Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 22.02.2024 – 206 StRR 59/24
Titel:

Reichweite der Bindungswirkung bei vertikaler und horizontaler Teilrechtskraft

Normenkette:
StPO § 358 Abs. 1
Leitsatz:
Wird infolge einer lediglich teilweisen Aufhebung durch ein übergeordnetes Gericht ein Teil einer vorangegangenen Entscheidung rechtskräftig, so hat dies zur Folge, dass auch die Feststellungen, auf die der rechtskräftige Teil gestützt ist, der weiteren Nachprüfung entzogen sind und das Gericht im weiteren Verfahren von ihnen auszugehen hat. Dies gilt auch für den hier vorliegenden Fall, dass sich die Urteilsaufhebung (bzw. Anfechtung) innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs nur auf einen Teil beschränkt, und für doppelrelevante Tatsachen, die sowohl für den Schuld- als auch für den Rechtsfolgenausspruch von Bedeutung sind (hier: Vorstrafen und der diesen zugrundeliegende Sachverhalt). (Rn. 15 – 19) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Teilrechtskraft, vertikale Teilrechtsrechtskraft, horizontale Teilrechtskraft, teilweise Aufhebung und Zurückverweisung, Bindungswirkung, doppelrelevante Tatsachen, Vorstrafen
Vorinstanzen:
LG Passau, Urteil vom 24.11.2023 – 3 NBs 27 Js 2858/22 (2)
AG Passau, Urteil vom 07.12.2022 – 10 Ds 27 Js 2858/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3393

Tenor

I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Passau vom 24. November 2023 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
1
Das Amtsgericht Passau hat den Angeklagten mit Urteil vom 7. Dezember 2022 wegen Einschleusens von Ausländern zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt und ein Fahrverbot für die Dauer von drei Monaten verhängt. Auf die hiergegen eingelegte, auf die Rechtsfolgen beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Passau mit Urteil vom 23. Mai 2023 auf eine unbedingte Freiheitsstrafe von einem Jahr zwei Monaten erkannt; das Fahrverbot hat es aufrecht erhalten.
2
Auf die Revision des Angeklagten hat das Bayerische Oberste Landesgericht mit Beschluss vom 22. September 2023 das Urteil aufgehoben, soweit dem Angeklagten die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung versagt worden ist; die weitergehende Revision hat es verworfen.
3
Das Landgericht Passau hat mit Urteil vom 24. November 2023 die bereits rechtskräftigen Entscheidungsteile deklaratorisch festgestellt und die Strafaussetzung aus dem Urteil des Amtsgerichts Passau vom 7. Dezember 2022 in Wegfall gebracht.
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Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Erhoben wird die allgemeine Sachrüge, die, nicht einschränkend, zur versagten Strafaussetzung näher ausgeführt wird. Ferner rügt die Revision einen Verstoß gegen § 261 StPO; der in der angegriffenen Entscheidung wiedergegebene, einem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 14. Januar 2022 zugrundeliegende Sachverhalt sei weder durch Verlesung noch in sonstiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden.
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Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Stellungnahme vom 29. Januar 2024, die Revision kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen.
6
Die Gegenerklärung des Rechtsmittelführers vom 14. Februar 2024 lag dem Senat bei der Entscheidung vor und wurde gewürdigt.
II.
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Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revision hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
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1. Das Landgericht hat zu Recht nur noch über die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung befunden. Der Schuldspruch aus dem Urteil des Amtsgerichts Passau vom 7. Dezember 2022 war bereits infolge der gemäß § 318 StPO wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung der Staatsanwaltschaft rechtskräftig geworden, § 327 StPO. Die vom Landgericht Passau im Urteil vom 23. Mai 2023 verhängte Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr zwei Monaten sowie das Fahrverbot sind mit dem Senatsbeschluss vom 22. September 2023, der lediglich die (versagte) Strafaussetzung wegen bestehender Begründungsmängel aufgehoben hat, in Rechtskraft erwachsen.
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2. Die vom Angeklagten erhobene Verfahrensrüge versagt.
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a) Das Landgericht hat seiner für den Angeklagten negativen Prognoseentscheidung im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB unter anderem zugrunde gelegt, dass der Angeklagte ausweislich des Urteils des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 14. Januar 2022 zu einer Bewährungsstrafe von acht Monaten verurteilt worden war, und dass es sich bei ihm wegen des kurzen zeitlichen Abstands zur gegenständlichen Tat von nur 40 Tagen um einen „Bewährungsversager mit hoher Rückfallgeschwindigkeit“ handle (UA S. 14). Weiter hat das Landgericht ausgeführt, dass sich aus dem Sachverhalt, der dem Urteil des Landesgerichts Wien zugrunde lag, um den Transport von gefälschten Ausweispapieren durch den Angeklagten gehandelt habe (UA S. 14). Der Urteilssachverhalt ist in den Gründen (auszugsweise) detailliert wiedergegeben (UA S. 9). Aus dem Auszug aus dem österreichischen Strafregister, der in den Urteilsgründen ebenfalls wiedergegeben ist, ergibt sich die Strafhöhe und die Bewährung, nicht aber der Sachverhalt.
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b) Die Revision rügt, dass dieser Sachverhalt in die Berufungshauptverhandlung weder durch Verlesung noch auf sonstige Weise (was im Einzelnen dargelegt wird) eingeführt und deshalb nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gemäß § 261 StPO geschöpft worden sei; hinsichtlich der Einführung des österreichischen Strafregisters wird kein derartiger Verstoß gerügt. Die Rüge ist zulässig gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
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c) Sie erweist sich jedoch wegen der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens, als nicht begründet, denn die bezeichneten Tatsachen waren für das Landgericht bereits bindend.
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aa) Zwar geht der Senat davon aus, dass der genannte Urteilsabschnitt in der Hauptverhandlung weder verlesen noch sonst eingeführt wurde. Die Staatsanwaltschaft hat von einer Gegenerklärung gemäß § 347 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3, Nr. 162 RiStBV abgesehen, so dass dem Senat nur das Sitzungsprotokoll und die Urteilsgründe zur Überprüfung zur Verfügung stehen. Im Protokoll ist keine Verlesung nach § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO vermerkt. Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass der Strafregisterauszug verlesen worden sei, nicht aber das Urteil (UA S. 10). Eine geständige Einlassung des Angeklagten ist nur hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnisse, nicht aber für sein strafrechtliches Vorleben in den Urteilsgründen vermerkt (UA S. 10).
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bb) Hierauf kommt es im vorliegenden Fall jedoch nicht an. Die tatsächlichen Feststellungen zu den Vorstrafen des Angeklagten und zu dem Sachverhalt, der im Urteil des Landesgerichts Wien vom 14. Januar 2022 niedergelegt war, waren bereits in innerprozessualer Bindungswirkung erwachsen. Einer erneuten Beweiserhebung bedurfte es hierzu nicht.
15
(1) Die vom Landgericht Passau im Urteil vom 23. Mai 2023 verhängte Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr zwei Monaten sowie das Fahrverbot sind in (horizontaler) Teilrechtskraft erwachsen.
16
Wird ein abgrenzbarer Teil einer einheitlichen Gerichtsentscheidung von einem Rechtsmittelangriff ausgenommen, so hat dies zur Folge, dass auch die Feststellungen, auf die der rechtskräftige Teil gestützt ist, der weiteren Nachprüfung entzogen sind und das Gericht im weiteren Verfahren von ihnen auszugehen hat. Es darf diese Feststellungen noch ergänzen, die ergänzenden Feststellungen dürfen den bindend gewordenen aber nicht widersprechen (vgl. nur BGH, Urteil vom 14. Januar 1982, 4 StR 642/81, NJW 1982, 1295, st. Rspr.; BeckOK-StPO/Eschelbach, 50. Ed., Stand 01.01.2024, § 318 Rn. 32 m.w.N.).
17
Ebenso verhält es sich, wenn, wie hier gemäß § 353 StPO, infolge einer lediglich teilweisen Aufhebung durch ein übergeordnetes Gericht ein Teil einer vorangegangenen Entscheidung rechtskräftig geworden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2022, 4 StR 383/22, BeckRS 2022, 32803 Rn. 5). Zwar wird die innerprozessuale Bindungswirkung tatsächlicher Feststellungen für das weitere Verfahren überwiegend für den Fall der einen Schuldspruch betreffenden Teilrechtskraft erörtert (vgl. nur BGH a.a.O.); für den hier vorliegenden Fall, dass sich die Urteilsaufhebung (bzw. Anfechtung) innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs nur auf einen Teil beschränkt, kann jedoch nichts anderes gelten (vgl. KK-StPO/Paul, 9. Aufl. 2023, § 318 Rn. 9). Dies folgt bereits daraus, dass die trotz ihres stufenweisen Zustandekommens als einheitliches Ganzes anzusehende abschließende Entscheidung nicht in sich widerspruchsvoll sein darf (BGH NJW 1982, 1295; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 318 Rn. 7 m.w.N.).
18
(2) Die Vorstrafensituation des Angeklagten und der im vorangegangenen österreichischen Urteil festgestellte Sachverhalt lagen bereits der vom Senat aufrechterhaltenen Strafbemessung durch das erste landgerichtliche Urteil zugrunde. Ihrer Bindungswirkung steht auch nicht entgegen, dass es sich um Tatsachen handelt, die sowohl für Art und Höhe der Strafe als auch für die Frage der Strafaussetzung Bedeutung gewinnen können und denen deshalb doppelrelevante Bedeutung zukommt. Auch für den häufigen Fall der Teilrechtskraft eines Schuldspruchs ist anerkannt, dass doppelrelevante Tatsachen, d.h. solche, die sowohl für den Schuld- als auch für den Rechtsfolgenausspruch von Bedeutung sind, für das weitere Verfahren bindend werden (BGH NJW 1982, 1295; KK-StPO/Paul a.a.O.).
19
Der Senat hat im Übrigen bereits in seinem Beschluss vom 22. September 2023 auf die eingetretene Bindung an die festgestellten Strafzumessungstatsachen hingewiesen (Beschlussgründe S. 4).
20
(3) Da das Landgericht somit nicht gehalten war, hinsichtlich der bereits bindend festgestellten Tatsachen erneut Beweis zu erheben, stellt sich die von der Revision gerügte unterbliebene Verlesung bzw. das Fehlen sonstiger ordnungsgemäßer Beweiserhebung bezüglich des Urteils des Landesgerichts Wien nicht als Verfahrensfehler dar.
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Das angegriffene Urteil weist vielmehr selbst zutreffend auf die eingetretene Unabänderlichkeit hin (UA S. 11) und durfte sich, jedenfalls im Ergebnis ohne Rechtsfehler, auf den bereits vom ersten Berufungsurteil festgestellten Sachverhalt aus dem Urteil des Landesgerichts Wien vom 14. Januar 2022 stützen (Urteil des Landgerichts vom 23. Mai 2023, dort UA S. 7 bis 8).
22
Zwar begegnet es in diesem Zusammenhang rechtlichen Bedenken, wenn das nunmehr angegriffene Urteil die Strafzumessungserwägungen des ersten Berufungsurteils vollständig – einschließlich der von diesem vorgenommenen Wertungen – wiedergibt (UA S. 11 bis 12), denn eine Bindung besteht, neben dem rechtskräftig gewordenen Strafausspruch, nur an die zugrunde liegenden Zumessungstatsachen. Der Senat kann aber ausschließen, dass sich das Landgericht auch an die Gewichtung und Wertung u.a. der Vorstrafen des Angeklagten durch das erste Berufungsurteil gebunden gesehen hat, denn es hat diese im Rahmen seiner vorgenommenen Gesamtabwägung zur Frage der Strafaussetzung eigenständig ausführlich gewürdigt (UA S. 12 ff.).
23
Unschädlich ist es schließlich auch, dass das Landgericht den Sachverhalt des Urteils des Landesgerichts Wien nicht als Zitat aus dem ersten Berufungsurteil gekennzeichnet hat (UA S. 9). Eine möglicherweise missverständliche Darstellung tut der Grundlage der Feststellung, nämlich der Bindung an die Feststellungen des Urteils vom 23. Mai 2023, keinen Abbruch.
24
3. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat ebenfalls keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgezeigt, § 349 Abs. 2 StPO.
25
Auf die insoweit zutreffende und nicht ergänzungsbedürftige Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Antragsschrift vom 29. Januar 2024, Seite 2 bis 3, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.