Inhalt

VGH München, Beschluss v. 18.11.2024 – 6 ZB 24.1272
Titel:

Erschließungsbeitrag - Verlängerung einer Anbaustraße

Normenketten:
KAG Art. 5a Abs. 7 S. 2
BauGB § 127 Abs. 2 Nr. 1, § 129 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Wenn eine endgültig hergestellte Anbaustraße, für die bereits sachliche Beitragspflichten entstanden sind, nachträglich verlängert oder fortgeführt wird, ist die Verlängerungsstrecke unabhängig von ihrer optischen Zugehörigkeit zum weiteren Straßenzug erschließungsbeitragsrechtlich als eigene selbständige Anbaustraße zu qualifizieren. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Vorteilslage tritt bei einer Anbaustraße (erst) dann ein, wenn sie endgültig technisch fertiggestellt ist, dh dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Straße (oder Teileinrichtung) überhaupt und ob sie nach Art und Umfang oder den dafür aufgewandten Kosten erforderlich ist, steht der Gemeinde ein weiter Entscheidungsspielraum zu. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erschließungsbeitragsrecht, Erschließungsanlage, Anlagenbildung, 25-Jahres-Frist, Erforderlichkeit, Anbaustraße, Verlängerung, Vorteilslage
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 21.03.2024 – W 3 K 21.1292
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33489

Tenor

I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 21. März 2024 – W 3 K 21.1292 – in seinem klageabweisenden Teil wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 24.651,20 € festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag der Klägerin, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, soweit es die Klage abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg. Die Zulassungsrügen greifen nicht durch.
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1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts begegnet keinem ernstlichen Zweifel an seiner Richtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
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Dieser Zulassungsgrund läge vor, wenn vom Rechtsmittelführer ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt würden (vgl. zu diesem Maßstab BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – NJW 2009, 3642 m.w.N.). Die Richtigkeitszweifel müssen sich auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – NVwZ-RR 2004, 542 f.; BayVGH, B.v. 15.2.2018 – 6 ZB 17.2521 – juris Rn. 4). Das ist nicht der Fall.
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Die beklagte Gemeinde zog die Klägerin als Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 9278/2 auf der Grundlage von Art. 5a KAG in Verbindung mit §§ 127 ff. BauGB und ihrer Erschließungsbeitragssatzung mit Bescheid vom 6. September 2021 zu einem Erschließungsbeitrag für die Herstellung der Erschließungsanlage H. Straße in Höhe von 27.714,31 € heran. Mit dem angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht diesen Bescheid insoweit aufgehoben, als ein höherer Erschließungsbeitrag als 24.651,20 € festgesetzt wird. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Entscheidungstragend hat es angenommen, maßgebliche Erschließungsanlage sei die etwa 104 m lange H. Straße zwischen dem Übergang in die Dr.-B. Straße im Westen und der Grenze der Ortsbebauung im Osten. Da diese Erschließungsanlage erst durch die 2020 durchgeführten Bauarbeiten erstmalig und endgültig hergestellt worden sei, dürfe die Beklagte Erschließungsbeiträge erheben. Allerdings seien nicht alle als beitragsfähig angesetzte Kosten der maßgeblichen Erschließungsanlage zuzurechnen. Angesetzt werden dürften statt 181.969,80 € nur 167.613,85 €. Entsprechend vermindere sich der auf das klägerische Grundstück entfallende Erschließungsbeitrag.
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Die Einwände, die der Zulassungsantrag den erstinstanzlichen Erwägungen zur Klageabweisung entgegenhält, begründen weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, denen in einem Berufungsverfahren weiter nachzugehen wäre.
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a) Die Bestimmung der maßgeblichen Erschließungsanlage lässt entgegen der Ansicht der Klägerin keinen Fehler erkennen.
7
Das Verwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit der ständigen Senatsrechtsprechung davon ausgegangen, dass die Selbständigkeit einer Verkehrsanlage sich abweichend vom Grundsatz der natürlichen Betrachtungsweise aus Rechtsgründen ergeben kann. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine endgültig hergestellte Anbaustraße, für die bereits sachliche Beitragspflichten entstanden (nicht notwendigerweise auch erhoben) sind, nachträglich verlängert oder fortgeführt wird (vgl. BayVGH, B.v. 29.6.2016 – 6 ZB 15.2786 – juris Rn. 10; B.v. 20.10.2022 – 6 CS 22.1804 – juris Rn. 15). In einem solchen Fall ist die Verlängerungsstrecke unabhängig von ihrer optischen Zugehörigkeit zum weiteren Straßenzug erschließungsbeitragsrechtlich als eigene selbständige Anbaustraße und nicht als bloßer Abschnitt im Sinn von § 130 Abs. 2 Satz 1 BauGB zu qualifizieren.
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Auf dieser Grundlage hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der bei natürlicher Betrachtungsweise einheitliche Straßenzug Dr.-B. Straße und H. Straße aus Rechtsgründen in zwei verschiedene Erschließungsanlagen zerfällt, nämlich in die 1968 tatsächlich hergestellte und 1969/70 sowie 1977 erschließungsbeitragsrechtlich abgerechnete Dr.-B. Straße einerseits und die damals noch durch den Außenbereich verlaufende H. Straße andererseits, die erst durch den am 12. Januar 1993 beschlossenen Bebauungsplan H. Weg EF Erschließungsfunktion erlangt hat.
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Dem hält der Zulassungsantrag nichts Stichhaltiges entgegen. Dass die Verlängerungsstrecke „seit den 90er Jahren gerade nicht mehr durch den Außenbereich verläuft“, ändert an der erschließungsbeitragsrechtlichen Selbstständigkeit gegenüber der (deutlich) vorher endgültig hergestellten Erschließungsanlage Dr.-B. Straße nichts. Ebenso ist es unerheblich, dass die Grundstücke des neuen Baugebiets schon vor Inkrafttreten des neuen Bebauungsplans (H. Weg EF) verkehrsmäßig erschlossen waren und Änderungen an der Fahrbahn nicht vorgenommen werden mussten. Denn Erschließungsbeitrage werden nicht für die erstmalige Erschließung eines (Bau-) Grundstücks erhoben, sondern für die erstmalige endgültige Herstellung einer bestimmten Erschließungsanlage. Mit Blick auf die (rechtlich selbstständige) Verlängerungsstrecke ist allerdings zu fragen, ob sie im Zeitpunkt ihres Funktionswandels (von der Außenbereichsstraße zur Anbaustraße) bereits sämtliche Merkmale für die endgültige Herstellung einer beitragsfähigen Erschließungsanlage erfüllt hat (vgl. BayVGH, B.v. 16.2.2022 – 6 ZB 21.2091 – juris Rn. 17 m.w.N.); denn eine als Außenbereichsstraße fertiggestellte Anlage kann – und wird in der Regel – als beitragsfähige Erschließungsanlage durchaus eine noch unfertige Anbaustraße sein. Das hat das Verwaltungsgericht indes mit ausführlichen und überzeugenden Erwägungen verneint (S. 16 f. des Urteils), ohne dass die Klägerin dem substantiiert entgegentritt.
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b) Ebenfalls keinen Zweifeln begegnet die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Beitragserhebung scheitere nicht an Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG, wonach kein Erschließungsbeitrag mehr erhoben werden darf, sofern seit dem Beginn der erstmaligen technischen Herstellung einer Erschließungsanlage mindestens 25 Jahre vergangen sind.
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Der Einwand der Klägerin kann schon deshalb nicht überzeugen, weil er auf der unzutreffenden Annahme beruht, das Verwaltungsgericht hätte von einer anderen Erschließungsanlage nach natürlicher Betrachtungsweise ausgehen müssen. Dass der Beginn der technischen Herstellung der Dr.-B. Straße aber nicht die 25-Jahres-Frist für die damals im Außenbereich verlaufende Verlängerungsstrecke H. Straße auslösen kann, versteht sich von selbst. Bezogen auf die Verlängerungsstrecke als maßgebliche Erschließungsanlage, kann der Einwand ebenfalls nicht überzeugen. Entgegen der Ansicht der Klägerin kann nicht schon in der Bekanntmachung oder im Inkrafttreten des Bebauungsplans der Beginn der erstmaligen technischen Herstellung gesehen werden. Maßgeblich ist vielmehr die erste sichtbare Baumaßnahme („erster Spatenstich“), mit der das gemeindliche Bauprogramm für eine bestimmte Erschließungsanlage verwirklicht werden soll (BayVGH, U.v. 27.11.2023 – 6 BV 22.306 – juris Rn. 29 f.). Wenn man das Bauprogramm mit dem Verwaltungsgericht bereits dem Bebauungsplan H. Weg EF entnimmt, kommt es also auf die erste Baumaßnahme zu dessen Umsetzung an. Das war nach den – nicht angefochtenen – Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Jahr 1998. Demnach kann die 25-Jahresfrist im Zeitpunkt des Erlasses des Erschließungsbeitragsbescheids vom 6. September 2021 noch nicht abgelaufen gewesen sein.
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c) Erst recht steht der Beitragserhebung nicht Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb Spiegelstrich 1 KAG entgegen.
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Nach dieser Vorschrift ist § 169 AO mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig ist. Die Vorteilslage tritt nach ständiger Rechtsprechung bei einer Anbaustraße (erst) dann ein, wenn sie endgültig technisch fertiggestellt ist, das heißt dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht (BayVGH, U.v. 27.11.2023 – 6 BV 22.306 – juris Rn. 26; B.v. 28.4.2022 – 6 ZB 21.2951 – juris Rn. 15 m.w.N.). Das war nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts erst im Jahr 2020 der Fall. Dass die anliegenden Grundstücke bereits zuvor anfahrbar waren, sagt entgegen der Ansicht der Klägerin nichts über das Vorliegen eines gemeindlichen Bauprogramms sowie dessen Umsetzung und damit den Einritt der Vorteilslage aus. Es kommt auch nicht auf den Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans an, sondern – wie das Verwaltungsgericht dargelegt hat – auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der Erschließungsmaßnahme, ausgehend von der konkreten Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage.
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d) Soweit die Klägerin einwendet, die vom Verwaltungsgericht als beitragsfähig angesehenen Kosten seien in der Höhe nicht nachvollziehbar, kann sie damit nicht durchdringen.
15
Sie meint, allenfalls dürften die Kosten des Gehwegs und der Straßenbeleuchtung angesetzt werden, die Kosten für die Grundstückszufahrten (zur Überquerung des Grünstreifens) und Erneuerung der Fahrbahn seien nicht erforderlich oder beträfen nicht die erstmalige Herstellung. Das kann schon deshalb nicht überzeugen, weil die Klägerin dem erstinstanzlichen Urteil nur ihre eigene pauschale Bewertung entgegensetzt, ohne sich mit den eingehenden und nach einzelnen Kostenteilen differenzierenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (S. 21-31 des Urteils) auseinanderzusetzen. Im Übrigen teilt der Senat die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass es sich bei den noch streitigen Kosten um beitragsfähigen Aufwand für die erstmalige Herstellung der Erschließungsanlage mit ihren Teileinrichtungen handelt. Ebensowenig kann ihnen die anlagen- oder kostenbezogene Erforderlichkeit im Sinn von § 129 Abs. 1 Satz 1 BauGB abgesprochen werden. Denn bei der Beurteilung der Frage, ob eine Straße (oder Teileinrichtung) überhaupt und ob sie nach Art und Umfang oder den dafür aufgewandten Kosten erforderlich ist, steht der Gemeinde ein weiter Entscheidungsspielraum zu (vgl. BayVGH, B.v. 29.6.2016 – 6 ZB 15.2786 – juris Rn. 13). Durch das Merkmal der Erforderlichkeit wird lediglich eine äußerste Grenze markiert, die erst überschritten ist, wenn die von der Gemeinde im Einzelfall gewählte Lösung sachlich schlechthin unvertretbar ist. Dafür ist kein greifbarer Anhaltspunkt vorgetragen oder ersichtlich.
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e) Der Einwand der Klägerin, das Grundstück FlNr. 9287/3 sei entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bei der Aufwandsverteilung „definitiv“ zu berücksichtigen gewesen, ist nicht nachvollziehbar. Das Verwaltungsgericht hat – ausgehend von seiner nicht zu beanstandenden Anlagenbildung (oben a) – festgestellt, dass das Grundstück FlNr. 9287/3 nur punktförmig an die streitgegenständliche Erschließungsanlage angrenzt und deshalb nicht durch die abzurechnende Anlage erschlossen (§ 131 Abs. 1 BauGB) wird. Damit setzt sich die Klägerin nicht auseinander.
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2. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
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Um diesen Zulassungsgrund dazulegen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, zudem ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, ferner erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und schließlich darlegen, weshalb ihr eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt (BayVGH, B.v. 22.3.2022 – 6 ZB 22.184 – juris Rn. 16). Dem entspricht der Zulassungsantrag nicht.
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Die Klägerin wirft als klärungsbedürftig die Frage auf, inwieweit die Vorschriften über Verjährung bzw. Verwirkung auf einen Fall anzuwenden sind, in dem die Erschließungsanlage bereits größtenteils fertiggestellt ist, das Bauprogramm, nämlich der Bebauungsplan, nach mehr als 25 Jahren vollzogen wird. Zu klären wäre, inwieweit vorliegend Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG ggf. in analoger Anwendung anzuwenden wäre. Der Fall sei deshalb bedeutsam, weil vorliegend die Erschließungsanlage selbst als Straße bereits fertiggestellt gewesen sei und letztlich aufgrund des fehlenden Vollzugs des Bebauungsplans die Grundstücke erst später angeschlossen worden seien. In den bislang entschiedenen Fällen sei im Zuge eines Bebauungsplans auch die Straße als Erschließungsanlage erst gebaut bzw. ein Feldweg umgewandelt worden. Wie weit der Geltungsbereich der Vorschrift sei, ob eine analoge Anwendung angezeigt sei, sei bislang gerichtlich nicht geklärt worden.
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Mit diesem Vorbringen zeigt die Klägerin nicht auf, worin eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung bestehen und weshalb eine Klärungsbedürftigkeit und Entscheidungserheblichkeit gegeben sein sollen. Die aufgeworfene Frage lässt sich, soweit verallgemeinerungsfähig, ohne weiteres anhand der gesetzlichen Regelung und der hierzu ergangenen Rechtsprechung beantworten.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).