Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 29.11.2024 – W 3 K 24.1655
Titel:

Erfolgloser Antrag auf Aussetzung eines Verfahrens im Hinblick auf ein beim Bundesverwaltungsgericht anhängiges Revisionsverfahren

Normenkette:
VwGO § 94
Leitsätze:
1. Eine die Aussetzung des Verfahrens rechtfertigende Vorgreiflichkeit ist gegeben, wenn der Subsumtionsschluss über das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale im zu entscheidenden Rechtsstreit einen Subsumtionsschluss über eine Teilmenge der Tatbestandsmerkmale umfasst, welche seinerseits Streitgegenstand des anderen Verfahrens ist. Daran fehlt es, wenn in dem anderen Verfahren nur über dieselbe oder eine vergleichbare Rechtsfrage zu entscheiden ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Antwort des Bundesverwaltungsgerichts, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen verfassungsgemäßen Auftrag erfüllt, erwächst nicht in Rechtskraft und ist deshalb für andere rundfunkbeitragsrechtliche Klageverfahren nicht vorgreiflich. Die Schaffung einer "faktischen Rechtsprechungssicherheit" führt ebenfalls nicht zur Vorgreiflichkeit. (Rn. 19 – 20 und 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Gesetzgeber hat mit § 93a VwGO für die Sonderkonstellation von Parallelverfahren eine spezielle Aussetzungsmöglichkeit geschaffen, was es ausschließt, bei anderen Parallelverfahren, die diese Voraussetzungen erfüllen, auf § 94 VwGO zurückzugreifen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aussetzung des Verfahrens, Rechtsverhältnis, Vorgreiflichkeit (verneint), Klärung einer Rechtsfrage in einem anderen Verfahren, Rundfunkbeitragspflicht, Frage nach der mangelnden Erfüllung des verfassungsmäßigen Auftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, keine analoge Anwendung von § 94 VwGO, keine Bindungswirkung des anderen Verfahrens, Rundfunkbeitrag, Aussetzung, Vorgreiflichkeit, Vorfrage, dieselbe Rechtsfrage, Erfüllung des verfassungsmäßigen Auftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33678

Tenor

Der Antrag, das Verfahren bis zu einer Entscheidung über das beim Bundesverwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen 6 C 5/24 (6 B 70/23) anhängige Revisionsverfahren auszusetzen, wird abgelehnt.

Gründe

I.
1
Der Kläger ist Inhaber einer Wohnung mit der Anschrift L. …, M. Die Beklagte führt für die Klagepartei in Bezug auf diese Wohnung ein Rundfunkbeitragskonto mit der Nummer … Die Klagepartei wendet sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 2. Mai 2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. September 2024, mit dem der Beklagte für den Zeitraum von 1. Januar 2024 bis 31. März 2024 Rundfunkbeiträge einschließlich Säumniszuschlag in Höhe von 63,08 EUR festgesetzt hat.
2
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der die Klagepartei im Rahmen einer ausführlichen Klagebegründung u.a. aufgrund eines von ihr in den Raum gestellten strukturellen und systemischen Versagens eine mangelnde Erfüllung des verfassungsmäßigen Auftrags des Beklagten gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geltend macht.
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Der Beklagte verteidigt die angegriffenen Bescheide.
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Mit Schreiben vom 16. Oktober 2024 hat die Klagepartei beantragt, das Verfahren gemäß § 94 VwGO auszusetzen. Sie begründet dies mit der Vorgreiflichkeit eines vor dem Bundesverwaltungsgericht im Verfahren 6 C 5/24 zu entscheidenden Rechtsverhältnisses die Erfüllung des verfassungsmäßigen Auftrags des Beklagten betreffend. Sie beruft sich diesbezüglich auf eine Entscheidung des HessVGH (NJW 1989, 1180).
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Der Beklagte hatte Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen.
II.
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Der Antrag der Klagepartei, das vorliegende Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 6 C 5/24 (6 B 70/23) gemäß § 94 VwGO auszusetzen, hat keinen Erfolg.
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Gemäß § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
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Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift sind im vorliegenden Verfahren nicht gegeben. Die Vorschrift kann auf den vorliegenden Fall auch keine analoge Anwendung finden.
9
Als Tatbestandsvoraussetzung für die Aussetzung eines Verfahrens nach § 94 VwGO muss ein anderer Rechtsstreit ein Rechtsverhältnis zum Gegenstand haben. Vom Bestehen oder Nichtbestehen dieses Rechtsverhältnisses muss das auszusetzende Verfahren ganz oder zumindest zum Teil abhängen (Vorgreiflichkeit). Sind diese Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob das Verfahren bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits ausgesetzt wird.
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Unter einem Rechtsverhältnis im Sinne von § 94 VwGO sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine beteiligte Person etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nichts zu tun braucht (BVerwG, U.v. 26.1.1996 – 8 C 19/94 – juris Rn. 10). Es geht hierbei also um die Verdichtung von Rechtsbeziehungen im Sinne der Frage der Anwendung einer bestimmten Norm auf einen konkreten Sachverhalt (Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 45. EL, Januar 2024, § 94 Rn. 24). Dabei verwendet § 94 VwGO den Begriff des Rechtsverhältnisses in derselben Weise wie § 43 VwGO (Peters/Schwarzberg in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 94 Rn. 7).
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Zweifelsohne hat der von der Klagepartei benannte Rechtsstreit 6 C 5/24 (6 B 70/23) vor dem Bundesverwaltungsgericht ein solches Rechtsverhältnis zum Gegenstand. Denn die dortige Klagepartei wendet sich als Inhaberin einer im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts München gelegenen Wohnung gegen einen Rundfunkbeitragsbescheid des dortigen Beklagten. Die dortigen Parteien streiten in Bezug auf den konkreten Sachverhalt des Innehabens einer Wohnung durch eine natürliche Person aufgrund der Vorschriften des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages, also einer durch Zustimmungsbeschluss des Bayerischen Landtags im Rang eines förmlichen Landesgesetzes stehenden Norm (vgl. VerfGH, B.v. 15.5.2015 – Vf. 8-7-12 u.a. – juris Rn. 54). Hinsichtlich dieser rechtlichen Beziehung als Vorfrage der Qualifizierung des angefochtenen Festsetzungsbescheids als rechtmäßig oder rechtswidrig geht es darum, ob die dortige Klagepartei in dem dort streitgegenständlichen Zeitraum einen Rundfunkbeitrag leisten muss (VG München, U.v. 21.9.2022 – M 6 K 22.3507 – juris; BayVGH, U.v. 17.7.2023 – 7 BV 22.2642 – juris; BVerwG, B.v. 23.5.2024 – 6 B 70/23 (6 C 5/24)).
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Allerdings hängt von der Frage, ob der dortige Beklagte von der dortigen Klagepartei als Inhaberin einer Wohnung zu Recht einen Rundfunkbeitrag verlangt, der vorliegende Rechtsstreit weder ganz noch zum Teil ab. Vielmehr ist es für das vorliegende Verfahren ohne Belang, ob ein im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts München wohnender Inhaber einer Wohnung rundfunkbeitragspflichtig ist oder nicht. Denn die bestehende oder nicht bestehende Rundfunkbeitragspflicht der dortigen Klagepartei ist nicht Tatbestandsvoraussetzung für die Rundfunkbeitragspflicht der Klagepartei im vorliegenden Verfahren. Denn allein die Frage nach der bestehenden oder nicht bestehenden Rundfunkbeitragspflicht der dortigen Klagepartei bestimmt das dortige Rechtsverhältnis, nicht jedoch die Rechtsfragen, die bei der Entscheidung über dieses Rechtsverhältnis eine Rolle spielen.
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Dies ergibt sich aus Folgendem:
14
Eine Abhängigkeit (Vorgreiflichkeit) des vorliegenden Rechtsstreits vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses im vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren 6 C 5/24 (6 B 70/23) bestünde dann, wenn sich die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals im vorliegenden Verfahren aus der Entscheidung über das Rechtsverhältnis im vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren ergäbe. Abstrakt formuliert ist Vorgreiflichkeit dann gegeben, wenn der Subsumtionsschluss über das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale im zu entscheidenden Rechtsstreit einen Subsumtionsschluss über eine Teilmenge der Tatbestandsmerkmale umfasst, welche seinerseits Streitgegenstand des anderen Verfahrens ist (Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 45. EL, Januar 2024, § 94 Rn. 18). Vorgreiflichkeit liegt damit nicht vor, wenn die Feststellung des Rechtsverhältnisses in einem anderen Verfahren nicht im Rahmen einer rechtskraftfähigen Regelung erfolgt, sondern lediglich eine Vorfrage betrifft (Garloff in BeckOK, VwGO, Posser/Wolff/Decker, 71. Ed., Stand: 1.7.2023, § 94 Rn. 1), in dem anderen Verfahren also nur über dieselbe oder über eine vergleichbare Rechtsfrage zu entscheiden ist (OVG LSA, B.v. 24.10.2024 – 3 O 149/24 – n.v.; VG Freiburg, GB v. 11.9.2024 – 9 K 2585/24 – juris Rn. 82)
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So liegt der Fall hier.
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Im Verfahren M 6 K 22.3507 hat das VG München mit Urteil vom 21. September 2022 die Klage, mit der sich die dortige Klagepartei gegen einen gegen sie erlassenen Rundfunkbeitragsbescheid wehrt, abgewiesen mit der Begründung, sie sei als Inhaberin einer Wohnung rundfunkbeitragspflichtig, habe jedoch den kraft Gesetzes fälligen Rundfunkbeitrag nicht gezahlt. In diesem Rahmen hat das VG München in Bezug auf das Argument der dortigen Klagepartei, sie habe ein Leistungsverweigerungsrecht, weil der Beklagte seinen verfassungsmäßigen Auftrag nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht erfülle, ausgeführt, die Entscheidung über die zur Erfüllung des Funktionsauftrags als nötig angesehenen Inhalte und Formen des Programmes stehe den Rundfunkanstalten zu. Es bleibe Sache des Gesetzgebers, den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zur Vielfaltssicherung auszugestalten und die entsprechenden medienpolitischen und programmleitenden Entscheidungen zu treffen. Ihm komme dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Verwaltungsgerichte seien im Rahmen einer Klage gegen einen Bescheid, mit dem Rundfunkbeiträge und Säumniszuschläge festgesetzt würden, zur Prüfung der von der Klagepartei aufgeworfenen Fragen hinsichtlich Programmgestaltung, Programminhalten und möglicher struktureller Defizite bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sowie der Frage ausreichender Kontrolle all dessen durch Gremien nicht berufen (VG München, U.v. 21.9.2022 – M 6 K 22.3507 – juris Rn. 8, 31 bis 34).
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Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung hat die dortige Klagepartei ihr Rechtsschutzziel im Verfahren 7 BV 22.2642 vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof weiterverfolgt. Mit Urteil im Verfahren 7 BV 22.2642 vom 17. Juli 2023 (juris) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Berufung zurückgewiesen und hierbei ausgeführt, der Einwand der Klagepartei, es bestehe ein „generelles strukturelles Versagen“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Beitragspflicht müsse daher solange entfallen, wie der verfassungswidrige Umstand andauere, könne der Rundfunkbeitragspflicht mit Blick auf die vom Bundesverfassungsgericht in seinem im Urteil vom 18. Juli 2018 – 1 BvR 1675/16 u.a. – verbindlich festgestellte Verfassungsmäßigkeit nicht entgegengehalten werden. Der von der Klagepartei aufgeworfenen Frage, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen verfassungsmäßigen Funktionsauftrag verfehle, brauche im vorliegenden Verfahren nicht weiter nachgegangen zu werden. Die Überprüfung der Einhaltung der staatsvertraglichen Vorgaben durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten obliege den jeweils zuständigen Gremien. Verstöße gegen die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstatter könnten von jedem Rundfunkempfänger im Wege der Programmbeschwerde gegenüber dem jeweiligen Aufsichtsgremium geltend gemacht werden. Damit sei die Klagepartei nicht rechtlos gestellt (BayVGH, U.v. 17.7.2023 – 7 BV 22.2642 – juris Rn. 22).
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Auf einen entsprechenden Antrag der dortigen Klagepartei hin hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 23. Mai 2024 im Verfahren 6 B 70/23 (nunmehr: 6 C 5/24) aufgrund grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen mit der Begründung, das Revisionsverfahren könne Gelegenheit zur Klärung der Frage geben, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen gegen die Beitragserhebung geltend gemacht werden könne, der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ein der Vielfaltssicherung dienendes Programm anzubieten, werde strukturell verfehlt, so dass es an einem individuellen Vorteil fehle. Es bezieht sich dabei auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 2023 (1 BvR 601/23 – NVwZ 2024, 55 Rn. 9).
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All dies macht deutlich, dass es im von der hiesigen Klagepartei als vorgreiflich benannten Verfahren tatsächlich um ein Rechtsverhältnis zwischen einer im Gerichtsbezirk des VG München ansässigen Klagepartei als Inhaberin einer Wohnung und dem Bayerischen Rundfunk geht, das im Rahmen der rechtlichen Beurteilung eines Festsetzungsbescheids auch die Rundfunkbeitragspflicht der dortigen Klagepartei im Festsetzungszeitraum Oktober 2021 bis März 2022 als solche prüft. Allein diese Frage erwächst nach Abschluss des Verfahrens als tragender Grund dafür, weshalb der mit der Anfechtungsklage geltend gemachte Aufhebungsanspruch bejaht oder verneint wurde, in Rechtskraft gegenüber den in § 121 VwGO genannten Personen in deren gegenseitigem Verhältnis. Damit ist dieser Rechtsstreit nicht für das vorliegende Verfahren vorgreiflich. Denn die Rechtsfrage selbst, die die hiesige Klagepartei aufwirft und die auch für die Entscheidung des dortigen Verfahrens eine Rolle spielt, nämlich ob der B. R. seinen verfassungsmäßigen Auftrag erfüllt, erwächst nicht in Rechtskraft und stellt lediglich eine Vorfrage dar (vgl. hierzu auch: VG Aachen, U.v. 30.9.2024 – 8 K 1352/24 – juris Rn. 19, wonach es für eine Aussetzung des Verfahrens nicht genügt, wenn sich in einem anderen Verfahren die gleiche Rechtsfrage stellt; VG Neustadt an der Weinstraße, U.v. 30.9.2024 – 3 K 604/24.NW – n.v., wonach es sich um eine von einem konkreten Sachverhalt losgelöste abstrakte Rechtsfrage handelt, deren Beantwortung für das Verfahren vor dem VG Neustadt an der Weinstraße keine Bindungswirkung im Sinne des § 94 entfaltet, weil das Bundesverwaltungsgericht lediglich prüft, ob und unter welchen Voraussetzungen Einwendungen gegen die Beitragserhebung im Hinblick auf die Vielfaltssicherung geltend gemacht werden können, dies unter Verweis auf VG Koblenz, B.v. 16.8.2024 – 5 K 533/24.KO – n.v. und VG Frankfurt, B.v. 22.7.2024 – 1 K 1690/24.F – n.v.; VG Karlsruhe, U.v. 14.10.2024 – 5 K 4290/24 – n.v., wonach der bloße Umstand, dass es in dem anderen Rechtsstreit um die gleiche oder eine „vergleichbare“ Rechtsfrage geht wie im Klageverfahren vor dem VG Karlsruhe, selbst dann keinen Fall einer solchen echten „Vorgreiflichkeit“ darstellt, wenn es sich bei dem anderen Verfahren um einen so genannten „Musterprozess“ handelt; VG Darmstadt, B.v. 29.10.2024 – 4 K 2273/24.DA – n.v., wonach zwischen den Beteiligten des Verfahrens vor dem VG Darmstadt kein solches Rechtsverhältnis zu den Beteiligten des vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Revisionsverfahrens besteht, da die Beteiligten beider Verfahren unterschiedlich sind und weil sich in beiden Verfahren lediglich die gleiche Rechtsfrage stellt; OVG LSA, B.v. 24.10.2024 – 3 O 149/24 – n.v., wonach Vorgreiflichkeit im Sinne von § 94 VwGO nur dann vorliegt, wenn die Entscheidung in einem anhängigen Verfahren kraft Gesetzes oder rechtslogisch von dem Bestehen oder Nichtbestehen des in dem anderen Verfahren anhängigen Rechtsverhältnisses abhängt, was vorliegend nicht gegeben ist; vielmehr steht die Beurteilung der Frage durch das Bundesverwaltungsgericht, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen gegen die Beitragserhebung geltend gemacht werden kann, der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ein der Vielfaltssicherung dienendes Programm anzubieten, werde strukturell verfehlt, so dass es an einem individuellen Vorteil fehle, einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts in dem bei ihm anhängigen Klageverfahren nicht entgegen; VG Freiburg, GB v. 11.9.2024 – 9 K 2585/24 – juris Rn. 81 bis 82)).
20
Demgegenüber beruft sich die Klagepartei ohne Erfolg auf den Beschluss des HessVGH vom 27. Juli 1988 (3 TE 1829/88 – NJW 1989, 1180). Hiernach bedeutet Vorgreiflichkeit der Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit, dass die Entscheidung, die in dem auszusetzenden Verfahren ergehen soll, nicht ergehen kann, ohne dass auch über eine in beiden Verfahren gemeinsame Vorfrage entschieden wird. Nach dieser Rechtsmeinung bedeutet dies allerdings nicht, dass die vorgreifliche Entscheidung für das auszusetzende Verfahren bindend sein muss; es genügt hiernach vielmehr, dass die im anderen Verfahren zu erwartende Entscheidung geeignet ist, einen rechtlich erheblichen Einfluss auf die Entscheidung im auszusetzenden Verfahren auszuüben (vgl. hierzu auch die ähnliche Rechtsauffassung von W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 94 Rn. 4, ohne dass in der dortigen Kommentierung eine Begründung für die dortige Rechtsmeinung zu finden ist). Dieser Rechtsmeinung des Hessischen Veraltungsgerichtshofs, für die sich im Übrigen im genannten Beschluss keine Begründung findet, kann das Gericht im vorliegenden Fall nicht folgen. Denn die Vorgreiflichkeit im Sinne des § 94 VwGO bezieht sich – wie oben ausgeführt – immer auf ein anderes „Rechtsverhältnis“. Die Beurteilung einer Vorfrage in einem anderen Rechtsstreit betrifft jedoch gerade kein Rechtsverhältnis im Sinne des § 94 VwGO. Denn die Beantwortung der Vorfrage beantwortet nicht unmittelbar die Frage, ob eine am Rechtsstreit beteiligte Person etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nichts zu tun braucht (BVerwG, U.v. 26.1.1996 – 8 C 19/94 – juris Rn. 10). Die Auslegung von Rechtsfragen betrifft kein Rechtsverhältnis (BVerwG, U.v. 11.2.2009 – 2 A 7.06 – juris Rn. 34, ThürOVG, B.v. 15.1.2010 – 2 VO 402/09 – juris Rn. 2; NdsOVG, B.v. 9.1.2018 – 5 OB 224/17 – juris LS 2 und Rn. 18; Jacob in Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 5. Aufl. 2023, Rn. 102).
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Auf dieser Grundlage kann das Gericht auch nicht den Beschlüssen des Verwaltungsgerichts Hannover vom 4. September 2024 (7 A 2831/24 – n.v.) und des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 6. August 2024 (AU 7 K 24.1474 – n.v.) folgen, die im Rahmen eines vergleichbaren Sachverhalts das jeweilige Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Revisionsverfahren 6 C 5/24 ausgesetzt haben. Denn beide Beschlüsse bejahen die Vorgreiflichkeit des beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahrens ohne weitere Begründung.
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Auch kann das Gericht nicht dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 12. August 2024 (9 K 2587/24.GI – n.v.) folgen, das ein vergleichbares Verfahren ebenfalls bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 6 C 5/24 ausgesetzt hat. Das Verwaltungsgericht Gießen hat diesbezüglich ausgeführt, in dem nunmehr vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Revisionsverfahren stehe damit nicht nur eine abstrakte Rechtsfrage im Raum, die sich auch im vorliegenden Verfahren stelle. Vielmehr betreffe die Frage, ob der Rundfunkbeitragspflicht der Einwand einer strukturell bedingten Nichterfüllung des Programmauftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entgegengehalten werden könne, unmittelbar das Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin des in der Revisionsinstanz anhängigen Verfahrens 6 C 5/24 und der dort beklagten Anstalt. Die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Rundfunkbeitragsschuldner und der jeweiligen Rundfunkanstalt als Beitragsgläubiger seien aber durch die von mehreren Oberverwaltungsgerichten vertretene Annahme, die Erfüllung des Programmauftrags sei einer fachgerichtlichen Kontrolle entzogen, unmittelbar berührt, da dies letztlich einem Einwendungsausschluss gleichkomme. Mithin habe die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in dem genannten Revisionsverfahren direkten Einfluss auf das durch die Rundfunkbeitragspflicht begründete Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten dieses Verfahrens. Die noch ausstehende Entscheidung wirke zwar nicht allgemeinverbindlich, sondern nur inter partes und entfalte daher im vorliegenden Verfahren keine Bindungswirkung. Sie werde jedoch eine faktische Rechtsprechungsgewissheit schaffen und sei deshalb geeignet, auch auf das vorliegende Verfahren einen rechtlich erheblichen Einfluss auszuüben.
23
Das Gericht kann der Auffassung des Verwaltungsgerichts Gießen, die Frage, ob der Rundfunkbeitragspflicht der Einwand einer strukturell bedingten Nichterfüllung des Programmauftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entgegengehalten werden könne, betreffe unmittelbar das Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und der beklagten Anstalt im vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Revisionsverfahren, nicht folgen. Das Verwaltungsgericht Gießen begründet seine Rechtsmeinung damit, die Annahme, die Erfüllung des Programmauftrages sei einer fachgerichtlichen Kontrolle entzogen, berühre unmittelbar das Rechtsverhältnis, weil dies letztlich einem Einwendungsausschluss gleichkomme; diese Begründung trägt die Rechtsmeinung jedoch deswegen nicht, weil es im Rahmen des § 94 VwGO – wie oben ausgeführt – allein auf das Rechtsverhältnis als solches ankommt, ob also die Klagepartei im Rechtsstreit vor dem Bundesverwaltungsgericht im Verhältnis zum dortigen Beklagten etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nichts zu tun braucht (BVerwG, U.v. 26.1.1996 – 8 C 19/94 – juris Rn. 10), ob sie also im dortigen Fall konkret einen Rundfunkbeitrag zahlen muss. Allein dies definiert das Rechtsverhältnis. Die Frage, ob die dortige Klagepartei gegenüber dem Beklagten dazu verpflichtet ist, einen Rundfunkbeitrag zu leisten, bemisst sich u.a. auch danach, ob der Rundfunkbeitragspflicht die Einwendung des nicht erfüllten Programmauftrages entgegengehalten werden kann. Diese Frage ist jedoch nicht das Rechtsverhältnis selbst. Wie bereits oben ausgeführt, ist es entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts Gießen im Rahmen des § 94 VwGO für die Vorgreiflichkeit gerade nicht ausreichend, wenn das andere Verfahren eine „faktische Rechtsprechungssicherheit schaffen“ kann. Die Frage, ob die Klagepartei im vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Rechtsstreit rundfunkbeitragspflichtig ist, ist nicht Tatbestandsmerkmal für die Rundfunkbeitragspflicht der Klagepartei im vorliegenden Verfahren und damit ohne Bedeutung.
24
Aus all diesen Gründen kann das Gericht keine Vorgreiflichkeit des Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien des Verfahrens 6 C 5/24 für das vorliegende Verfahren erkennen.
25
Auch eine analoge Anwendung des § 94 VwGO auf den vorliegenden Fall kommt nicht in Betracht.
26
Eine analoge Anwendung der Vorschrift ist dann möglich, wenn das andere Verfahren zwar kein Rechtsverhältnis betrifft, sondern eine Rechtsfrage; allerdings muss die Entscheidung über diese Rechtsfrage Bindungswirkung für das auszusetzende Verfahren entfalten, um eine analoge Anwendung von § 94 VwGO zu rechtfertigen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Normenkontrollverfahren, in welchen die Frage mit allgemeinverbindlicher Wirkung entschieden wird, sei es ein verwaltungsgerichtliches nach § 47 VwGO, sei es ein verfassungsrechtliches der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle oder eine Verfassungsbeschwerde. In derartigen Konstellationen ist die Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO anerkannt, weil es im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten liegt, dass in dem Rechtsstreit keine Entscheidung getroffen wird, die mit einer demnächst zu erwartenden – für das Verwaltungsgericht bindenden – Entscheidung eines der genannten übergeordneten Gerichte in Widerspruch steht (NdsOVG, B.v. 9.1.2018 – 5 OB 224/17 – juris Rn. 20 bis 21 m.w.N.). Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang immer die Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidung. Die Bindungswirkung rechtfertigt die Aussetzung trotz Fehlens eines vorgreiflichen Rechtsverhältnisses, da § 94 VwGO insoweit als lückenhaft anzusehen ist (Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 45. EL, Januar 2024, § 94 Rn. 45; Stuhlfauth in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 94 Rn. 5, VG Aachen, U.v. 30.9.2024 – 8 K 1352/24 – juris Rn. 20; Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 94 Rn. 5 m.w.N.; ThürOVG, B.v. 15.1.2010 – 2 VO 402/09 – juris Rn. 5).
27
Über diese Konstellation hinaus fehlt es an einer ungewollten Regelungslücke. Denn der Gesetzgeber hat mit § 93a VwGO für die Sonderkonstellation von Parallelverfahren eine spezielle Möglichkeit der Aussetzung geschaffen. Dies schließt es aus, bei anderen Parallelverfahren, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, auf eine analoge Anwendung von § 94 VwGO zurückzugreifen (Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 45. EL, Januar 2024, § 94 Rn. 43; ThürOVG, B.v. 15.10.2010, 2 VO 402/09 – juris Rn. 4; OVG LSA, B.v. 24.10.2024 – 3 O 149/24 – n.v.). Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen hat, gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 251 Abs. 1 Satz 1 ZPO das Verfahren auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten ruhen zu lassen. Es würde diesem geschlossenen System gesetzlicher Bestimmungen widersprechen, eine unbegrenzte Analogie von § 94 VwGO mit Rücksicht auf die Verfahrensökonomie zuzulassen (ThürOVG, B.v. 15.1.2010 – 2 VO 402/09 – juris Rn. 4; NdsOVG, B.v. 9.1.2018 – 5 OB 224/17 – juris Rn. 21) und damit ggf. auch ohne Zustimmung aller Beteiligten und trotz ihres schutzwürdigen Intereses an einer zeitnahen Entscheidung einen Stillstand des Verfahrens anzuordnen und eine Sachentscheidung hinauszuschieben (VG Freiburg, GB v. 11.9.2024 – 9 K 2585/24 – juris Rn. 84; vgl. zur analogen Anwendung von § 94 VwGO auch: BayVGH, B. v. 10.10.2024 – 20 C 24.1573 – juris).)
28
Eine solche Bindungswirkung entfaltet die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 6 C 5/24 nicht. Es handelt sich nicht um eine Normgültigkeitsprüfung. Im Übrigen ist den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts eine sonstige, grundsätzliche „Autorität“ im Sinne des § 31 BVerfGG nicht beizumessen (VG Neustadt an der Weinstraße, U.v. 30.9.2024 – 3 K 604/24.NW – n.v.; OVG LSA, B.v. 24.10.2024 – 3 O 149/24 – n.v., wonach Gründe der Verfahrensökonomie zwar auch in Fällen dieser Art [Anmerkung des Gerichts: wie den vorliegenden] für eine Aussetzung des Verfahrens sprechen, eine solche, zu weit verstandene Aussetzung jedoch der Grundkonzeption der Norm entgegensteht und im Hinblick auf die Regelung des § 93a VwGO an der fehlenden planwidrigen Regelungslücke scheitert).
29
Damit kommt im vorliegenden Fall, in welchem die Vorgreiflichkeit des Rechtsverhältnisses im Verfahren 6 C 5/24 nicht bejaht werden kann, eine analoge Anwendung des § 94 VwGO mangels rechtlicher Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 6 C 5/24 in Bezug auf den vorliegenden Rechtsstreit nicht in Betracht.
30
Liegen aber die Tatbestandsvoraussetzungen des § 94 VwGO weder direkt noch in analoger Anwendung vor, ist ein Ermessensspielraum des Gerichts nicht eröffnet. Daher erübrigen sich entsprechende Ermessenserwägungen.
31
Der Antrag auf Aussetzung des vorliegenden Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 6 C 5/24 muss daher abgelehnt werden.
32
Einer Kostenentscheidung für den vorliegenden Beschluss bedarf es nicht, da die Gerichtskosten Kosten der Instanz als solche sind (Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 94 Rn. 8).