durch das Bundesamt am 18. Juli 2024 war der Antragsteller im Besitz eines seit weniger als sechs Monaten abgelaufenen Kurzaufenthaltsvisums für den Schengen-Raum, erteilt am 3. Januar 2024 vom italienischen Konsulat in Kuba. Dieses hatte einen Gültigkeitszeitraum vom 1. Januar 2024 bis zum 14. Februar 2024 und war daher am 18. Juli 2024 seit weniger als sechs Monaten abgelaufen, sodass Italien als Mitgliedstaat, der das Visum ausgestellt hat, für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig ist (Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 i.V.m. Abs. 2 Dublin III-VO). Das Bundesamt hat am 5. August 2024 ein auf der VIS-Auskunft basierendes Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden gestellt und damit die sich aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO ergebende dreimonatige Frist seit Asylantragstellung gewahrt. Die italienischen Behörden haben nicht innerhalb von zwei Monaten auf das Aufnahmegesuch reagiert (Art 22 Abs. 1 Dublin III-VO). Damit ist Italien grundsätzlich nach Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft zu treffen.
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Die Antragsgegnerin ist auch nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig geworden, denn diese wurde durch den vorliegenden, fristgerecht gestellten Antrag unterbrochen und läuft erst mit der Ablehnung des Antrags erneut an (vgl. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO a.E.).
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2. Es steht allerdings im Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nicht im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Italien durchgeführt werden kann. Die auf dieser Rechtsgrundlage ergangene Abschiebungsanordnung ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig. An der anderslautenden, bisherigen diesbezüglichen Rechtsprechung der Kammer (vgl. etwa B.v. 20.3.2024 – AN 14 S 23.50728 – juris Rn. 92 ff.) wird nicht mehr festgehalten.
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Es steht dann fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, wenn sie rechtlich zulässig und auch mit großer Wahrscheinlichkeit zeitnah tatsächlich möglich ist (vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – BeckRS 2024, 28754, Rn. 45; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AsylG § 34a Rn. 3). Bezugspunkt für die Frage, ob in diesem Sinne feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, ist die in Art. 29 Abs. 1, 2 Dublin III-VO geregelte, grundsätzlich sechs Monate dauernde Überstellungsfrist. Bei dieser Prognose ist dem Bundesamt ein Beurteilungsspielraum eröffnet, der nur eingeschränkt der gerichtlichen Überprüfung unterliegt (vgl. Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 1.11.2022, AsylG § 34a, Rn. 38).
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Die tatsächliche Möglichkeit der Abschiebung ist grundsätzlich dann gegeben, wenn der Zielstaat auf der Grundlage entsprechender bilateraler oder unionsrechtlicher Regelungen – etwa der Dublin III-VO – zur Übernahme des Ausländers verpflichtet ist (vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – BeckRS 2024, 28754, Rn. 46; VG Würzburg, B.v. 2.10.2024 – W 4 S 24.50372 – juris Rn. 17). Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist allerdings dann nicht zulässig, wenn Erkenntnisse vorliegen, die konkrete Zweifel an der Möglichkeit einer Überstellung begründen (vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – BeckRS 2024, 28754, Rn. 47; VG Würzburg, B.v. 2.10.2024 – W 4 S 24.50372 – juris Rn. 18 m.w.N.).
26
In diesem Sinne bestehen im Entscheidungszeitpunkt konkrete Zweifel an der Möglichkeit der Überstellung des Antragstellers nach Italien innerhalb der Überstellungsfrist.
27
Das italienische Innenministerium hat mit Rundschreiben vom 5. und vom 7. Dezember 2022 an die Dublin-Staaten mitgeteilt, dass aufgrund fehlender Aufnahmekapazitäten Dublin-Überstellungen – außer Fälle betreffend Familiennachzug oder unbegleitete Minderjährige – vorläufig ausgesetzt („temporarily suspend[ed]“) würden (vgl. Ministerio dell’Interno, circular letter vom 5. und 7.12.2022, abrufbar unter https://www.asylfact.justiz.hessen.de). Diese Maßnahme wurde im Oktober 2023 und nochmal im April 2024 verlängert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformation Italien, Stand 27.9.2024, S. 4). Es kommt auch in der Praxis entsprechend der Ankündigung nur äußerst eingeschränkt zu Dublin-Überstellungen nach Italien: 2023 wurden durch die Bundesrepublik Deutschland 15.479 Übernahmeersuchen an Italien gerichtet, es kam aber lediglich zu elf Überstellungen (vgl. BT-Drucks. 20/10869, S. 23). Im ersten Quartal 2024 kam es lediglich zu zwei Dublin-Überstellungen aus Deutschland nach Italien (vgl. BT-Drucks. 20/11471, S. 14).
28
Die äußerst niedrigen Rückführungszahlen erschüttern in Zusammenschau mit der in den Rundschreiben geäußerten, seitdem nicht revidierten Willenserklärung das grundsätzliche Vertrauen in die tatsächliche Aufnahmebereitschaft Italiens (vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – BeckRS 2024, 28754, Rn. 48; NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21). Der Ende 2022 eingeleitete Zustand dauert trotz der Ankündigung des lediglich „vorläufigen Aussetzens“ regulärer Dublin-Überstellungen durch Italien nunmehr seit fast zwei Jahren an. Die vom Bundesamt im vorliegenden Fall getroffene Prognose, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Italien innerhalb der Überstellungsfrist möglich ist, ist vor diesem Hintergrund nicht haltbar (so auch BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – BeckRS 2024, 28754; OVG NW, B.v. 16.3.2023 – 11 A 252/23.A – juris; VG Würzburg, B.v. 2.10.2024 – W 4 S 24.50372 – juris Rn. 21 f.; VG Hamburg. U.v. 19.2.2024 – 9 A 4685/22, 9439537 – juris S. 34 ff.; VG Stuttgart, U.v. 16.10.2023 – A 4 K 429/23 – juris).
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Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids ist demnach nach summarischer Prüfung rechtswidrig.
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3. Nach alledem ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.