Titel:
Anordnung der Verlängerung der Aufbewahrung einer Betreuungsakte mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig
Normenketten:
BayAufbewV § 2 Abs. 2 S. 1
EGGVG § 23 Abs. 1 S. 1, § 24, § 28 Abs. 2 S. 1
AGGVG BY Art. 53 Abs. 2 S. 2 Nr. 1
Leitsätze:
1. Da § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV die Bestimmung einer längeren oder einer kürzeren Aufbewahrungsfrist nur bei der Anordnung der Weglegung gestattet, kommt eine Änderung der Aufbewahrungsfrist nach dieser Vorschrift zu einem späteren Zeitpunkt nicht in Betracht. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Bescheid des Direktors des Amtsgerichts, mit dem die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für eine Betreuungsakte angeordnet wird, ist ein Justizverwaltungsakt iSd § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. § 2 Abs. 2 S. 1 BayAufbewV kann als Rechtsgrundlage für die Anordnung der Verlängerung der Aufbewahrung einer Betreuungsakte nur zum Zeitpunkt der Anordnung der Weglegung dienen. Eine analoge Anwendung für weitere Fälle scheidet aus. (Rn. 15 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Justizverwaltungsakt, Rechtsverletzung, Vernichtung von Akten, Aufbewahrungsfristen
Fundstellen:
MDR 2025, 542
BtPrax 2025, 72
LSK 2024, 33624
NJOZ 2025, 14
BeckRS 2024, 33624
Tenor
I. Der Bescheid des Direktors des Amtsgerichts Bayreuth vom 25. Januar 2024, Az. …, wird aufgehoben.
II. Der Antragsgegner wird angewiesen, die den Antragsteller betreffende Betreuungsakte … des Amtsgerichts Bayreuth zu vernichten.
III. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
IV. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt die Vernichtung der ihn betreffenden Betreuungsakte … des Amtsgerichts Bayreuth. Diesem Begehren ist der Direktor des Amtsgerichts Bayreuth entgegengetreten, indem er mit Bescheid vom 25. Januar 2024 die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für die Betreuungsakte um fünf Jahre bis zum 31. Dezember 2027 angeordnet hat.
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Das den Antragsteller betreffende Betreuungsverfahren wurde gemäß Beschluss des Amtsgerichts Bayreuth vom 24. Oktober 2011 mit Aufhebung der Betreuung eingestellt; am 6. März 2012 wurde die Weglegung der Akte verfügt. Danach gingen (bis zum 14. August 2023) weitere Schreiben, in der Mehrzahl solche des Antragstellers, ein, die zur Betreuungsakte geschrieben wurden, ohne dass das Betreuungsverfahren wieder aufgenommen oder fortgesetzt worden wäre.
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Mit im Bescheid vom 25. Januar 2024 in Bezug genommenem Schreiben vom 6. Januar 2023 beantragte der Antragsteller die Löschung bzw. Vernichtung der Betreuungsakte, woraufhin ihm der Direktor des Amtsgerichts Bayreuth mit Schreiben vom 24. Januar 2023 mitteilte, es komme in Betracht, die Aufbewahrungsfrist durch Anordnung gemäß § 2 Abs. 2 der Aufbewahrungsverordnung angemessen zu verlängern, da der Antragsteller noch im Jahr zuvor im Hinblick auf das Betreuungsverfahren Schadensersatz gefordert habe. Im Falle eines gerichtlichen Verfahrens wäre eine Verteidigung des Freistaates nur mithilfe der zugrundeliegenden Betreuungsakte möglich.
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Hintergrund dieser Ausführungen ist, dass der Antragsteller gegenüber dem Direktor des Amtsgerichts Bayreuth zuletzt mit E-Mail vom 28. Januar 2022 Schadensersatzansprüche gegen den Freistaat im Zusammenhang mit seinem Betreuungsverfahren angemeldet hatte, die der Direktor des Amtsgerichts Bayreuth mit Bescheid vom 12. April 2022 nicht anerkannt hat. Im Zusammenhang mit Schadensersatzansprüchen wegen seines Betreuungsverfahrens hat sich der Antragsteller auch an den Bayerischen Landtag und an den Deutschen Bundestag gewandt.
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Mit Schreiben vom 8. Februar 2023 erwiderte der Antragsteller auf das Schreiben des Direktors des Amtsgerichts Bayreuth vom 24. Januar 2023, der Landtag habe in der Petitionsbehandlung im Juni 2022 festgestellt, dass kein Anspruch auf Schadensersatz gegenüber dem Bundesland Bayern bestehe. Es bestünde allenfalls ein Schadensersatzanspruch „gegen den Betreuer, der Ärztin als Privatperson als Verfasserin des Gutachtens und der Bundeswehr, wegen möglicherweise verwechselten Bundeswehr Unterlagen, für letztere ist der DT Bundestag als Aufsichtsbehörde zuständig. […] Da keine Ansprüche laut der Petitionsprüfung bestehen, gegenüber des Bundeslandes Bayern, besteht auch keine Notwendigkeit die Aufhebung der Akte zu verlängern.“
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Mit Bescheid vom 25. Januar 2024, Az. …, ordnete der Direktor des Amtsgerichts Bayreuth die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für die Betreuungsakte um fünf Jahre bis zum 31. Dezember 2027 an. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 AufbewV für eine Verlängerung der Aufbewahrungsfrist der Betreuungsakte lägen vor. Dass der Antragsteller auch nach längerer Zeit und nach längeren Unterbrechungen in dem Betreuungsverfahren noch Ansprüche und Forderungen erhebe, habe sich schon darin gezeigt, dass er mehr als neun Jahre nach Aufhebung der Betreuung mit Beschluss vom 24. Oktober 2011 am 17. Februar 2021 die Angelegenheit aufgegriffen, Vernichtung der Akten und in der Folgezeit Schadensersatz wegen angeblicher Amtspflichtverletzung begehrt habe. Danach sei damit zu rechnen, dass jedenfalls die Möglichkeit bestehe, dass der Antragsteller es sich wieder anders überlege, wenn er etwa mit Schadensersatzansprüchen gegen andere Beteiligte an dem Betreuungsverfahren ebenfalls scheitere. In seinem Schreiben vom 8. Februar 2023 sei jedenfalls nicht erkennbar, dass er nunmehr auf einen solchen Schadensersatzanspruch verzichten werde. Gegebenenfalls könne sich der Freistaat mangels Akte nicht substanziiert verteidigen, während der Antragsteller Kopien aus der Akte oder der ganzen Akte zur Verfügung habe. Es sei deshalb angemessen, die Aufbewahrungsfrist um die Hälfte der Regelaufbewahrungsfrist zu verlängern. Dabei sei auch die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB zu beachten. Dass etwaige Schadensersatzansprüche aus der Führung des Betreuungsverfahrens verjährt wären, sei zwar aus Sicht des Direktors des Amtsgerichts Bayreuth zweifelsfrei. Der Antragsteller habe aber noch mit Schreiben vom 22. September 2021 seine zumindest damalige Auffassung dargetan, dass es sich bei der Betreuung von 2008 bis 2011 sowie deren Auswirkungen bis heute um ein fortwährendes mittelbares Tätigkeitsverbot handele, sodass noch keine Verjährung eingetreten sei. Ob er trotz (gemeint wohl: aufgrund) seiner Erkenntnisse aus der Petition diese Auffassung nunmehr aufgegeben habe, sei nicht verlässlich erkennbar. Gerechnet ab den letzten Eingaben in der Sache, die seitens des Petitionsausschusses des Bundestages 2023 bestätigt und zum Anlass weiterer Prüfungen gemacht werden sollten, sei zumindest die Verjährungsfrist ab Ende 2023 mit einem gewissen Zuschlag von einem Jahr, also bis Ende 2027, als Verlängerung angemessen.
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Gegen diesen ihm nach eigenem Bekunden am 14. Februar 2024 zugegangenen Bescheid hat sich der Antragsteller zunächst mit einem am 14. Februar 2024 per E-Mail an das Bayerische Oberste Landesgericht übermittelten eingescannten isolierten Antrag auf Verfahrenskostenhilfe für einen Antrag gemäß §§ 23 ff. EGGVG vom selben Tag gewandt, der die Unterschrift des Antragstellers trägt und beim Bayerischen Obersten Landesgericht ausgedruckt worden ist; auch jede weitere Kommunikation des Antragstellers mit dem Senat ist in dieser Form erfolgt. Der Senat hat mit Beschluss vom 31. Mai 2024 den Antrag auf Verfahrenskostenhilfe mangels zureichender Darlegung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zurückgewiesen, woraufhin der Antragsteller mit am 3. Juni 2024 beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangenem Schreiben mit dem Ziel der Löschung der Betreuungsakte beantragte, über den Bescheid vom 25. Januar 2024 gerichtlich zu entscheiden. Zugleich beantragte der Antragsteller Wiedereinsetzung in die versäumte Antragsfrist (§ 26 Abs. 1 EGGVG), die ihm mit Beschluss des Senats vom 15. Juli 2024 gewährt worden ist. In der Sache machte der Antragsteller Ausführungen dazu, warum es nicht gerechtfertigt sei, die weitere Aufbewahrung der ihn betreffenden Betreuungsakte damit zu begründen, dass mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Freistaat Bayern durch den Antragsteller zu rechnen sei.
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Mit Verfügung vom 16. September 2024 hat der Senatsvorsitzende darauf hingewiesen, dass die Annahme von „besonderen Gründen“ für die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist (§ 2 Abs. 2 AufbewV) jedenfalls mit der im angegriffenen Bescheid vom 25. Januar 2024 gegebenen Begründung fraglich erscheine. Hierzu hat sich der Antragsgegner mit Schreiben vom 19. September 2024, der Antragsteller mit zwei Schreiben vom 26. September 2024 geäußert.
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Mit Verfügung vom 6. November 2024 hat der Senatsvorsitzende darauf hingewiesen, dass nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV eine längere als die Regelaufbewahrungsfrist nur „bei der Anordnung der Weglegung“ bestimmt werden könne, die im angegriffenen Bescheid in Bezug genommene Anordnung der Weglegung vom 6. März 2012 eine solche Bestimmung jedoch nicht enthalte.
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Daraufhin hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 18. November 2024 die Auffassung vertreten, es müsse möglich sein, die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist wegen (erst) während des Weglagezeitraums auftretender Umstände zu verlängern. Nach dem Telos der Vorschrift sei die Vorschrift deshalb so auszulegen, dass die Verlängerung nicht nur zum Zeitpunkt der Verfügung der Weglegung, sondern auch noch während der Dauer der Weglage bis zum Aussonderungszeitpunkt möglich sei und nachgeholt werden könne; jedenfalls müsse aber eine analoge Anwendung der Vorschrift auf den vorliegenden Fall erfolgen.
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Der Antragsteller hat mit Schreiben vom 19. November 2024 die Auffassung vertreten, dass die Verlängerung mit Anordnung der Weglegung hätte erfolgen müssen.
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Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig und begründet.
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1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff. EGGVG ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.
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Bei dem angegriffenen Bescheid vom 25. Januar 2024 handelt es sich um eine regelnde Maßnahme der Justizverwaltung mit Außenwirkung, mithin um einen Justizverwaltungsakt im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG, so dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff. EGGVG, der erteilten Rechtsbehelfsbelehrungentsprechend, der statthafte Rechtsbehelf ist. Dieser wurde auch in zulässiger Weise, insbesondere form- und ‒ nach gewährter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ‒ fristgerecht eingelegt (§ 26 Abs. 1 EGGVG). Mit einer Unterschrift versehene eingescannte Schreiben, die als Anlage zu einer E-Mail an das Gericht übermittelt werden, wahren die Schriftform, sobald sie dem Gericht in ausgedruckter Form vorliegen (BGH, Beschluss vom 15. Juli 2008, X ZB 8/08, NJW 2008, 2649). Indem er geltend macht, seinem Antrag auf Vernichtung bzw. Löschung der ihn betreffenden Betreuungsakte sei zu Unrecht nicht entsprochen worden, hat der Antragsteller die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten im Sinne des § 24 Abs. 1 EGGVG dargelegt. Zum einen kommt eine Verletzung seines auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG fußenden Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. grundlegend BVerfG, Urt. v. 15. Dezember 1983, 1 BvR 209/83 u. a., BVerfGE 65, 1 [juris Rn. 146 ff.]) in Betracht. Zum anderen gewährt die Begrenzung der Aufbewahrungsdauer in Art. 52 Abs. 1 AGGVG und in der Aufbewahrungsverordnung dem Antragsteller eine (möglicherweise verletzte) einfachrechtliche subjektive Rechtsposition, was sich daraus ergibt, dass die Ermächtigungsgrundlage der Aufbewahrungsverordnung (Art. 51b AGGVG in der bis zum 29. August 2014 geltenden Fassung [im Folgenden: AGGVG a. F.]) dem Verordnungsgeber aufgegeben hat, bei der Bestimmung der Aufbewahrungsfristen insbesondere auch das Interesse der Betroffenen daran zu berücksichtigen, dass die zu ihrer Person erhobenen Daten nicht länger als erforderlich gespeichert werden (Art. 51b Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AGGVG a. F.; wortlautidentisch mit Art. 53 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AGGVG in der heute geltenden Fassung).
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2. Der Antrag ist auch begründet. Der angegriffene Bescheid vom 25. Januar 2024 hat einen zweifachen Gehalt. Zum einen schafft er, solange er Bestand hat, eine Rechtsgrundlage für die weitere Aufbewahrung der Betreuungsakte; da der Bescheid mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt, ist er aufzuheben (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG; s. dazu sogleich zu Buchst. a)). Zum anderen beinhaltet der Bescheid die Ablehnung der vom Antragsteller beantragten Vernichtung der Betreuungsakte; da diese Ablehnung rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt und überdies die Sache spruchreif ist, ist die Verpflichtung des Antragsgegners auszusprechen, die Betreuungsakte zu vernichten (§ 28 Abs. 2 Satz 1 EGGVG; s. dazu zu Buchst. b)).
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a) Der angegriffene Bescheid ist mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig und verletzt den Antragsteller dadurch in seinen Rechten, sodass er aufzuheben ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG).
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aa) Als den Antragsteller belastender Verwaltungsakt bedarf die Anordnung der Verlängerung der Aufbewahrung der Betreuungsakte einer sie tragenden Rechtsgrundlage.
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bb) An einer solchen fehlt es. Die Frage, wie lange die streitgegenständliche Betreuungsakte aufzubewahren ist, bestimmt sich nach der auf der Grundlage des Art. 51b Abs. 1 AGGVG a. F. (vgl. jetzt Art. 53 Abs. 1 AGGVG) erlassenen Verordnung über die Aufbewahrung von Schriftgut der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Justizvollzugsbehörden (Aufbewahrungsverordnung ‒ AufbewV) vom 29. Juli 2010.
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(1) Gemäß § 1 AufbewV bestimmen sich die Aufbewahrungsfristen nach der Anlage der Aufbewahrungsverordnung, deren Nummer 95 für Akten über Betreuungssachen eine zehnjährige Aufbewahrungsfrist anordnet, die gemäß § 53 Abs. 3 AGGVG (wiederholt in § 4 Abs. 1 AufbewV) mit dem Ablauf des Jahres der Weglegung, hier also mit dem Ablauf des Jahres 2012 beginnt.
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(a) Die zehnjährige Aufbewahrungsfrist endete demnach mit dem Jahr 2022, wovon auch der Direktor des Amtsgerichts Bayreuth ausgegangen ist.
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(b) Ein Fall des § 4 Abs. 6 AufbewV liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift beginnt für den Fall der Aufnahme oder Fortsetzung des Verfahrens nach bereits erfolgter Weglegung der Akten (z. B. durch einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens) mit dem Ablauf des Jahres, in dem die Akten erneut weggelegt worden sind, eine neue Aufbewahrungsfrist. Mit Beschluss vom 24. Oktober 2011 wurde die den Antragsteller betreffende Betreuung aufgehoben und das Betreuungsverfahren eingestellt, woraufhin am 6. März 2012 die Weglegung der Akte verfügt wurde. Danach gingen zwar (zuletzt am 14. August 2023) weitere Schreiben, vor allem des Antragstellers, ein, die zur Betreuungsakte geschrieben wurden; keines dieser Schreiben führte jedoch zu einer (Wieder-)Aufnahme oder Fortsetzung des Betreuungsverfahrens.
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(2) Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV kann allerdings bei der Anordnung der Weglegung eine längere oder kürzere Aufbewahrungsfrist bestimmt werden, wenn eine
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Aufbewahrungsfrist im Einzelfall aus besonderen Gründen zu kurz oder zu lang erscheint. Außerdem kann eine längere oder kürzere Aufbewahrungsfrist im Einzelfall auch auf Antrag vom Verfahrensbeteiligten oder sonstigen Personen bestimmt werden, wenn ein berechtigtes Interesse nachgewiesen ist (§ 2 Abs. 2 Satz 2 AufbewV).
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Keiner dieser Fälle liegt hier vor.
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(a) Der Direktor des Amtsgerichts Bayreuth hat den angegriffenen Bescheid auf § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV gestützt, dessen tatbestandliche Voraussetzungen jedoch nicht vorliegen, so dass er zu einer Ermessensausübung auf der Grundlage dieser Vorschrift gar nicht kommen durfte. § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV erlaubt eine Verlängerung oder Verkürzung der Aufbewahrungsfrist nämlich nur „bei der Anordnung der Weglegung“. Bei der Anordnung der für die Frist relevanten Weglegung der Akte am 6. März 2012 (Bl. 1119 Rs. der Betreuungsakte) wurde eine solche Bestimmung jedoch nicht getroffen.
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Anders als der Antragsgegner meint, kommt eine teleologische Reduktion der Bestimmung dahingehend, dass man die Wörter „bei der Anordnung der Weglegung“ übergeht, ebenso wenig in Betracht wie eine
‒ auf dasselbe Ergebnis hinauslaufende ‒ analoge Anwendung der Vorschrift für den Fall, dass die Verlängerung nicht bei der Anordnung der Weglegung, sondern erst später angeordnet wird.
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(aa) Es ist schon an sich fernliegend anzunehmen, die Wörter „bei der Anordnung der Weglegung“ seien gleichsam versehentlich in den Tatbestand geraten und daher insoweit ein Redaktionsversehen des Verordnungsgebers anzunehmen.
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(bb) Auch ein systematischer Vergleich der Sätze 1 und 2 des § 2 Abs. 2 der Aufbewahrungsverordnung spricht gegen eine solche teleologische Reduktion. Wenn durch den Passus „bei der Anordnung der Weglegung“ keine Einschränkung hätte geschaffen werden sollen, erschlösse sich nicht, warum er nicht auch in den Wortlaut des Satzes 2 aufgenommen wurde.
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(cc) Vor allem aber spricht gegen die Annahme eines Redaktionsversehens, dass der Gesetzgeber in der Verordnungsermächtigung des Art. 51b Abs. 2 AGGVG a. F. (wortlautidentisch mit Art. 53 Abs. 2 AGGVG in der heute geltenden Fassung) dem Verordnungsgeber unter dem Leitgedanken der Verhältnismäßigkeit einen umfangreichen Katalog von Aspekten vorgegeben hat, die er bei der Bestimmung der Aufbewahrungsfristen insbesondere zu berücksichtigen hat, darunter das an erster Stelle genannte Interesse der Betroffenen daran, dass die zu ihrer Person erhobenen Daten nicht länger als erforderlich gespeichert werden (Art. 51b Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AGGVG a. F.), aber auch gegenläufige Interessen der Verfahrensbeteiligten, nicht am Verfahren Beteiligter sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften (Art. 51b Abs. 2 Satz 2 Nrn. 2 bis 4 AGGVG a. F.). Wenn der Verordnungsgeber in Abwägung dieser widerstreitenden Interessen § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV so fasst, dass eine Verlängerung der Aufbewahrungsfrist ‒ ohne dass ein Antrag im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 2 AufbewV vorliegt ‒ „bei der Anordnung der Weglegung“ bestimmt werden kann, so verbietet es sich für den Rechtsanwender, diesen Passus als nicht geschrieben oder irrelevant anzusehen.
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(dd) Dagegen spricht schließlich auch ein Vergleich mit Parallelvorschriften, die andere Länder zur Aufbewahrung gerichtlichen Schriftguts getroffen haben. Während § 2 Abs. 3 Satz 1 der Aufbewahrungsverordnung der Hansestadt Bremen vom 26. September 2016 dieselbe Einschränkung enthält wie § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV („bei der Weglegung“), fehlt eine solche in § 2 Abs. 4 Satz 1 der Aufbewahrungsverordnung des Landes Hessen vom 23. November 2022 sowie in § 3 Abs. 8 Satz 1 der Aufbewahrungsverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 29. November 2022. Allerdings enthielt sowohl die mit dem 31. Dezember 2022 außer Kraft getretene Vorschrift des § 1 Abs. 3 Satz 1 der Aufbewahrungsverordnung des Landes Hessen vom 5. März 2012 als auch die zum selben Zeitpunkt außer Kraft getretene Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 1 der Aufbewahrungsverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 6. Mai 2008 dieselbe Einschränkung wie § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV („bei der Weglegung“). Dies zeigt, dass die Verordnungsgeber mehrerer Länder zunächst der Auffassung waren, es reiche aus, die Möglichkeit der antragslosen Aufbewahrungsverlängerung „bei der Weglegung“ vorzusehen, dass der Verordnungsgeber sich jedoch in einigen Ländern dazu veranlasst sah, dies zu korrigieren.
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(ee) Kommt somit eine teleologische Reduktion der Bestimmung, welche den Passus „bei der Anordnung der Weglegung“ schlicht unbeachtet ließe, nicht in Betracht, so verbietet sich gleichfalls eine ‒ auf dasselbe Ergebnis abzielende ‒ analoge Anwendung dieser Vorschrift auf Fälle, in denen die Fristverlängerung erst nach Anordnung der Weglegung bestimmt wurde.
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(b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 2 AufbewV, auf den der angegriffene Bescheid im Übrigen nicht gestützt ist, liegen mangels Antrags eines Verfahrensbeteiligten oder einer sonstigen Person ebenfalls nicht vor.
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(3) Eine Rechtsgrundlage für die weitere Aufbewahrung der Betreuungsakte außerhalb der Aufbewahrungsverordnung ist ‒ abgesehen davon, dass der angegriffene Bescheid auf eine solche auch nicht gestützt ist ‒ nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber hat in Art. 52 Abs. 1 AGGVG (der Art. 51a Abs. 1 AGGVG a. F. entspricht) bestimmt, dass Schriftgut der Gerichte nach Beendigung des Verfahrens nur so lange aufbewahrt werden darf, wie schutzwürdige Interessen der Verfahrensbeteiligten oder sonstiger Personen oder öffentliche Interessen dies erfordern, und die weitere Ausgestaltung ‒ unter Vorgabe eines detaillierten Abwägungsprogramms ‒ dem Verordnungsgeber überlassen (Art. 51b Abs. 1 und 2 AGGVG a. F. bzw. Art. 53 Abs. 1 und 2 AGGVG). Die Aufbewahrung von Schriftgut der Gerichte nach Abschluss des Verfahrens sollte also nach dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers abschließend im Ausführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz und der darauf fußenden Aufbewahrungsverordnung geregelt werden.
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cc) Da dem den Antragsteller belastenden Bescheid die erforderliche Rechtsgrundlage fehlt, verletzt er ihn in seinen Rechten und ist deshalb aufzuheben (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG).
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b) Aus den oben dargelegten Gründen ist auch die im angegriffenen Bescheid liegende Ablehnung der vom Antragsteller beantragten Vernichtung der ihn betreffenden Betreuungsakte rechtswidrig. Aus Art. 52 Abs. 1 i. V. m. Art. 53 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AGGVG bzw. aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ergibt sich, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Vernichtung der ihn betreffenden Betreuungsakte nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist hat, sofern es ‒ wie hier ‒ keine Rechtsgrundlage für die Verlängerung der Aufbewahrung gibt. Somit ist der Antragsteller durch die rechtswidrige Ablehnung der Vernichtung der Betreuungsakte in seinen Rechten verletzt; da die Sache spruchreif ist, ist die Verpflichtung des Antragsgegners zur Vornahme der beantragten Amtshandlung (Vernichtung der Betreuungsakte) auszusprechen (§ 28 Abs. 2 Satz 1 EGGVG).
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1. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Für einen (teilweise) erfolgreichen Antrag fallen keine Gerichtsgebühren an (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 19 GNotKG, § 25 Abs. 1 GNotKG, Nr. 15300 KV GNotKG und Nr. 15301 KV GNotKG). Der Senat sieht auch keine hinreichenden Gründe dafür, nach § 30 Abs. 1 Satz 1 EGGVG eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers aus der Staatskasse anzuordnen. Der Umstand, dass ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung (teilweise) Erfolg hat, reicht hierfür nicht aus. Vielmehr muss hinzutreten, dass der Justizbehörde ein offensichtlich oder grob fehlerhaftes oder gar willkürliches Verhalten zur Last zu legen ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 8. Mai 2024, 101 VA 18/24, NJOZ 2024, 634 Rn. 35; KG, Beschluss vom 3. Juli 2018, 5 VAs 6/18, juris Rn. 6 m. w. N.; Köhnlein in BeckOK GVG, 23. Ed. Stand: 15. Mai 2024, EGGVG § 30 Rn. 8; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, EGGVG § 30 Rn. 5). Eine derartige Pflichtverletzung kann hier mit Blick auf die Verkennung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 1 AufbewV nicht festgestellt werden.
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2. Mithin bedarf es auch keiner Geschäftswertfestsetzung.
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3. Die Voraussetzungen, unter denen gemäß § 29 Abs. 2 EGGVG die Rechtsbeschwerde zuzulassen ist, liegen nicht vor.