Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.11.2024 – 10 ZB 24.1606
Titel:

Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz für Vertriebene aus der Ukraine

Normenketten:
EMRK Art. 8 Abs. 1
GRCh Art. 7
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3
AufenthG § 24 Abs. 1
RL 2001/55/EG Art. 5, Art. 2 lit. c, Art. 6 Abs. 2
Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 Art. 2 Abs. 2,
Leitsatz:
Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 setzt voraus, dass der betreffende Staatenlose oder Staatsangehörige eines anderen Drittlands als der Ukraine zum einen nachweisen kann, dass er sich vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten hat, und zum anderen auch nicht in der Lage ist, sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland oder seine Herkunftsregion zurückzukehren. Der auf dieser unionsrechtlichen Grundlage berechtigte Personenkreis kann durch mitgliedstaatliche Umsetzungshinweise nicht erweitert werden. (Rn. 14 – 15)
Schlagworte:
Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz für Vertriebene aus der Ukraine, irakischer Staatsangehöriger mit unbefristetem ukrainischen Aufenthaltstitel, sichere und dauerhafte Rückkehrmöglichkeit in Herkunftsland oder Herkunftsregion (hier: bejaht), Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz, Vertriebene aus der Ukraine, irakischer Staatsangehöriger, unbefristeter ukrainischer Aufenthaltstitel, sichere und dauerhafte Rückkehrmöglichkeit in Herkunftsland oder Herkunftsregion, Auslegung des Durchführungsbeschlusses des Rates, Staatenlose oder Staatsangehörige eines anderen Drittlands
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 25.07.2024 – M 12 K 22.5185
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33447

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

1
Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Verpflichtungsklage auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis als Vertriebener (Kriegsflüchtling) aus der Ukraine weiter.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (2.) noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (3.) ergeben.
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1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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a) Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger keinen Anspruch auf Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz nach § 24 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der RL 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl. L 71 vom 4.3.2022, S. 1, im Folgenden: Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382) habe.
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Zwar könne als wahr unterstellt werden, dass sich der Kläger vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines unbefristeten ukrainischen Aufenthaltstitels in der Ukraine aufgehalten habe. Nach den Hinweisen des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) vom 14. April 2022/ 5. September 2022 (im Folgenden BMI-Hinweise) zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses sei bei Vorliegen eines unbefristeten Aufenthaltstitels zwar prima facie von einer maßgeblichen Verbindung in die Ukraine und damit davon auszugehen, dass eine sichere und dauerhafte Rückkehr in das Herkunftsland nicht möglich sei, weil eine engere (Wortwahl der Kommission: „sinnvollere“) Bindung zur Ukraine als zum Herkunftsland bestehe. Diese prima facie-Schlussfolgerung sei jedoch vorliegend widerlegt; unter Berücksichtigung der Erkenntnisse über die allgemeine Lage im Irak und der individuellen Situation des Klägers sei ihm eine sichere und dauerhafte Rückkehr dorthin möglich.
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Der Kläger macht dagegen im Wesentlichen geltend, nach den BMI-Hinweisen dürfe bei Vorliegen eines unbefristeten ukrainischen Aufenthaltstitels eine sui-generis-Prüfung, ob eine sichere und dauerhafte Rückkehr in das Herkunftsland möglich sei, erst nach Widerlegung der prima facie-Schlussfolgerung einer engeren Bindung zur Ukraine als zum Herkunftsland erfolgen. Der Anschein könne nur entkräftet werden, indem Tatsachen vorgetragen würden, nach denen der Betroffene keine derart enge Bindung zur Ukraine aufgebaut habe. Vom Verwaltungsgericht seien dazu keine Tatsachen festgestellt worden. Die Verwurzelung des Klägers in der Ukraine könne jedoch nicht entkräftet werden. Er lebe bereits seit dem 17. Lebensjahr in der Ukraine und habe dort somit seine prägenden Jahre verbracht. Es habe eine Distanzierung zur irakischen Kultur, die er nur aus seiner Kindheit kenne, stattgefunden. Zwar sei er in den Jahren 2010, 2011 und 2013 in den Irak gereist, diese Reisen seien jedoch bereits mehr als zehn Jahre her und er habe seitdem auch keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Er sei seit 2013 Eigentümer eines Hauses in I., O. C., das von Raketen zerstört worden sei. Er habe dazu nicht übersetzte Überweisungen für Strom- und Gaskosten jeweils für Dezember 2021 vorgelegt. Das Gericht habe auch nicht berücksichtigt, dass er eine Freundin in der Ukraine habe.
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Damit wird die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedoch nicht im oben dargelegten Sinn ernstlich in Zweifel gezogen.
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Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, hier also der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. stRspr des BVerwG, z.B. U.v. 17.12.2015 – 1 C 31.14 – juris Rn. 9; U.v. 26.5.2020 – 1 C 12.19 – juris Rn. 20).
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Das Verwaltungsgericht ist von einer tiefgreifenden Bindung des Klägers zur Ukraine ausgegangen, sah aber keine Gründe dafür, dass er nicht in den Irak zurückkehren könne. Es sah die „Schlussfolgerung“ im Sinne des BMI-Rundschreibens als widerlegt an, da die Möglichkeit der sicheren und dauerhaften Rückkehr des Klägers durch die allgemeine Auskunftslage bestätigt und auch nicht durch den konkreten Vortrag im Einzelfall in Zweifel gezogen werde. Mit den diesbezüglichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts (UA Rn. 45 bis 47) setzt sich der Kläger nicht substantiiert auseinander und wiederholt insoweit lediglich den Vortrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren.
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Unabhängig davon ist die Bewertung des Verwaltungsgerichts, es liege eine tiefgreifende Bindung des Klägers zur Ukraine vor, zweifelhaft. Erst recht hat er keine (aktuellen) Nachweise für eine stärkere Verwurzelung in der Ukraine als im Irak vorgelegt. Die Studienbescheinigungen aus der Ukraine datieren aus den Jahren 2014 und 2018. Der vorgelegte, abgelaufene irakische Reisepass mit mehreren Ein- und Ausreisestempeln bezüglich des Iraks aus den Jahren 2010, 2011 und 2013 sowie einem Stempel ukrainischer Behörden über die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis war bis 2018 gültig, der neu ausgestellte Reisepass wurde am 5. Februar 2023 in Bagdad ausgestellt. Nachweise über sein von Raketen zerstörtes Haus in I. liegen ebenfalls nicht vor. Soweit der Kläger zwei Überweisungen für Strom- und Gaskosten jeweils für Dezember 2021 vorgelegt hat, sind diese zum einen nicht übersetzt und zum anderen von einer Frau L. bezahlt worden, ohne dass dargelegt wird, wer diese Frau ist und wieso sie die Rechnungen für den Kläger beglichen hat. Soweit der Kläger behauptet, dass er eine Freundin in der Ukraine habe, wird nicht dargelegt, wer diese Freundin ist und ob und wieso sie (noch) in der Ukraine lebt. Dagegen sind die Behauptungen, er sei vom Irak entwurzelt, da er die irakische Kultur nur aus seiner Kindheit kenne, in Anbetracht dessen, dass er bei der Ausreise aus dem Irak bereits circa 17 Jahre alt war und ungefähr die Hälfte seines Lebens im Irak verbracht hat, nicht nachvollziehbar. Im Hinblick auf die Reisen des Klägers in den Irak in den Jahren 2010, 2011 und 2013 verfängt auch die Argumentation, dass eine Distanzierung zur irakischen Kultur stattgefunden habe, ohne weitere Darlegungen nicht.
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b) Selbst, wenn man davon ausgehen wollte, dass die prima facie-Schlussfolgerung einer engeren Bindung zur Ukraine als zum Herkunftsland vorliegend nicht widerlegt wäre, ist das Urteil des Verwaltungsgerichts jedenfalls im Ergebnis richtig. Unabdingbare Voraussetzung für die Gewährung vorübergehenden Schutzes für Drittstaatsangehörige mit unbefristetem Aufenthaltsrecht in der Ukraine gemäß Art. 2 Abs. 2 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 ist, dass der betreffende Drittstaatsangehörige nicht in der Lage ist, sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland oder seine Herkunftsregion zurückzukehren. Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, wonach dem Kläger eine solche Rückkehr in den Irak möglich sei, hat dieser wie vorstehend erläutert nicht substantiiert in Frage gestellt.
12
aa) Zwar ist in den Hinweisen des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) vom 14. April 2022/ 5. September 2022 davon die Rede, dass bei Personen, die sich mit einem nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, prima facie von einer maßgeblichen Verbindung in der Ukraine und damit (ohne weiteres) davon auszugehen sei, dass sie nicht in der Lage seien, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil eine engere Bindung zur Ukraine bestehe als zum Herkunftsstaat. Nur dann, wenn diese prima facie-Schlussfolgerung widerlegt wurde, soll die Prüfung einer Rückkehrmöglichkeit im Einzelfall erforderlich sein. Diese Hinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat sind jedoch nicht bindend.
13
Bei den BMI-Hinweisen handelt es sich um bloße Anwendungshinweise, die weder für die Ausländerbehörde noch für das Gericht Bindungswirkung entfalten. Die seit Ausbruch des Ukraine-Krieges ergangenen Hinweisschreiben des BMI, zuletzt am 30. Mai 2024, sind keine die Länder bindenden Allgemeinen Verwaltungsvorschriften im Sinne des Art. 84 Abs. 2 GG. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil die erforderliche Zustimmung des Bundesrats nicht vorliegt (VGH BW, B.v. 26.10.2022 – 11 S 1467/22 – juris Rn. 22; Klaus Nr. 2.3 in ZAR 2023, 162, 164; offengelassen OVG Bautzen, B.v. 1.8.2024 – 3 B 81/24 – juris; OVG Hamburg, B.v. 25.3.2024 – 6 Bs 119/23 – juris Rn. 35; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 23.3.2023 – 11 S 8/23 – juris Rn. 8). Bei Anwendungshinweisen handelt es sich um die Bekanntgabe rechtlich nicht bindender Vorstellungen der Bundesregierung in Bezug auf den Regelungsgehalt von Normen sowie um unverbindliche Vorschläge zum Normvollzug, insbesondere zur Betätigung des Ermessens. In der Praxis entsprechen die Anwendungshinweise nicht selten Teilen der Begründung des Gesetzesentwurfs und teilen insoweit dessen begrenzte Steuerungswirkung (Kluth in ZAR 2024, 183 <185>). Das BMI weist in seinen aktuellen Hinweisen vom 30. Mai 2024 (nunmehr erstmals) sogar ausdrücklich darauf hin, dass die Hinweise die Rechtsauffassung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat wiedergeben und keine bindenden Allgemeinen Verwaltungsvorschriften im Sinne des Art. 84 Abs. 2 GG sind.
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bb) Somit ist für die Auslegung von § 24 AufenthG (allein) auf Unionsrecht zurückzugreifen. Nach § 24 Abs. 1 AufenthG wird einem Ausländer, dem auf Grund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der RL 2001/55/EG (Massenzustromrichtlinie) vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Einen solchen Beschluss auf der Grundlage des Artikels 5 der RL 2001/55/EG hat der Rat mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 vom 4. März 2022 erlassen und mit Art. 1 des Durchführungsbeschlusses das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine festgestellt. Nach Art. 2 Abs. 2 dieses Durchführungsbeschlusses erhalten (neben Personen, die nach – dem hier nicht einschlägigen – Art. 2 Abs. 1 des Durchführungsbeschlusses vorübergehend schutzberechtigt sind) nur Staatenlose oder Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine verbindlich vorübergehenden Schutz, die nachweisen können, dass sie sich vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben und die nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren.
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Die Ausführungen in Nr. 2 der (nicht bindenden) Anwendungshinweise des BMI (Stand 30.5.2024), wonach bei Vorliegen eines unbefristeten Aufenthaltstitels prima facie davon auszugehen sei, dass eine Rückkehr in das Herkunftsland nicht möglich sei, können nicht zur Auslegung des Durchführungsbeschlusses des Rates herangezogen werden, soweit dadurch der schutzberechtigte Personenkreis über die Regelungen des Durchführungsbeschlusses hinaus erweitert werden würde. Denn nach Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses müssen für eine Schutzgewährung beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Bei Anwendung der Hinweise des BMI würde bei Bejahung der prima facie-Schlussfolgerung einer engeren Bindung zur Ukraine die zweite Voraussetzung der sicheren und dauerhaften Rückkehrmöglichkeit nicht mehr geprüft werden. Der Geltungsbereich des § 24 Abs. 1 AufenthG, der Art. 5 der RL 2001/55/EG (i.V.m. dem Durchführungsbeschluss) lediglich in nationales Recht umsetzt, umfasst jedoch nur solche Personen, denen auf der Grundlage des Art. 5 der RL 2001/55/EG durch Ratsbeschluss verbindlich vorübergehender Schutz gewährt worden ist. Durch administrative Hinweise kann der schutzberechtigte Personenkreis nicht erweitert werden (OVG NRW, B.v. 29.6.2023 – 18 B 285/23 – Rn. 46 ff.; HessVGH, B.v. 13.5.2024 – 3 B 791/23 – juris Rn. 13, 27; VGH BW 18.6.2024 – 11 S 1425/23 – juris).
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cc) Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger entsprechend seiner Verpflichtung nach Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (vgl. zur Nachweispflicht SächsOVG, B.v. 1.8.2024 – 3 B 81/24 – juris Rn. 21) tatsächlich nachgewiesen hat, dass er sich – wie vom Verwaltungsgericht als wahr unterstellt – vor dem 24. Februar 2022 mit einem gültigen unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine aufgehalten hat. Er hat dazu lediglich eine Kopie der ersten Seite des Aufenthaltstitels und ansonsten keinerlei Nachweise für einen tatsächlichen Aufenthalt unmittelbar vor Kriegsbeginn vorgelegt. Das Verwaltungsgericht hat jedenfalls zutreffend festgestellt, dass die zweite Voraussetzung für eine Schutzgewährung nicht vorliegt, da es dem Kläger möglich ist, sicher und dauerhaft in den Irak zurückzukehren.
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Es hat bei der Prüfung dieser Frage den anzulegenden Maßstab (sui generis-Prüfung unter Heranziehung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG; vgl. Mitteilung der Europäischen Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382, ABl. C 126 I/4 zur Bewertung der Frage der Rückkehrmöglichkeit im Lichte von Art. 2 Buchst. c und Art. 6 Abs. 2 der RL 2001/55/EG; BayVGH, B.v. 30.1.2023 – 10 ZB 23.19 – juris Rn. 5; OVG Hamburg, B.v. 25.3.2024 – 6 Bs 119/23 – juris Rn. 31) nicht verkannt und seine Beurteilung zu Recht auf die in den aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes geschilderte allgemeine Lage im Herkunftsland Irak gestützt.
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c) Entgegen dem Vorbringen im Zulassungsverfahren liegt auch kein Verstoß gegen Verfassungsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG), gegen Unionsrecht (Art. 7 GRCh) oder gegen Völkerrecht (Art. 8 Abs. 1 EMRK) vor, weil das Privatleben des Klägers in der Ukraine geschützt sei und aufgrund der Verwurzelung in der Ukraine und der Entwurzelung im Irak eine Rückkehr in den Irak eine unzumutbare Härte darstelle. Die Entwurzelung müsse in die Abwägung bzw. in die verfassungs- und unionsrechtskonforme Auslegung der Tatbestandsmerkmale Einfluss haben. Die Geltendmachung der vorgenannten subjektiven Rechte wegen derartiger Lebensumstände sind Gegenstand der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (z.B. U.v. 8.12.2011 – C-371/08 – juris: Ausweisung eines in Deutschland geborenen ARB-berechtigten Türken), des Bundesverfassungsgerichts (z.B. B.v. 21.2.2011 – 2 BvR 1392/10 – juris Rn. 20, 21: im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener 18-jähriger Türke; Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis; B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20: Ausweisung eines straffälligen faktischen Inländers) und des Bundesverwaltungsgerichts (z.B. U.v. 16.12.2021 – 1 C 60.20 – juris: Verlustfeststellung). Der Kläger legt bereits nicht hinreichend dar, inwieweit die von ihm genannten rechtlichen Maßstäbe auf das vorliegende Verfahren, bei dem es um den vorübergehenden Schutz für einen aus einem Kriegsgebiet vertriebenen Drittstaatsangehörigen geht, zu übertragen sein könnten. Er verfügt über keinen im Bundesgebiet verfestigten Aufenthalt, wie er in den einschlägigen Gerichtsentscheidungen berücksichtigt wurde. Das vorliegende Verfahren betrifft zudem weder die Beendigung eines Aufenthalts oder einen Eingriff des Beklagten in ein bestehendes Aufenthaltsrecht des Klägers noch ist dieser in der Bundesrepublik Deutschland als faktischer Inländer anzusehen.
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Die Frage kann jedenfalls offenbleiben, denn es ist nicht substantiiert dargelegt, dass das Verwaltungsgericht Nachteile für den Kläger bei einer Rückkehr in den Irak nicht angemessen berücksichtigt hätte und zu einer anderen Gesamtbewertung der Lebensumstände des Klägers hätte kommen müssen. Das Verwaltungsgericht ist von einer tiefgreifenden Bindung zur Ukraine ausgegangen und hat sowohl die in der Ukraine verbrachte Zeit des Klägers als auch den Bezug zu seinem Herkunftsland berücksichtigt (vgl. oben). Darauf, dass der Kläger trotz des seit längerem nicht mehr bestehenden Kontakts bei seinen noch im Irak lebenden Eltern einen ersten Anlaufpunkt haben werde, hat das Gericht jedenfalls nicht tragend abgestellt („Davon abgesehen …“, UA Rn. 47). Der Kläger ist weder in der Ukraine geboren noch hat er seine Kindheit dort verbracht, sondern ist erst mit 17 Jahren in die Ukraine eingereist und hat somit die prägenden Jahre seines Lebens – ungefähr die Hälfte seines bisherigen Lebens – im Irak verbracht und sich dort auch noch mehrmals besuchsweise – wenn auch zuletzt vor 10 Jahren – aufgehalten. Davon, dass der Kläger der irakischen Sprache mächtig ist, geht der Senat aus, auch wenn er daneben noch Russisch und Englisch sprechen kann. Die Behauptung des Klägers, eine Abschiebung in den Irak hätte schwere Folgen für sein Privatleben, bleibt unsubstantiiert. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass dem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Kläger die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums aufgrund seiner hohen Schulbildung, eines abgeschlossenen Medizinstudiums und seiner langjährigen Erfahrung als Herzchirurg im Irak mit großen Bedarf an medizinischem Personal möglich sein wird. Inwieweit ihm „die Wiedereingliederung in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats“ und eine dauerhafte Rückkehr aufgrund einer Entwurzelung nicht möglich sein sollen, erschließt sich demnach nicht. Es ist insoweit auch nicht dargelegt, dass der Kläger „individuelle Anscheinsbeweise“ dafür, dass er nicht sicher und dauerhaft in den Irak zurückkehren könnte, entsprechend den operativen Leitlinien der Kommission erbracht hat (zu den hohen Anforderungen dazu OVG Hamburg, B.v. 25.3.2024 – 6 Bs 119/23 – juris Rn. 31, 32).
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d) Auch der Einwand des Klägers, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, da der Kläger in der Ukraine verwurzelt und somit faktischer Ukrainer sei und deshalb mit ukrainischen Staatsangehörigen gleichbehandelt werden müsse, greift nicht durch. Dass bei ukrainischen Staatsangehörigen eine sichere und dauerhafte Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht geprüft wird, liegt auf der Hand. Im Übrigen wurde nicht substantiiert dargelegt, dass der Kläger aufgrund seiner Verwurzelung in die Ukraine als „faktischer Ukrainer“ ukrainischen Staatsangehörigen gleichgestellt werden müsste (vgl. oben). Es liegt vielmehr ein anderer Lebenssachverhalt vor. Zwar trifft es zu, dass seine Staatsangehörigkeit nicht zur freien Disposition des Klägers steht (BVerfG, B.v. 7.2.2012 – 1 BvL 14/07 – juris Rn. 42,45). Differenzierungsmerkmal für die unterschiedliche Sachbehandlung ist jedoch vorliegend der Umstand, dass vorübergehender Schutz dem Personenkreis nicht gewährt werden soll, der in der Lage ist, sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland zurückzukehren.
21
e) Auf weitere Anspruchsgrundlagen hat sich der Kläger in seinem Zulassungsvorbringen nicht berufen. Solche sind auch nicht ersichtlich. So scheidet insbesondere ein vorübergehender Schutz nach Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses, der für die Mitgliedstaaten keine verbindliche Wirkung entfaltet (OVG NRW, B.v. 29.6.2023 – 18 B 285/23 – juris Rn. 35), auf der Grundlage von Art. 7 der RL 2001/55/EG aus. Danach können Mitgliedstaaten als nationale Entscheidung Staatsangehörigen anderer Drittländer, die sich (ohne unbefristeten Aufenthaltstitel) rechtmäßig in der Ukraine aufhielten und nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können, vorübergehenden Schutz gewähren. Auch insoweit mangelt es an der substantiierten Darlegung, dass der Kläger nicht sicher und dauerhaft in den Irak zurückkehren kann. Unabhängig davon hat das Bundesministerium des Innern und für Heimat (Nr. 4 der Hinweise vom 30.5.2024) nun entschieden, nur denjenigen Personen Einreise und Aufenthalt zu erleichtern, denen europarechtlich zwingend vorübergehender oder anderweitiger nationaler Schutz zu gewähren ist. In der Konsequenz wird auch das nach Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses den Mitgliedstaaten eingeräumte Ermessen vom Bundesinnenministerium dahingehend ausgeübt, dass nun Staatenlose und nicht-ukrainische Drittstaatsangehörige ohne Schutzstatus bzw. nachgewiesenes unbefristetes Aufenthaltsrecht in der Ukraine materiell keinen vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG mehr erhalten sollen (VGH BW, B.v. 18.6.2024 – 11 S 1425/23 – juris Rn. 17).
22
2. Auch besondere rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor.
23
Solche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 15; B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 17 m.w.N.). Die tatsächliche oder rechtliche Frage, die solche Schwierigkeiten aufwirft, muss dabei entscheidungserheblich sein (Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.10.2024, § 124 Rn. 43 m.w.N.). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
24
Soweit der Kläger darauf hinweist, dass Oberverwaltungsgerichte zum Umgang mit der prima facie-Schlussfolgerung gemäß der BMI-Hinweise unter Verweis auf die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg (B.v. 23.3.2023 – 11 S 8/23 – juris Rn. 8) und auf die Entscheidung des OVG Hamburg (B.v. 25.3.2024 – 6 Bs 119/23 – juris Rn. 39) abweichende Meinungen vertreten würden, ist diese Frage bereits nicht entscheidungserheblich, nachdem die BMI-Hinweise nicht bindend sind (siehe oben unter 1. b) aa)) und die Frage somit nicht entscheidungserheblich ist. Der Kläger meint zwar, auch unter der Annahme, die BMI-Hinweise hätten keine Bindungswirkung, müssten eine Verwurzelung in der Ukraine, eine damit verbundene Entwurzelung im Irak und die sich daraus ergebende unzumutbare Härte im Falle einer Rückkehr in den Irak gemäß der von ihm zitierten Rechtsprechung berücksichtigt werden. Der Kläger hat jedoch nicht substantiiert dargelegt, dass diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall anwendbar sein könnte (siehe oben unter 1. c)). Auch insoweit ergeben sich keine besonderen Schwierigkeiten im vorgenannten Sinne.
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3. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.
26
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint.
27
Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf seine Ausführungen zur besonderen rechtlichen Schwierigkeit geltend macht, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, weil sie zur Rechtseinheit der Klärung bedürfe, liegt diese Zulassungsgrund bereits nicht vor, weil die Frage nicht entscheidungserheblich ist (s. Nr. 2).
28
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).