Titel:
Kein doppelter Schadensersatzanspruch bei Verletzung von Fluggastrechten
Normenkette:
VO (EG) Nr. 261/2004 Art. 12 Abs. 1
Leitsatz:
Kompensiert die pauschale Ausgleichsleistung nach VO (EG) Nr. 261/2004 auch den mit dem konkreten nationalen Schadensersatzanspruch kompensierten Nachteil, darf der Fluggast zwar den weitesten Anspruch geltend machen. Ersatz kann aber nicht doppelt verlangt werden. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fluggastrechte, Ausgleichsleistung, nationales Recht, Schadensersatz
Vorinstanz:
AG Erding, Urteil vom 12.01.2024 – 117 C 3159/22
Fundstellen:
RRa 2025, 91
ReiseRFD 2025, 46
BeckRS 2024, 33861
LSK 2024, 33861
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 12.01.2024, Az. 117 C 3159/22, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.920,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.10.2022 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 280,60 € zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin 17% und die Beklagte 83%.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 2.317,88 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die vorangegangenen Hinweise der Kammer vom 17.06.2024, 10.10.2024 und 04.11.2024 Bezug genommen.
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1. Der Klägerin steht wegen der unberechtigten Beförderungsverweigerung ein Anspruch aus eigenem und abgetretenem Recht auf die Ticketkosten in Höhe von 720,- €, sowie auf die Ausgleichsleistung nach Art. 7, 4 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 in Höhe von 1.200 € zu. Die mit der Klage weiter geltend gemachten frustrierten Aufwendungen für Hotel und Transport am Zielort sowie frustrierter erster Anreise zum Flughafen fallen unter die Anrechnung nach Art. 12 VO (EG) Nr. 261/2004. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Ausgleichsleistung schon tatsächlich bezahlt wurde, wenn die Klage gegen denjenigen gerichtet ist, der sowohl Ausgleichsleistung als auch weitergehenden (konkreten) Schaden schuldet und beide Ansprüche Gegenstand desselben Rechtsstreits sind.
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Die Ansprüche aus der VO (EG) Nr. 261/2004 und Schadensersatzanspüche aus nationalem Recht bestehen kumulativ. Der Fluggast kann entscheiden, welche Ansprüche er geltend machen will und soll seinen gesamten Schaden liquidieren können. Er kann auch beides geltend machen. Doch darf dies nach Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 261/2004 nicht zu einer Kumulierung von Ersatzleistungen ungeachtet des tatsächlich eingetretenen Schadens führen. Kompensiert die pauschale Ausgleichsleistung nach VO (EG) Nr. 261/2004 auch den mit dem konkreten nationalen Schadensersatzanspruch kompensierten Nachteil, darf der Fluggast zwar den weitesten Anspruch geltend machen; Ersatz kann aber nicht doppelt verlangt werden, da Art. 12 VO (EG) Nr. 261/2004 ein Bereicherungsverbot oder eine Überkompensation verbietet (vgl. Bollweg in Staudinger/Keiler FluggastrechtsVO 1. Aufl. 2016 Art. 12 Rz. 12).
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Vorliegend knüpfen die geltend gemachten Ansprüche an die Verweigerung der Beförderung und sollen deren Folgen kompensieren. Die Ausgleichsleistung nach Art. 4, 7 VO (EG) Nr. 261/2004 soll genau die Folgen der Beförderungsverweigerung – pauschal – ausgleichen, die die Klagepartei im Rahmen ihrer Schadenspositionen – konkret – ausführt. Die Kammer hält es daher für angemessen die Ausgleichsleistungen von 1.200 € auf die konkreten geltend gemachten Schadenspositionen anzurechnen, soweit dies von der Beklagten geltend gemacht wird, was auch im Einklang mit dem Gedanken der Vorteilsausgleichung im deutschen Schadensrecht steht. Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte die Ausgleichsleistung nach Art. 7 VO (EG) Nr. 261/2004 noch nicht tatsächlich an die Klägerin bezahlt hat, da dies im Ergebnis zu einer Überkompensation der Klägerin führen würde (vgl. BeckOGK/Steinrötter/Bohlsen, 1.8.2024, Fluggastrechte-VO Art. 12 Rn. 5,6). Daran ändert auch das Ergebnis nichts, dass der Fluggast einem Prozesskostenrisiko ausgesetzt ist, wenn er zugleich seinen Schaden pauschal in Form der Ausgleichsleistung und konkret in Form von anrechenbaren Schadensersatzansprüchen geltend macht, weil er doppelt entschädigt wäre, wenn er einerseits die pauschale Ausgleichsleistung verlangen könnte und gleichzeitig konkrete Schadenspositionen verlangen würde (vgl. Führich/Staudinger Reiserecht 9. Auflage § 42 Rn. 107 m.w.N.). Diese Situation will Art. 12 VO (EG) Nr. 261/2004 gerade vermeiden. Der Fluggast soll seinen Schaden vollständig ersetzt verlangen können, aber auch nicht mehr (vgl. BeckOGK/Steinrötter/Bohlsen, 1.8.2024, Fluggastrechte-VO Art. 12 Rn. 5 und 6).
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Entgegen der Behauptung der Klagepartei in dem Schriftsatz vom 22.07.2024 bestehen keine Zweifel, dass die hier geltend gemachten Schadensersatzansprüche keine solchen sind, deren Rechtsgrund in Art. 8 und 9 VO (EG) Nr. 261/2004 gelegt wäre. Erstinstanzlich wurden die anzurechnenden Schadenspositionen ausschließlich als frustrierte Aufwendungen, die vor der Nichtbeförderungsentscheidung angefallen sind, vorgetragen. Ansprüche aus Art. 9 Abs. 1 lit. a) oder c) VO (EG) Nr. 261/2004 wurden nicht behauptet. So hat die Klägerin die frustrierten Kosten der ersten Anreise zum Flughafen geltend gemacht, nicht diejenigen der zweiten Anreise, die aufgrund der Nichtbeförderung erneut angefallen sind. Nur diese würden Art. 9 Abs. 1 lit. c) VO (EG) Nr. 261/2004 unterfallen. Hotelkosten am Zielort unterfallen ebensowenig den Betreuungsleistungen wie der zweifach anfallende Flughafentransport am Zielflughafen.
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Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten besteht entsprechend aus einem Gegenstandswert von 1.920 €. Dabei kommt es auf Verzug nicht an, da bereits die Pflichtverletzung in Form der unberechtigten Beförderungsverweigerung den Anspruch auf Schadensersatz begründet.
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2. Die streitgegenständlichen Rechtsfragen sind bereits höchstrichterlich entschieden; es bedarf weder der Zulassung der Revision noch der Vorlage an das EuG.
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In dem Verfahren X ZR 169/18 hat der Bundesgerichtshof am 31.03.2020 darauf hingewiesen, dass bereits entschieden sei, dass eine Anrechnung nicht deshalb ausgeschlossen sei, weil der Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 261/2004 lediglich eine Anrechnung der in der Verordnung vorgesehenen Ausgleichsleistung auf einen sich aus anderen Vorschriften ergebenden Anspruch vorsieht, nicht aber in umgekehrter Richtung. Danach kann sowohl die Ausgleichsleistung auf einen Schadensersatzanspruch angerechnet werden, als auch der Schadensersatzanspruch auf die Ausgleichsleistung. Nach der Begründung zu Art. 12 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 261/2004 soll diese Vorschrift verhindern, dass der Fluggast neben der Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 VO (EG) Nr. 261/2004 den Ersatz des weitergehenden Schadens verlangen kann. Dieses Ziel erfordere, dass eine Anrechnung unabhängig davon zuzulassen sei, welcher der beiden Ansprüche zuerst erfüllt werde. Anderenfalls hinge der Umfang der Ansprüche von der Reihenfolge der Geltendmachung ab, was nicht sachgerecht sei, vgl. BGH aaO Rn. 8.
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Maßgebliches Argument ist, dass es zu keiner Überkompensation kommen dürfe. In dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall wurde die Ausgleichsleistung auch noch nicht gewährt, bzw. bezahlt und dennoch verrechnet. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofes kommt es daher nicht darauf an, ob die Ausgleichsleistung bereits bezahlt ist oder nicht, solange durch eine Verrechnung eine Überkompensation vermieden wird. Der Geschädigte soll nicht für denselben Schaden einmal eine pauschale Entschädigung bekommen und zum anderen eine konkrete.
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Auch in dem Verfahren vor dem EuGH C-354/18, Urteil vom 29.07.2019 war die Ausgleichsleistung noch nicht tatsächlich bezahlt (nur angeboten) und der EuGH hat eine Anrechnung für möglich gehalten (ohne dies weiter zu thematisieren). Im Ausgangsverfahren machten die dortigen Kläger immateriellen Schadensersatz in Höhe von 1.500 € sowie materiellen Schadensersatz durch Verdienstausfall in Höhe von 437 € bzw. 386 € geltend. Die Beklagte verteidigte sich dahingehend, dass die Beklagte keinen über Art. 7 VO (EG) Nr. 261/2004 hinausgehenden immateriellen Schaden geltend machen können. Das Ausgangsgericht verurteilte die Beklagte dementsprechend zur Zahlung von 400 €, was der Ausgleichsleistung entspricht. Die Kammer versteht das Urteil des EuGH daher so, dass auch in diesem Fall die Ausgleichsleistung noch nicht bezahlt war, sonst hätte das Ausgangsgericht die Beklagten nicht insoweit zur Zahlung verurteilt.
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Daraus, dass der EuGH überhaupt nicht thematisiert hat, ob die Ausgleichsleistung bezahlt ist oder nicht, sondern offensichtlich nur darauf abstellt, dass ein diesbezüglicher Anspruch besteht, ergibt sich, dass auch im vorliegenden Fall eine Anrechnung möglich ist, auch wenn die Ausgleichsleistung noch nicht tatsächlich bezahlt ist.
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Deswegen bedarf es daher auch keiner Vorlage an das EuG, da diese Frage bereits durch die Entscheidung vom 29.07.2019 Rs. C-354/19 des EuGH ausreichend geklärt ist.
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Die Zulassung der Revision ist ebenfalls nicht geboten, da der Bundesgerichtshof bereits mit den Entscheidungen vom 31.03.2020, Az. X ZR 169/18 und 30.09.2014, Az. X ZR 126/13 ausreichend dargelegt hat, dass sowohl die Ausgleichsleistung auf den weitergehenden Schadensersatz, als auch der weitergehende Schadensersatz auf die Ausgleichsleistung angerechnet werden kann. Maßgebend sei insoweit nur die Vermeidung einer Überkompensation nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung. Nach diesen Kriterien kann also nach vorläufiger Würdigung die Ausgleichsleistung insoweit mit der konkreten Schadensersatzposition verrechnet werden, dass im Ergebnis nicht im Urteil die volle Ausgleichsleistung zugesprochen wird und zugleich die konkrete Schadensposition.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erging gem. § 708 Nr. 10 ZPO.
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Der Streitwert war nach § 47 GKG festzusetzen,