Inhalt

VerfGH München, Entscheidung v. 21.11.2024 – Vf. 1-VII-23
Titel:

Popularklage gegen Änderung eines Bebauungsplans

Normenketten:
BV Art. 98 S. 4
VfGHG Art. 55 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
Zur Unzulässigkeit einer Popularklage gegen einen Bebauungsplan unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung. (Rn. 24)
1. Ein Bebauungsplan, der von einer Gemeinde als Satzung beschlossen ist, kann sowohl insgesamt als auch hinsichtlich einzelner Festsetzungen Gegenstand einer Popularklage sein. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Erhebung der Popularklage ist nicht an eine Frist gebunden. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Nach den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes kann aber die Antragsbefugnis für eine Popularklage durch Verwirkung erlöschen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Popularklage, Bebauungsplan, Klagefrist, Verwirkung
Fundstellen:
BayVBl 2025, 156
LSK 2024, 32795
BeckRS 2024, 32795

Tenor

Der Antrag wird abgewiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Popularklage betrifft die Frage, ob die „1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 ‚P.-weg‘“ der Gemeinde O. (im Folgenden: Änderungsbebauungsplan) vom 6. Juli 2006 gegen Normen der Bayerischen Verfassung verstößt.
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1. Der im Jahr 1998 aufgestellte und im Jahr 1999 in Kraft getretene Bebauungsplan mit integriertem Grünordnungsplan Nr. 30 „P.-weg“ (im Folgenden: Bebauungsplan) weist ca. 700 m östlich vom Ortskern O. südlich der K1.-straße und westlich der Bahnlinie M.-H. ein Gewerbegebiet aus, in dem zum Schutz benachbarter Wohngebiete und vorhandener Betriebswohnungen nur Betriebe und Anlagen zulässig sind, deren flächenhaftes immissionswirksames Immissionsverhalten einen flächenbezogenen Schallleistungspegel (im Folgenden: IFS-Pegel) von 60 dB(A) pro Quadratmeter am Tag und 45 dB(A) pro Quadratmeter nachts (22:00 Uhr bis 7:00 Uhr) nicht überschreitet (Nr. 7.1 der textlichen Festsetzungen). Im Geltungsbereich dieses Bebauungsplans befand sich auf dem Grundstück FlNr. 1... ein Autowrack- und Schrottplatz der Firma P.
3
Bereits am 29. September 1998 fasste der Gemeinderat aufgrund von Anregungen und Bedenken insbesondere des Antragstellers zu 1 den Beschluss, den IFSPegel nachts im Gewerbegebiet auf 50 dB(A) pro Quadratmeter festzusetzen; dies wurde im Bebauungsplan nicht mehr umgesetzt.
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2. In seiner Sitzung vom 18. September 2001 beschloss der Gemeinderat der Gemeinde O. gemäß § 2 Abs. 1 BauGB die Änderung des Bebauungsplans. Der Änderungsbeschluss wurde am 23. Dezember „2002“ (so die Verfahrensvermerke auf der Planurkunde im Verfahrensakt III) bzw. am 2. Januar 2002 (so der amtliche Vermerk über den Anschlag an die Amtstafeln auf der vom ersten Bürgermeister am 20. Dezember 2001 unterschriebenen Bekanntmachung über die Absicht, einen Bebauungsplan zu ändern, im Verfahrensakt I) ortsüblich bekannt gemacht. Die vorgezogene Bürgerbeteiligung fand in der Zeit vom 24. Februar bis 21. März 2005 statt. Die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange wurde in der Zeit vom 21. Februar bis 31. März 2005 durchgeführt. Der Entwurf der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 wurde mit Begründung in der Zeit vom 13. April bis 16. Mai 2006 öffentlich ausgelegt. Die Auslegung wurde am 4. April 2006 ortsüblich bekannt gemacht. Eine erneute Auslegung fand in der Zeit vom 13. bis 27. Juni 2006 statt. Die erneute öffentliche Auslegung wurde am 1. Juni 2006 ortsüblich bekannt gemacht. In seiner Sitzung vom 6. Juli 2006 beschloss der Gemeinderat die Bebauungsplanänderung in der Fassung vom 6. Juli 2006 als Satzung. Der Satzungsbeschluss wurde nach den Verfahrensvermerken auf der Planurkunde (im Verfahrensakt III) am 19. Juli 2006 vom ersten Bürgermeister ausgefertigt und am 18. Juli 2006 durch Aushang an die gemeindlichen Amtstafeln bekannt gemacht. Auf dem Deckblatt dieser Planurkunde befindet sich zudem ein vom ersten Bürgermeister unterschriebener Ausfertigungsvermerk mit Datum 17. Juli 2006. Weiter befindet sich in den Planaufstellungsakten (ebenfalls im Verfahrensakt III) eine am 18. Juli 2006 vom ersten Bürgermeister unterschriebene Bekanntmachung für die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 „P.-weg“ mit dem amtlichen Vermerk, diese Bekanntmachung sei am 19. Juli 2006 an die Amtstafeln angeheftet worden und der Bebauungsplan somit am 19. Juli 2006 in Kraft getreten.
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Das Plangebiet des Änderungsbebauungsplans erfasst nur den nördlichen Teil des bisherigen Bebauungsplangebiets (insbesondere das Grundstück FlNr. 1...) und setzt dort anstelle eines Gewerbegebiets ein allgemeines Wohngebiet fest. Zusätzlich wurde das unmittelbar südlich der K1.-straße liegende Grundstück FlNr. 1... mit einbezogen, das als Fläche für die Landwirtschaft festgesetzt ist, mit Ausnahme eines kleinen Teils im Westen, für den ebenfalls ein allgemeines Wohngebiet festgesetzt ist. Im Zuge des Änderungsbebauungsplans wurde der Flächennutzungsplan der Gemeinde O. im Parallelverfahren gemäß § 8 Abs. 3 BauGB entsprechend geändert.
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3. Am 14. April 2020 hat die Gemeinde O. die „2. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 ‚P.-weg‘“ als Satzung beschlossen, die am 22. April 2020 ortsüblich bekannt gemacht wurde. Diese Änderung betrifft allein die textlichen Festsetzungen des ursprünglichen Bebauungsplans Nr. 30 aus dem Jahr 1998 bezüglich des an das Gebiet des vorliegend streitigen Änderungsbebauungsplans südlich angrenzenden Gewerbegebiets (Unzulässigkeit von Betrieben mit bestimmten Nutzungsarten).
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4. In der Gemeinderatssitzung vom 14. April 2020 hat der Gemeinderat der Gemeinde O. im Rahmen der beabsichtigten 3. Änderung des Bebauungsplans auch beschlossen, die Nr. 7.1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß dem am 29. September 1998 gefassten Beschluss zu ändern und zusätzlich den IFS-Pegel von 60 dB(A) auf 65 dB(A) pro Quadratmeter tags im Gewerbegebiet zu erhöhen. In seiner Sitzung vom 21. Juli 2020 hat der Gemeinderat die Beschlüsse vom 29. September 1998 und 14. April 2020 zur Festsetzung des IFS- Pegels auf 50 dB(A) pro Quadratmeter nachts mit der Begründung aufgehoben, dass die Anhebung des IFS-Pegels durch den streitgegenständlichen Änderungsbebauungsplan und die damit verbundenen Festsetzungen von Baugrenzen überholt und rechtswidrig sei.
II.
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1. Die Antragsteller sind nach ihren Angaben frühere oder derzeitige Inhaber von Gewerbebetrieben im südlich an das Plangebiet des Änderungsbebauungsplans angrenzenden Gebiet. Mit der am 4. April 2023 eingegangenen Popularklage, die zuletzt mit Schriftsatz vom 17. September 2024 ergänzend begründet wurde, beantragen sie, den Änderungsbebauungsplan wegen eines Verstoßes gegen Art. 118 Abs. 1 BV für nichtig zu erklären.
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In tatsächlicher Hinsicht tragen die Antragsteller im Wesentlichen vor, die durch den Änderungsbebauungsplan als allgemeines Wohngebiet ausgewiesenen Grundstücke seien fast ausschließlich durch den damaligen Eigentümer P. als Autowrack- und Schrottplatz genutzt worden; der im westlichen Bereich des Grundstücks FlNr. 1... als Wohnbaugebiet ausgewiesene kleine Grundstücksteil sei vom damaligen Eigentümer landwirtschaftlich genutzt worden. Der ursprüngliche Eigentümer P. habe sein Grundstück FlNr. 1... nach der im Jahr 2006 erfolgten Umwandlung in Bauland veräußert und bis einschließlich 2019 zurückgepachtet, der Schrottbetrieb sei im Jahr 2018 aufgegeben worden. Seitdem liege das Grundstück brach. Im Jahr 2019 habe das Grundstück ein Bauträger erworben, eine Bebauung sei bisher nicht erfolgt.
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Mit Beschluss vom 14. April 2020 habe der Gemeinderat der Gemeinde O. die – noch nicht in Kraft getretene – 3. Änderung des Bebauungsplans beschlossen und am 21. März 2023 den entsprechenden Billigungsbeschluss gefasst, wobei die Planung durch den Bauträger, mit dem die Gemeinde städtebauliche Verträge geschlossen habe, zwischenzeitlich mehrmals abgeändert und die Bebauung im allgemeinen Wohngebiet immer weiter verdichtet worden sei. Schon im Rahmen der 2. Änderung des Bebauungsplans sei geplant gewesen, den bereits am 29. September 1998 gefassten Beschluss über die Erhöhung des IFS-Pegels von 45 dB(A) auf 50 dB(A) pro Quadratmeter nachts im Gewerbegebiet zu vollziehen, wobei in der Gemeinderatssitzung vom 14. April 2020 zusätzlich auch die Erhöhung des IFS-Pegels von 60 dB(A) auf 65 dB(A) pro Quadratmeter tags im Gewerbegebiet beschlossen worden sei. Dies sei jedoch nicht mit der Ergänzung der textlichen Festsetzungen durch die 2. Änderung des Bebauungsplans umgesetzt worden, wozu eine Begründung fehle. In der Sitzung vom 21. Juli 2020 habe der Gemeinderat den Gemeinderatsbeschluss vom 14. April 2020 zur Festsetzung des IFS-Pegels nachts auf 50 dB(A) pro Quadratmeter schließlich aufgehoben und den entsprechenden Gemeinderatsbeschluss am 22. Juli 2020 ortsüblich bekannt gemacht.
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In rechtlicher Hinsicht tragen die Antragsteller vor, die Popularklage sei zulässig, insbesondere sei das Recht, diese zu erheben, nicht verwirkt. Die Begründung des Änderungsbebauungsplans sei dem Bevollmächtigten der Antragsteller erst bei seiner letzten Akteneinsicht vom 2. Februar 2023 im Rahmen der 3. Änderung des Bebauungsplans bekannt geworden; bei vorherigen Akteneinsichten habe diese sich nicht in den vorgelegten Akten befunden und sei auch nicht im Internet auffindbar gewesen. Aus dieser ergebe sich, dass einziger Anlass und planerischer Leitgedanke für die Festsetzung eines allgemeinen Wohngebiets (anstelle eines Gewerbegebiets) gewesen sei, die Aufgabe des Schrottplatzes der Firma P. durch Schaffung des vom Betriebsinhaber gewünschten Baurechts zu erreichen, was die sachfremden Erwägungen der Gemeinde O. und die Willkürlichkeit der Bebauungsplanänderung aufzeige. Den Antragstellern sei diese Begründung auch nicht im Zuge des Verfahrens der streitgegenständlichen Bebauungsplanänderung bekannt geworden, da sie, obwohl sie als derzeitige bzw. frühere Gewerbetreibende am P.-weg betroffen seien, nicht förmlich von der Gemeinde beteiligt worden seien, um den „Deal“ mit der Firma P. nicht zu gefährden. Eine förmliche Beteiligung habe erst im Zuge des dritten Änderungsverfahrens stattgefunden. Insoweit liege kein Zeitmoment vor.
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Jedenfalls fehle es aber an einem Umstandsmoment, da der Gemeinde O. aufgrund deren willkürlichen Handelns eine Berufung auf Treu und Glauben nicht möglich sei. Sie habe die im Jahr 2006 beschlossenen Festsetzungen selbst immer wieder durch ihre Änderungsbeschlüsse von 2020 und 2023 zur Disposition gestellt und den bestehenden Gewerbebetrieben mithin keinerlei Rechtssicherheit ermöglicht. Auch der Bauträger als Eigentümer des betroffenen Grundstücks FlNr. 1... sei nicht schutzwürdig, da die Wohnbebauung bisher vollständig unterblieben sei und er bei der Gemeinde viele Änderungsanträge gestellt sowie dem Antragsteller zu 1 bei einem vollständigen Klageverzicht die Bezahlung von 60.000 € angeboten habe, was dieser abgelehnt habe. Dagegen hätten alle Antragsteller über die Jahre hinweg Bedenken gegen sämtliche Änderungen des Bebauungsplans gegenüber der Gemeinde und der Öffentlichkeit geäußert, insbesondere über die völlig willkürliche und rücksichtslose Unterlassung der Auseinandersetzung mit den Interessen der Gewerbebetriebe. Die Gemeinde habe durch Umplanungen versucht, die Antragsteller von der Klageerhebung abzuhalten, mit der sie gerechnet habe bzw. rechnen habe müssen. Insgesamt habe die Gemeinde die Antragsteller vertröstet, hingehalten und getäuscht, insbesondere durch die immer wieder in Aussicht gestellte Erhöhung der IFS-Pegel im Gewerbegebiet, was die Hoffnung der Antragsteller auf eine außergerichtliche Lösung der Konfliktsituation aufrechterhalten habe.
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Die Popularklage sei begründet. Der Änderungsbebauungsplan verstoße gegen das Willkürverbot des Art. 118 BV, da die Gemeinde O. offensichtlich und bewusst dem Grundsatz der Erforderlichkeit der Bauleitplanung für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB zuwidergehandelt und bei der ihr obliegenden Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB die Belange der umliegenden Gewerbegebiete in krasser Weise verkannt bzw. missachtet habe. Außerdem habe sie in offensichtlich fehlerhafter Weise gegen das Entwicklungsgebot des § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB verstoßen. Für die Ausweisung eines allgemeinen Wohngebiets gebe es nach der Begründung des Änderungsbebauungsplans kein Planungsziel, das den vor allem in § 1 BauGB niedergelegten Zwecken der Bauleitplanung gerecht werde. Weder das gemeindliche Interesse an der Entfernung eines bestimmten Gewerbebetriebs noch der Umstand, dass den Wünschen einzelner Gemeindebürger nachgekommen werden solle, seien tauglicher Zweck der Bauleitplanung und machten diese nicht erforderlich. Willkür liege auch darin, dass der Bebauungsplan entgegen § 8 Abs. 2 BauGB nicht aus dem zugrundeliegenden Flächennutzungsplan entwickelt worden sei, der dann letztlich allein zum Zweck der Neutralisierung des durch die Bebauungsplanänderung ausgelösten Widerspruchs geändert worden sei. Zudem lasse sich die Berücksichtigung der Interessen der umliegenden Gewerbebetriebe der Begründung des Änderungsbebauungsplans nicht entnehmen, was auf einen diesbezüglichen vollständigen Abwägungs- bzw. Ermessensausfall hinweise und willkürlich sei sowie dem Trennungsgebot des § 50 BImSchG nicht entspreche.
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Außerdem liege ein Verstoß des Änderungsbebauungsplans gegen den Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV vor, da nur hinsichtlich eines einzigen Grundstücks eines gewerbetreibenden Grundstückseigentümers innerhalb des Plangebiets des Bebauungsplans Wohnbauland ausgewiesen worden sei, sodass dieser ohne sachlichen Grund bevorteilt worden sei.
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2. Mit Schriftsatz vom 22. Juli 2024 beantragen die Antragsteller, den Änderungsbebauungsplan vorläufig außer Vollzug zu setzen, da aufgrund der Tatsache, dass es sich dabei um einen qualifizierten Bebauungsplan handle, die Wohnbebauung im Genehmigungsfreistellungsverfahren verwirklicht werden könne.
III.
16
1. Der Bayerische Landtag hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
17
2. Die Bayerische Staatsregierung hat von einer Äußerung abgesehen.
18
3. Die Gemeinde O. hält die Popularklage für unzulässig, jedenfalls für unbegründet.
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Die Popularklage sei unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung unzulässig. Seit der Möglichkeit der Erhebung der Popularklage sei ein sehr langer Zeitraum von 17 Jahren verstrichen, weshalb es keiner besonders gewichtigen Umstandsmomente mehr bedürfe, um eine Verwirkung anzunehmen; vielmehr reiche ein einfaches Untätigsein aus. Außerdem lägen Umstandsmomente vor, die auch unabhängig von der langen Dauer der Möglichkeit zur Erhebung der Popularklage zur Verwirkung der Klagerechte führten. Der Antragsteller zu 1 sei wiederholt auf die Gemeinde zugekommen und habe eine Änderung des für ihn ungünstig erscheinenden Änderungsbebauungsplans angemahnt; er habe dabei, wie sich aus einem Schriftwechsel des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller mit der Gemeinde insbesondere aus den Jahren 2018 und 2020 ergebe, die Einschränkung des Gewerbebetriebs durch den Änderungsbebauungsplan thematisiert, weshalb davon auszugehen sei, dass jedenfalls der Antragsteller zu 1 als Eigentümer und auch dessen Prozessbevollmächtigter seit langer Zeit davon ausgegangen seien, dass der Änderungsbebauungsplan den Gewerbebetrieb des Antragstellers zu 1 sowie die Betriebe der weiteren Antragsteller unzumutbar einschränke. Gleichwohl sei eine Erhebung der Popularklage nicht erfolgt. Eines Einblicks in die Begründung des Änderungsbebauungsplans, wie nun vorgetragen, habe es daher nicht bedurft. Außerdem erfolge eine mögliche Verletzung von Normen der Bayerischen Verfassung nicht durch die Begründung zur Satzung, sondern durch die Satzung selbst, die vermutlich allen Antragstellern bekannt gewesen sei. Spätestens mit dem Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 21. Juli 2020 an die Gemeinde habe diese davon ausgehen müssen, dass die vorgeblichen Eingriffe dem Prozessbevollmächtigten und seinen Mandanten bekannt seien und eine Abwehr durch entsprechende Rechtsmittel umgehend erfolgen werde; jedenfalls habe diese nach dem bezeichneten Schreiben darauf vertrauen können, dass jedenfalls nicht mehr nach annähernd zweidreiviertel Jahren eine Popularklage erhoben werde.
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Die Popularklage sei im Übrigen auch unbegründet. Die Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 BauGB sei objektiv gegeben, da die in der Begründung des Änderungsbebauungsplans angegebene Absicht, dass ein Schrottplatz aufgegeben werden solle, eine städtebauliche Begründung darstelle. Zudem ergäben sich aus der Begründung noch weitere Planungsziele, die Anlass für die Bauleitplanung gewesen seien (z. B. Schaffung eines Wohngebiets). Eine Verletzung des Entwicklungsgebots sei nicht gegeben, da der Flächennutzungsplan im Parallelverfahren nach § 8 Abs. 3 BauGB geändert worden sei. Auch gegen das planerische Abwägungsgebot sei nicht verstoßen worden, wie die Begründung zum Änderungsbebauungsplan und die im Gemeinderat erfolgten Abwägungsentscheidungen zeigten. Aus der Begründung werde mehrfach (beispielsweise in Ziffern 4.1 und 5) erkennbar, dass die Belange der Gewerbetreibenden abgewogen worden seien, insbesondere wenn dort ausgeführt werde, dass die festzusetzende Wohnbebauung im Süden einen aufgrund eines Immissionsschutzgutachtens definierten Abstand einhalte, was erkennen lasse, dass die Nutzungskonflikte von der Gemeinde erkannt worden seien und durch die Schaffung eines bestimmten Abstands der Nutzungen untereinander einer Lösung zugeführt worden seien. Die Gemeinde habe die Notwendigkeit, eine städtebaulich zu missbilligende Situation (emittierender Betrieb mit hohem Verkehrsaufkommen) zu bereinigen und Wohnbauland zu schaffen, mit den Interessen vorhandener Betriebe an einer Fortführung des Betriebs abgewogen und zur Lösung von Immissionskonflikten ein entsprechendes Schallschutzgutachten eingeholt sowie auf einen entsprechenden Abstand zwischen den konfligierenden Nutzungen geachtet. Daher sei der Trennungsgrundsatz nach § 50 BImSchG beachtet worden und ein Verstoß gegen das Willkürverbot nicht ersichtlich. Auch gegen den Gleichheitssatz des Art. 118 BV sei nicht verstoßen worden, da die anderen Gewerbetreibenden im Umgriff des Bebauungsplans schlicht keinen entsprechenden Wunsch zur Ausweisung eines Wohngebiets geäußert hätten und die Absiedlung eines Gewerbebetriebs mit erheblich negativen städtebaulichen, gestalterischen und immissionswirksamen Auswirkungen als städtebaulicher Anlass angesehen werden könne.
IV.
21
Die Popularklage ist unzulässig.
22
1. Ein Bebauungsplan, der von einer Gemeinde als Satzung beschlossen ist, kann sowohl insgesamt als auch hinsichtlich einzelner Festsetzungen Gegenstand einer Popularklage gemäß Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG sein (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 28.10.2014 VerfGHE 67, 274 Rn. 24; vom 27.8.2018 VerfGHE 71, 223 Rn. 23; vom 18.3.2020 BayVBl 2020, 372 Rn. 34; vom 23.11.2020 BayVBl 2021, 406 Rn. 14). Da die Antragsteller die Festsetzung der Gebietsart (allgemeines Wohngebiet) beanstanden, greifen sie den Änderungsbebauungsplan insgesamt an.
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2. Die Popularklage ist unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung unzulässig.
24
Die Erhebung der Popularklage ist nicht an eine Frist gebunden. Nach den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes kann aber die Antragsbefugnis für eine Popularklage durch Verwirkung erlöschen, wenn seit der Möglichkeit ihrer Erhebung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten (Umstandsmoment), die die späte Erhebung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (vgl. VerfGH vom 4.5.2012 VerfGHE 65, 73/81; vom 27.6.2012 VerfGHE 65, 125/130). Dies ist anzunehmen, wenn ein Antragsteller unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des geltend gemachten Rechts unternommen zu werden pflegt (vgl. BVerfG vom 26.1.1972 BVerfGE 32, 305/308 f.; vom 4.3.2008 BVerfGK 13, 382). Von besonderer Bedeutung ist dieser Gedanke bei Rechtsvorschriften, die nicht während einer unbestimmt langen Geltungsdauer in abstraktgenereller Weise fortlaufend Rechte und Pflichten begründen, sondern sich – wie Bebauungspläne – im Wesentlichen in einer konkreten und individuellen Regelung erschöpfen und bei denen daher der Gedanke der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes von besonderer Bedeutung ist (VerfGHE 65, 73/80 f.; 65, 125/130; VerfGH vom 12.6.2013 VerfGHE 66, 70/82; VerfGHE 67, 274 Rn. 32; vom 9.3.2016 VerfGHE 69, 84 Rn. 24; vom 19.2.2018 VerfGHE 71, 28 Rn. 31; BayVBl 2021, 406 Rn. 20).
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Objektiv betrachtet haben die Antragsteller ihre insbesondere mit Willkür und Abwägungsmängeln begründete Popularklage gegen den Änderungsbebauungsplan erst fast 17 Jahre nach dessen öffentlicher Bekanntmachung im Juli 2006 eingereicht. Das Zeitmoment ist damit zweifellos erfüllt und hat bereits für sich erhebliches Gewicht; das Abwarten eines derart langen Zeitraums bis zur Erhebung einer solchen Klage ist geeignet, das Umstandsmoment in den Hintergrund treten zu lassen (vgl. BVerfGK 13, 382).
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Zudem liegen in der Gesamtschau, in die auch die Interessen von der Planänderung betroffener Dritter einzubeziehen sind, besondere Umstände vor, die die Erhebung der Popularklage erst im April 2023 als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen.
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Das langjährige Untätigbleiben der Antragsteller wird nicht durch den Umstand entlastet, dass ihrem Bevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren nach seinen Angaben erst durch eine Akteneinsicht am 2. Februar 2023 die Begründung des Änderungsbebauungsplans bekannt geworden ist. Denn diese Begründung wurde zusammen mit dem Entwurf des Änderungsbebauungsplans schon im Jahr 2006 im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 3 Abs. 2 BauGB (in der Fassung vom 23. September 2004, a. F.) öffentlich ausgelegt – im Zeitraum vom 13. April bis 16. Mai 2006 und nochmals vom 13. bis 27. Juni 2006 – und war nach der Veröffentlichung des Änderungsbebauungsplans während der üblichen Dienstzeiten im Rathaus der Gemeinde O. für jedermann einsehbar (vgl. die am 18. Juli 2006 vom ersten Bürgermeister unterschriebene Bekanntmachung). Damit hätten die Antragsteller schon im Jahr 2006 ohne Weiteres von der Begründung des Änderungsbebauungsplans Kenntnis nehmen können. Warum sie dies offenbar nicht getan haben, obwohl sie selbst behaupten, über die Jahre hinweg Bedenken gegen sämtliche Änderungen des Bebauungsplans gegenüber der Gemeinde und der Öffentlichkeit geäußert zu haben, tragen sie nicht vor. Ebenso fehlt Vortrag dazu, nach welcher Vorschrift sich neben der förmlichen Beteiligung der Öffentlichkeit – also der Bürger – eine Pflicht der Gemeinde O. zu einer (weiteren) förmlichen Beteiligung der Antragsteller als (nach eigenen Angaben) Betroffene ergeben hätte können; eine solche ist auch sonst nicht ersichtlich. Im Übrigen war der Umstand, dass die Schaffung eines neuen Wohngebiets speziell mit dem von der Gemeinde gewollten Abzug des Schrott- und Abwrackplatzes der Firma P. verknüpft war, aus der lokalen Presseberichterstattung der Öffentlichkeit bekannt, was die von den Antragstellern vorgelegten diesbezüglichen Auszüge aus dem Jahr 2002 belegen. Die Antragsteller hätten abgesehen davon als nach eigenen Angaben Betroffene (ohne Rüge eines Verstoßes gegen Normen der Bayerischen Verfassung) den Änderungsbebauungsplan mittels eines fristgebundenen Normenkontrollantrags nach § 47 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 VwGO beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof überprüfen lassen können, was sie nicht getan haben.
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Das Untätigbleiben der Antragsteller über viele Jahre hinweg erscheint allenfalls vor dem Hintergrund ansatzweise nachvollziehbar, dass nach dem Vortrag der Antragsteller das Grundstück vom ursprünglichen Eigentümer P. nach der im Jahr 2006 erfolgten Umwandlung in Bauland zwar veräußert, aber bis 2019 zurückgepachtet und auch der Betrieb des Schrott- und Abwrackplatzes bis zum Jahr 2018 weitergeführt wurde. Zudem stand trotz des Erlasses des Änderungsbebauungsplans noch im Raum, dass der am 29. September 1998 gefasste Beschluss des Gemeinderats noch umgesetzt werden könnte, nach dem zugunsten der Gewerbetreibenden im festgesetzten Gewerbegebiet des Bebauungsplans der gemäß der textlichen Festsetzung Nr. 7.1 des Bebauungsplans festgelegte IFS-Pegel von 45 dB(A) pro Quadratmeter nachts auf 50 dB(A) pro Quadratmeter erhöht werden sollte. Zwar erschließt sich nicht, inwieweit die Umsetzung dieses Beschlusses zu einer von den Antragstellern angenommenen (außergerichtlichen) Konfliktlösung hätte beitragen können, wenn sich, wie von ihnen angenommen, schon nach den bisherigen Festsetzungen und dem danach „aufgrund eines Immissionsgutachtens definierten Abstand“ (vgl. Nr. 5 der Begründung des Änderungsbebauungsplans) Nutzungskonflikte zwischen den beiden Gebietsarten ergeben sollten. Trotzdem ist zu berücksichtigen, dass die Gemeinde über Jahre hinweg dieses Vorhaben nicht aufgegeben und damit für die Antragsteller einen gewissen Vertrauenstatbestand geschaffen hat.
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Ein über den Normerlass hinausgehender Anlass zum Tätigwerden bestand für die Antragsteller aber jedenfalls dann, als im Jahr 2018 der Schrott- und Abwrackplatz der Firma P. aufgegeben und das Grundstück im Jahr 2019 an einen Bauträger verkauft wurde, zumal dieser wiederholt Versuche zu einer Änderung der bisherigen Planung in Richtung einer dichteren Bebauung im allgemeinen Wohngebiet unternahm und mit ihm diesbezüglich von der Gemeinde städtebauliche Verträge abgeschlossen wurden. Denn nun wurden ersichtlich bereits von einem Dritten im Vertrauen auf den langjährig bestehenden Bebauungsplan erhebliche Vermögensdispositionen getroffen. Von dem beabsichtigten Verkauf an einen Bauträger und einer von den jeweiligen Interessenten verfolgten Umplanung wurde bereits im Jahr 2018 in der Presse berichtet (vgl. das gemeindliche Schreiben an den Antragsteller zu 1 vom 19. Juni 2018), sodass davon auszugehen ist, dass die Antragsteller von dem im Jahr 2019 erfolgten Verkauf und den Planänderungsvorstellungen des neuen Eigentümers jeweils zeitnah aus der Presse erfahren haben. Bekannt wurde ihnen dies aber spätestens durch den Gemeinderatsbeschluss vom 14. April 2020 zur aufgrund des Antrags des Bauträgers beabsichtigten 3. Änderung des Bebauungsplans, wobei die Stellung eines solchen Antrags dem Bevollmächtigten der Antragsteller bereits mit gemeindlicher E-Mail vom 24. Februar 2020 angekündigt worden ist.
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In der Folgezeit kann den Antragstellern lediglich noch zugute gehalten werden, dass trotz der neuen Entwicklung weiterhin die Umsetzung des am 29. September 1998 gefassten Gemeinderatsbeschlusses zum IFS-Pegel im Raum stand und dieser dann durch Gemeinderatsbeschluss vom 14. April 2020 dahingehend ergänzt wurde, dass zeitgleich die Erhöhung des untertags geltenden IFS-Pegels auf 65 dB(A) pro Quadratmeter erfolgen sollte. Allerdings hat der Gemeinderat schon kurz darauf – in seiner Sitzung vom 21. Juli 2020 – die Anhebung des nächtlichen IFS-Pegels gemäß den Beschlüssen von 1998 und 2020 als durch den streitgegenständlichen Änderungsbebauungsplan überholt und rechtswidrig angesehen und deshalb die vorangegangenen Beschlüsse aufgehoben. Dies war auch in der lokalen Presse angekündigt worden, wie sich aus dem von der Gemeinde vorgelegten Schreiben des Bevollmächtigten der Antragsteller vom 21. Juli 2020 an die Gemeinde ergibt.
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Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste den Antragstellern daher klar sein, dass sich die Hoffnung auf eine bisher von der Gemeinde beabsichtigte und aus ihrer Sicht günstige und zur Konfliktlösung beitragende Änderung der im Bebauungsplan für das (fortbestehende) Gewerbegebiet festgelegten IFS-Pegel endgültig zerschlagen hatte, und zwar gerade weil der begehrten Änderung der Erlass des streitgegenständlichen Änderungsbebauungsplans mit den entsprechend dem eingeholten Immissionsschutzgutachten festgesetzten Abständen (Baugrenzen) der Wohnbebauung zum angrenzenden Gewerbegebiet entgegenstand. Deshalb durfte und musste ihnen spätestens ab diesem Zeitpunkt angesonnen werden, zeitnah verfassungsrechtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.
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Da die Antragsteller dennoch nach der Beschlussfassung im Juli 2020 nicht zeitnah Popularklage gegen den Änderungsbebauungsplan erhoben haben, sind sie unter Verhältnissen untätig geblieben, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des geltend gemachten Rechts unternommen zu werden pflegt. Sie haben dadurch gegenüber der Gemeinde, die durch ihren Beschluss vom 21. Juli 2020 die definitive Aussage getroffen hat, dass sich die von den Antragstellern gewollte Änderung des IFS-Pegels für die Gewerbebetreibenden im fortbestehenden Gewerbegebiet verbietet, und gegenüber betroffenen Dritten den Eindruck erweckt, sich letztlich mit dem Änderungsbebauungsplan abgefunden zu haben. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass sie zunächst gegen die Aufhebung der Beschlüsse vom 29. September 1998 und 14. April 2020 protestiert und gegen die weitere Änderung des Änderungsbebauungsplans in Richtung der vom Bauträger gewollten Verdichtung der Bebauung im allgemeinen Wohngebiet Einwendungen erhoben haben. Damit blieb es spätestens mit Ablauf des Jahres 2020 nicht mehr ihrer Beurteilung überlassen, wann sie es für zweckmäßig hielten, von der Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Popularklage Gebrauch zu machen, zumal die weitere Änderung des Bebauungsplans in Bezug auf das allgemeine Wohngebiet von der Gemeinde bereits am 14. April 2020 beschlossen worden war (vgl. hierzu VerfGH vom 17.7.2020 BayVBl 2020, 737 Rn. 28 ff. m. w. N.) und die Antragsteller (ausgehend von ihrem Vortrag eigener Rechtsbetroffenheit) nach deren Inkrafttreten grundsätzlich die Möglichkeit haben, dagegen im Wege der (fristgebundenen) Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO vorzugehen. Inwieweit in einem solchen Verfahren auch die Wirksamkeit des Änderungsbebauungsplans (und gegebenenfalls des Ursprungsbebauungsplans) inzidenter als Vorfrage zu prüfen ist, hängt nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung davon ab, ob insoweit noch ein Rechtmäßigkeitszusammenhang, also eine Einheit der alten und der geänderten Planung besteht (vgl. BVerwG vom 4.10.2016 BauR 2017, 62 Rn. 7 m. w. N.; BayVGH vom 8.8.2023 BayVBl 2024, 199 Rn. 12 m. w. N.).
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Die nicht zeitnah, sondern erst im April 2023, etwa zweidreiviertel Jahre nach Ergehen des Beschlusses vom 21. Juli 2020 erhobene Popularklage ist daher als Verstoß gegen Treu und Glauben zu werten und wegen Verwirkung unzulässig.
V.
34
Durch die Entscheidung über die Popularklage hat sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt.
VI.
35
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).