Inhalt

VGH München, Beschluss v. 08.11.2024 – 19 ZB 24.737
Titel:

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Sechsjahresfrist nach Art. 9 Abs. 4 UAbs. 2 Daueraufenthalts-RL - Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils

Normenketten:
AufenthG § 38a
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
RL 2003/109/EG Art. 9 Abs. 4 UAbs. 2
Daueraufenthalts-RL Art. 9 Abs. 4 UAbs. 2
Leitsatz:
Maßgeblich für die Sechsjahresfrist nach Art. 9 Abs. 4 UAbs. 2 Daueraufenthalts-RL ist der Zeitpunkt der Antragstellung (des Verlängerungsantrags). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis für in anderem Mitgliedstaat langfristig Aufenthaltsberechtigte, Verlust der Rechtsstellung im anderen Mitgliedstaat, Sechsjahresfrist, Aufenthaltsberechtigung-EU, Verlängerung, Aufenthaltserlaubnis, langfristig Aufenthaltsberechtigter, ernstliche Zweifel, Verlust der Rechtsstellung in einem anderen Mitgliedstaat
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 28.02.2024 – AN 11 K 22.2448
Fundstelle:
BeckRS 2024, 33440

Tenor

I. Die Berufung wird zugelassen, da ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils bestehen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
II. Der Streitwert wird vorläufig auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Kläger, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, der im Besitz einer von der Hellenischen Republik am 29. Juli 2015 mit Wirkung vom 21. Juli 2015 ausgestellten, bis 20. Juli 2020 gültigen Aufenthaltsberechtigung-EU für langfristig Aufenthaltsberechtigte war, begehrt die Verlängerung der ihm erstmals am 30. April 2018 erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG beziehungsweise die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf anderer Rechtsgrundlage (§§ 9a, 19c Abs. 3 AufenthG).
2
Mit Bescheid vom 16. November 2022 hat die Beklagte die Erteilung beziehungsweise Verlängerung eines Aufenthaltstitels abgelehnt (Ziffer 1 des Bescheides), den Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet bis spätestens 14. Dezember 2022 zu verlassen (Ziffer 2), für den Fall der Nichterfüllung der Ausreisepflicht die Abschiebung insbesondere nach Bangladesch angedroht (Ziffer 3) und für den Fall der Abschiebung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, welches auf die Dauer von drei Jahren ab der Abschiebung befristet wurde (Ziffer 5).
3
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 28. Februar 2024 abgewiesen. Der Kläger falle nicht mehr in den Anwendungsbereich des § 38a AufenthG, da er nach der Mitteilung der Nationalen Kontaktstelle vom 30. Dezember 2021 (richtig: 9. März 2022) keine Erlaubnis als langfristig Aufenthaltsberechtigter innehabe. Des Weiteren lägen die speziellen Tatbestandsvoraussetzungen des § 9a AufenthG, insbesondere die nach § 9a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erforderlichen Sprachkenntnisse, nicht vor.
4
Hiergegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung.
5
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
6
Die Berufung ist wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
7
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn im Zulassungsverfahren ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt worden wäre (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Diese Voraussetzungen liegen hier vor:
8
1. Die Rüge des Klägers, die Beklagte habe seinen Antrag auf Verlängerung der am 30. April 2018 erstmals erteilten und fortlaufend bis 31. Dezember 2021 verlängerten Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG nicht ablehnen dürfen, weil seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in Griechenland im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Antragstellung auf Verlängerung am 13. Dezember 2021 noch nicht erloschen sei, greift durch.
9
Gemäß Art. 9 Abs. 4 UAbs. 2 der RL 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl EU Nr. L 016, S. 44, Daueraufenthalts-RL) verliert die betreffende Person, die sich sechs Jahre lang nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, der ihr die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten. Wie der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 29. Juni 2023 (verbundene Rechtssachen C-829/21 und C-129/22) entschieden hat, ist für die Voraussetzung, dass die Sechsjahresfrist nach Art. 9 Abs. 4 UAbs. 2 Daueraufenthalts-RL noch nicht abgelaufen ist, der Zeitpunkt der Antragstellung (des Verlängerungsantrags) maßgeblich (EuGH, U.v. 29.6.2023 – C-829/21 u. C-129/22 – juris Rn. 51 ff.). Der am 7. Oktober 2016 erstmals in das Bundesgebiet eingereiste Kläger hat sich im Zeitpunkt der Antragstellung am 13. Dezember 2021 noch nicht sechs Jahre lang nicht mehr in Griechenland aufgehalten. Andere Verlustgründe gemäß Art. 9 Daueraufenthalts-RL sind nicht ersichtlich. Der Ablauf des in Griechenland am 29. Juli 2015 mit Wirkung vom 21. Juli 2015 ausgestellten, bis 20. Juli 2020 gültigen Aufenthaltstitels (Bl. 48/179 der Behördenakte) steht dem voraussichtlich nicht entgegen, da die Daueraufenthalts-Richtlinie insoweit zwischen der Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten und dem Aufenthaltstitel, der dem Nachweis dieser Rechtsstellung dient, unterscheidet (vgl. Art. 9 Abs. 6 Daueraufenthalts-RL und dazu EuGH a.a.O., Rn. 58, der den deklaratorischen Charakter der Aufenthaltsberechtigung-EU betont). Aus der Mitteilung der Nationalen Kontaktstelle vom 9. März 2022 geht aber nur hervor, dass der Kläger nicht (mehr) im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung-EU ist.
10
Zwar kann die zuständige mitgliedstaatliche Behörde, wenn die Sechsjahresfrist während des Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens abgelaufen ist, eine neue Entscheidung treffen, mit der in Anwendung des Art. 22 Daueraufenthalts-RL die Verlängerung des Aufenthaltstitels versagt oder dieser entzogen wird (EuGH, U.v. 29.6.2023 – C-829/21 u. C-129/22 – juris Rn. 54). Insbesondere in Anbetracht des maßgeblichen Zeitpunktes der Antragstellung für das Innehaben der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im anderen Mitgliedstaat im Sinne des § 38a Abs. 1 AufenthG spricht aber Vieles dafür, dass einer nachträglichen Änderung der Sachlage insoweit nur in einem neuen, auf den Entzug der Aufenthaltserlaubnis gerichteten Verwaltungsverfahren Rechnung getragen werden kann (vgl. OVG Hamburg, U.v. 28.8.2024 – 6 Bs 66/24 – juris Rn. 14; zur Unionsrechtskonformität von § 52 Abs. 6 AufenthG: EuGH a.a.O., Rn. 77 ff.). Hierbei werden auch die vom Europäischen Gerichtshof geforderten Prüfungsschritte zu beachten sein (vgl. EuGH, U.v. 29.6.2023 – C-829/21 u. C-129/22 – juris Rn. 65 ff.).
11
2. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die angefochtene Entscheidung aus anderen Gründen im Ergebnis richtig sein könnte (§ 144 Abs. 4 VwGO analog). Bislang hat die Ausländerbehörde der Beklagten eine Prüfung der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 4 AufenthG nicht vorgenommen, obwohl der Kläger unter dem 13. Februar 2024 entsprechende Nachweise (unter anderem einen Arbeitsvertrag, eine Arbeitsbescheinigung, drei Gehaltsabrechnungen von November 2023 bis Januar 2024 sowie eine Kopie seines Reisepasses) bei der Antragsgegnerin vorgelegt hat.