Titel:
Erfolgreiche asylrechtliche Untätigkeitsklage
Normenkette:
VwGO § 42 Abs. 1 Var. 3, § 62 Abs. 2, § 75
Leitsatz:
Die Durchführung des behördlichen Asylverfahrens als eine zusätzliche, zugunsten des Asylantragstellers bestehende Instanz mit spezifischen Verfahrensgarantien ist aber auch nach der Durchführung der persönlichen Anhörung geeignet, für den Kläger einen rechtlichen Vorteil zu begründen und kann insgesamt nicht gleichwertig durch das gerichtliche Asylverfahren ersetzen werden. Die Untätigkeit des Bundesamts darf letztlich nicht dazu führen, dass das Verwaltungsgericht erstmals in der Sache entscheidet, ohne dass sich das Bundesamt als fachlich zuständige und kompetente Asylbehörde inhaltlich mit dem Asylbegehren auseinandergesetzt hat. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untätigkeitsklage gegen Bundesamt, Prozessfähigkeit eines ohne Einwilligungsvorbehalts betreuten Volljährigen, Rechtsschutzbedürfnis für eine auf bloße Verbescheidung gerichtete Klage
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33685
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Asylantrag des Klägers vom 27. Juni 2023 zu entscheiden.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über seinen Asylantrag.
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1. Der Kläger, eigenen Angaben zufolge somalischer Staatsangehöriger, reiste im Juli 2022 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte am 15. Juli 2022 ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am selben Tag schriftlich Kenntnis erlangte.
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Auf eine entsprechende Anfrage des Bundesamts vom 7. September 2022 teilten die griechischen Behörden mit Schreiben vom 13. September 2022 mit, dass der Kläger in Griechenland bereits als Flüchtling anerkannt wurde.
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Nachdem mit Beschluss des Amtsgerichts A. vom 19. April 2023 (Az.: 419 XVII 33/23) für den taubstummen Kläger aufgrund seiner körperlichen Behinderung eine Betreuung angeordnet worden war, stellte der Betreuer am 27. Juni 2023 für den Kläger einen förmlichen Asylantrag beim Bundesamt.
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Mit Schreiben vom 15. Februar 2023 informierte das Bundesamt den Betreuer des Klägers dahingehend, dass aufgrund der aktuellen Arbeitsbelastung eine Entscheidung im Verfahren des Klägers nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist von sechs Monaten ergehen könne. Ausweislich der Bundesamtsakte wurde das Verfahren des Klägers seitens des Bundesamts im Anschluss an das vorgenannte Schreiben zunächst mehrere Monate nicht weiter betrieben.
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2. Am 31. Mai 2024 erhob der Kläger daher zu Protokoll des Urkundsbeamten des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg Klage und beantragt:
Die Beklagte wird verpflichtet, über meinen Asylantrag (Az. …) zu entscheiden.
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Zur Begründung trägt der Kläger im Wesentlichen vor, dass er seinen Asylantrag bereits im Jahr 2022 gestellt und alle geforderten Dokumente beim Bundesamt eingereicht habe. Gleichwohl sei eine Entscheidung bislang nicht ergangen.
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3. Mit Schriftsatz des Bundesamts 4. Juni 2024 beantragt die Beklagte,
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Begründet wurde der Antrag zunächst damit, dass ein zureichender Grund im Sinne von § 75 Satz 1 VwGO vorliege, weswegen noch nicht über den Asylantrag des Klägers entschieden worden sei. Neben der hohen Arbeitsbelastung des Bundesamts habe bislang eine Anhörung des Klägers noch nicht stattfinden können, weil insoweit die notwendigen Voraussetzungen für die Anhörung des taubstummen Klägers noch abzuklären und zu schaffen seien.
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4. Am 28. August 2023 wurde die Anhörung des Klägers durch das Bundesamt durchgeführt. Gleichzeitig teilte das Bundesamt mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2024 dem Gericht gegenüber mit, dass mit einer zeitnahen Entscheidung gleichwohl nicht zu rechnen sei. Gründe hierfür werden in diesem Schreiben nicht aufgeführt.
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5. Mit Schreiben vom 4. und 18. Oktober 2024 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Mit Beschluss vom 9. Oktober 2024 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Bundesamtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die vorliegend ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, weil die Beteiligten hierauf verzichtet haben (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig (1.) und begründet (2.).
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1. Die Klage, mit der der prozessfähige Kläger (ein Fall des § 62 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 1825 BGB liegt ausweislich des Beschlusses des Amtsgerichts A. vom 19.4.2023 nicht vor) die Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über seinen Asylantrag begehrt, ist als Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage zulässig, §§ 42 Abs. 1 Var. 3, 75 VwGO.
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1.1. Die Klage ist nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO zulässigerweise erhoben worden. Nach § 75 Satz 1 VwGO ist eine Klage abweichend von § 68 VwGO zulässig, wenn über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Die Klage kann dabei nach dem Wortlaut des § 75 Satz 2 VwGO nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist.
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Über die Asylanträge des Klägers vom 27. Juni 2023 hat das Bundesamt bislang nicht entschieden. Bereits bei Erhebung der Klage am 31. Mai 2024 war damit die Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO längst abgelaufen, sodass die Klage von Anfang an zulässig war. Dies gilt hier selbst dann, wenn man die Frist von sechs Monaten gemäß § 24 Abs. 4 Satz 1 AsylG als „angemessene Frist“ im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO ansieht (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 19).
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1.2. Die Klage weist auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für eine auf Bescheidung beschränkte Untätigkeitsklage auf, das sich auch im hier vorliegenden Fall aus den Besonderheiten des behördlichen Asylverfahrens und seinen spezifischen Verfahrensgarantien ergibt (vgl. hierzu eingehend BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 37 ff.). Dies gilt unabhängig davon, ob bereits – wie hier – eine Anhörung nach § 25 AsylG (mittlerweile) stattgefunden hat (vgl. so auch VG Hannover, U.v. 13.3.2024 – 5 A 700/24 – juris Rn. 15; VG Bremen, U.v. 22.9.2023 – 7 K 152/23 – juris Rn. 28; VG Freiburg, U.v. 30.9.2022 – A 10 K 2893/21 – juris Rn. 23; VG Minden, U.v. 14.2.2022, 1 K 6191/21.A – juris Rn. 41; VG Würzburg, U.v. 7.10.2024 – W 1 K 24.31182). Dieser Auffassung steht die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Juli 2018 (1 C 18/17 – juris) jedenfalls nicht entgegen, in welcher die Frage des Bestehens eines Rechtsschutzbedürfnisses für eine Untätigkeitsklage mit dem Ziel, das Bundesamt zur Bescheidung seines Antrages zu verpflichten, für die hier vorliegende Konstellation, in der ein Asylantragsteller bereits zu seinen Fluchtgründen angehört worden ist, ausdrücklich offengeblieben ist.
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Die Durchführung des behördlichen Asylverfahrens als eine zusätzliche, zugunsten des Asylantragstellers bestehende Instanz mit spezifischen Verfahrensgarantien ist aber auch nach der Durchführung der persönlichen Anhörung geeignet, für den Kläger einen rechtlichen Vorteil zu begründen und kann insgesamt nicht gleichwertig durch das gerichtliche Asylverfahren ersetzen werden (vgl. zu diesem Aspekt BVerwG, a.a.O Rn. 38 ff.; siehe im Einzelnen hierzu auch: VG Bremen, U.v. 15.9.2023 – 7 K 573/23; VG Minden, U.v. 14.2.2022 – 1 K 6191/21.A – beide in juris und jeweils m.w.N.). Die Untätigkeit des Bundesamts darf letztlich nicht dazu führen, dass das Verwaltungsgericht erstmals in der Sache entscheidet, ohne dass sich das Bundesamt als fachlich zuständige und kompetente Asylbehörde inhaltlich mit dem Asylbegehren auseinandergesetzt hat (vgl. hierzu etwa auch Göbel-Zimmermann/Skrzypczak, Die Untätigkeitsklage im asylgerichtlichen Verfahren, ZAR 2016, 357, 363 ff.).
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Auch das Rechtsschutzbedürfnis der Klage ist daher zu bejahen.
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2. Die zulässige Klage ist auch begründet.
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Dem Kläger steht ein Anspruch auf Verbescheidung seines Asylantrags zu (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die materielle Pflicht des Bundesamts zur Entscheidung ergibt sich aus §§ 3, 4 AsylG i.V.m. § 31 AsylG.
22
Über den Asylantrag des Klägers wurde auch ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden. Das Verfahren war deshalb auch nicht gemäß § 75 Satz 3 VwGO unter Setzung einer Entscheidungsfrist auszusetzen. Die Beklagte ist vielmehr zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers zu verpflichten (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18.17 – juris).
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Ob ein „zureichender Grund“ im Sinne des § 75 Sätze 1 und 3 VwGO für die Verzögerung vorliegt, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Insoweit ist auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, nicht hingegen auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.1994 – 5 C 24/92 – NVwZ 1995, 80; aus der Literatur siehe etwa Brenner in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 75 Rn. 48 m.w.N.).
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Bei der Beurteilung der Frage, ob ein „zureichender Grund“ vorliegt, sind neben den vielfältigen Umständen, die eine verzögerte behördliche Entscheidung dem Grunde nach zu rechtfertigen geeignet sind, auch eine etwaige besondere Dringlichkeit einer Angelegenheit für den Kläger zu berücksichtigen. Zureichende Gründe sind dabei nur solche, die mit der Rechtsordnung in Einklang stehen. Als mögliche zureichende Gründe für eine Verzögerung sind u.a. anerkannt worden ein besonderer Umfang und besondere Schwierigkeiten der Sachaufklärung oder die außergewöhnliche Belastung einer Behörde, auf die durch organisatorische Maßnahmen nicht kurzfristig reagiert werden kann (vgl. hierzu nur BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 16).
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Im Rahmen der Entscheidung von Asylverfahren ist zudem maßgeblich auch das Fristenregime des § 24 Abs. 4 und Abs. 7 AsylG mit zu berücksichtigen, wobei § 24 Abs. 4 Satz 1 AsylG, nach dem eine Entscheidung über den Asylantrag (grundsätzlich) innerhalb von sechs Monaten ergeht, darauf hinweist, dass der Normgeber eine Frist von sechs Monaten als (noch) im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO „angemessene“ Dauer des behördlichen Verfahrens ansieht (vgl. BVerwG, a.a.O.). Das Bundesamt kann sodann die Frist auf höchstens 15 Monate verlängern, wenn sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen ergeben (Nr. 1), eine große Zahl von Ausländern gleichzeitig Anträge stellt, weshalb es in der Praxis besonders schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist nach Satz 1 abzuschließen (Nr. 2) oder die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländer seinen Pflichten nach § 15 AsylG nicht nachgekommen ist (Nr. 3). Das Bundesamt kann die Frist von 15 Monaten sodann ausnahmsweise um höchstens weitere drei Monate verlängern, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags zu gewährleisten, § 24 Abs. 4 Satz 3 AsylG. Nach § 24 Abs. 7 AsylG schließlich entscheidet das Bundesamt spätestens nach 21 Monaten nach der Antragstellung nach § 14 Abs. 1 und 2 AsylG.
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Nach vorstehenden Grundsätzen besteht vorliegend kein zureichender Grund für das Bundesamt, den Asylantrag des Klägers bislang nicht zu verbescheiden.
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Der Kläger hat bereits am 27. Juni 2023 seinen Asylantrag gestellt, über den auch über 16 Monate später noch nicht entschieden wurde. Unabhängig davon, dass eine explizite Verlängerungsentscheidung im Sinne des § 24 Abs. 4 Sätze 2 und 3 AsylG ausweislich der Behördenakte nicht ergangen ist, sind jedenfalls Gründe im Sinne des § 24 Abs. 4 Satz 3 AsylG hier weder vorgetragen noch ersichtlich. Selbst nach der Anhörung des Klägers Ende August 2024 sieht sich das Bundesamt – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage, zeitnah über den Asylantrag des Klägers zu entscheiden (vgl. hierzu den Schriftsatz des Bundesamts vom 1.10.2024).
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Die Beklagte war daher antragsgemäß zu verpflichten.
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3. Abschließend und nur ergänzend weist das Gericht noch darauf hin, dass es nicht erforderlich erscheint, der Beklagten im Rahmen der ausgesprochenen Verpflichtung eine Frist für die Entscheidung über den Asylantrag zu setzen.
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Die Regelung des § 75 VwGO sieht eine Fristsetzung ausdrücklich nur in den Fällen vor, in denen ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung besteht. Besteht ein solcher Grund nicht, ist die Behörde nach Ablauf der angemessenen Entscheidungsfrist nach § 75 Satz 1 VwGO gehalten, unverzüglich zu entscheiden. Bereits während der Dauer des auf Verpflichtung zur Bescheidung gerichteten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wirkt die Pflicht zur behördlichen Entscheidung fort; die Rechtshängigkeit des Bescheidungsbegehrens sperrt nicht die gebotene Durchführung des der Entscheidung vorgelagerten behördlichen Verfahrens. Die gerichtliche Verpflichtung zur Entscheidung über den Antrag, die eine beklagte Behörde zudem nicht überraschend trifft, bekräftigt diese Rechtspflicht in vollstreckbarer Weise. Soweit die Behörde nicht schon den Zeitraum zwischen dem Ergehen der gerichtlichen Entscheidung und ihrer Rechtskraft nutzen kann, um der auf sie zukommenden Verpflichtung unverzüglich nachzukommen, ist jedenfalls im Vollstreckungsverfahren hinreichend Raum, objektiv unvermeidbare Verzögerungen der unverzüglich geschuldeten Entscheidung zu berücksichtigen. Denn § 172 Satz 1 VwGO setzt für die Festsetzung eines Zwangsgelds voraus, dass es erst nach Ablauf einer vom Gericht zu bestimmenden angemessenen Frist festgesetzt werden kann; diese Frist wäre dann so zu bemessen, dass es der Behörde möglich ist, ihrer Verpflichtung nachzukommen (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 57; VG Minden, U.v. 14.2. 2022 – 1 K 6191/21.A – juris Rn. 9; VG Meiningen, U.v. 11.3.2024 – 2 K 65/24 Me – juris Rn. 34).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.