Titel:
Asylrecht, Herkunftsland Türkei, Zaza, Flüchtlingseigenschaft verneint, Abschiebungsverbote verneint
Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland Türkei, Zaza, Flüchtlingseigenschaft verneint, Abschiebungsverbote verneint
Fundstelle:
BeckRS 2024, 32413
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger ist nach eigenen Angaben türkischer Staatsangehöriger und Zugehöriger der Volksgruppe der Zaza. Er reiste auf dem Landweg am ... Juni 2022 in das Bundesgebiet ein und stellte am … Juni 2022 Asylantrag.
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Bei einer polizeilichen Befragung des Klägers am … Juni 2022 gab dieser an, dass er viele Schulden in der Türkei habe und dass die wirtschaftliche Situation dort sehr schlecht sei. Deswegen habe er sich zur Flucht nach Deutschland entschlossen.
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Am … November 2022 wurde der Kläger durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zu seinem Asylantrag angehört. Dabei gab er im Wesentlichen an, er habe zuletzt in einem Dorf in der Nähe von B. gelebt, aber schon in unterschiedlichen Städten und in unterschiedlichen Berufen (Taxigewerbe, Sicherheitsgewerbe, Handwerk, Gastronomie) gearbeitet. Grund für seine Ausreise sei gewesen, dass er bei Freunden und Verwandten hohe Schulden gehabt habe. Die Gläubiger hätten Druck ausgeübt, da könne es in der Türkei vorkommen, dass auch Gewalt eingesetzt werde. Er habe verhindern wollen, dass ihm etwas zustoße, wenn er das Geld nicht zahlen könne. Ohne die Schulden wäre er nicht ausgereist. Er hätte auch an einem anderen Ort in der Türkei nicht die Möglichkeit gehabt, seine Schulden zurückzuzahlen. Dies hätte mindestens drei Jahre gedauert. Von der Polizei oder anderen staatlichen Stellen hätte er keinen Schutz bekommen. Mit Polizei, Justiz oder anderen staatlichen Stellen habe er keine Probleme gehabt. Politisch habe er sich in der Türkei nicht betätigt.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom … März 2023, zugestellt am … März 2023, wurde der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) jeweils als offensichtlich unbegründet abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er in die Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, abgeschoben. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der Klagefrist und, im Fall der rechtzeitigen Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 5). In Nr. 6 des Bescheids wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen i.S.v. § 30 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) offensichtlich nicht vor. Der Kläger sei offensichtlich kein Flüchtling im Sinne dieser Definition. Aus dem Sachvortrag des Klägers sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Der Kläger habe zur Begründung seines Asylantrages nur angegeben, die Personen, von denen er sich Geld geliehen habe, hätten gewalttätig werden können. Dies beruhe auf reiner Spekulation, zumal der Kläger vor seiner Ausreise aus der Türkei in keiner Weise bedroht worden sei. Die Gläubiger hätten den Kläger nach eigenem Vortrag lediglich aufgefordert, seine Schulden zu begleichen. Im Übrigen sei dem Kläger im Falle einer Rückkehr und einer drohenden Gefahr zuzumuten, auf staatliche Schutzmittel in der Türkei zurückzugreifen. Dem Kläger drohe ebenfalls offensichtlich kein ernsthafter Schaden, insbesondere nicht Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Insoweit werde auf die Ausführungen zum Flüchtlingsschutz verwiesen. Nationale Abschiebungsverbote wurden unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Verhältnisse in der Türkei geprüft, aber verneint.
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Am … März 2023 erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers gegen diesen Bescheid Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte,
- 1.
-
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom … März 2023 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 3 Abs. 4 Halbs. 1 AsylG),
- 2.
-
hilfsweise, dem Kläger den subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) zuzuerkennen,
- 3.
-
höchst hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bestehen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Beklagten jedenfalls hinsichtlich der qualifizierten Ablehnung. Das Bundesamt sei in seiner Entscheidung auf die Zugehörigkeit des Klägers zur ethnischen Minderheit der Zaza nicht eingegangen. Aus dieser Zugehörigkeit folge für den Kläger die Möglichkeit eines Schutzanspruchs. Türkische Staatsangehörige mit einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Zaza seien auf Grund ihrer Abstammung staatlichen Repressionen unterworfen und einer Gruppenverfolgung ausgesetzt. Auch im Hinblick auf einen Anspruch auf subsidiären Schutz bestünden durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer qualifizierten Ablehnung des Asylantrags nach § 30 Abs. 1 AsylG. Das Bundesamt habe den Sachverhalt nicht vollständig erforscht und den Vortrag des Klägers, wonach er von seinen Bekannten aufgrund seiner Geldschulden unter Druck gesetzt und bedroht werde, nicht berücksichtigt. Es sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass dem Kläger kein ernsthafter Schaden im Sinne von Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch nichtstaatliche Akteure drohe. Durch die Ignorierung dieses Vortrags sei gegen das rechtliche Gehör des Klägers verstoßen worden. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sei dem Antragssteller im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Möglichkeit einzuräumen, zu seinen Fluchtgründen angehört zu werden. Jedenfalls sei die Beklagte aber zu der Feststellung verpflichtet gewesen, dass einer Abschiebung des Klägers in die Türkei ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG entgegenstehe. Der Kläger sei bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu sichern.
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Die Beklagte beantragte,
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Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Ein gleichzeitig mit der Klage eingereichter Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, wurde mit Beschluss vom … März 2023 abgelehnt (. . .).
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Verfahren . . und die vorgelegten Behördenakten sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung am ... Mai 2024 verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Entscheidungsgründe
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Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am … Mai 2024 trotz Ausbleibens der Beklagtenseite entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dieser hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes bzw. auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots (§ 113 Abs. 5 VwGO). Auch die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 1 AsylG ist nicht zu beanstanden.
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Das Gericht nimmt insoweit auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid und den Beschluss vom … März 2023 im Verfahren . . Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird lediglich Folgendes ausgeführt:
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1. Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling rechtfertigen würde, ist vorliegend aus dem Vortrag des Klägers offensichtlich nicht erkennbar.
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1.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (Qualifikationsrichtlinie) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
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Nach Art. 4 Abs. 4 RL 20011/95/EU besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften, was nur der Fall ist, wenn die Faktoren, welche die Furcht des Flüchtlings begründet haben, dauerhaft beseitigt sind, die Veränderung der Umstände also erheblich und nicht nur vorübergehend ist (vgl. z.B. VGH BW, U.v. 30.5.2017 – A 9 S 991/15 – juris Rn. 28; OVG NW, U.v. 4.5.2017 – 14 A 2023/16.A – juris Rn. 23).
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Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht (vgl. § 15 AsylG) gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
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1.2 Sofern sich der Kläger im Verwaltungsverfahren (allein) auf drohenden Druck seitens seiner Gläubiger berufen hat, begründet dies bereits mangels Anknüpfung an die dort genannten Merkmale keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG. Zudem hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass er seine Schulden zurückbezahlt habe und dies kein Problem mehr sei.
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1.3 Der Kläger macht vor Gericht nunmehr allein eine Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Zaza geltend. Er konnte aber insoweit die notwendige erhebliche Intensität der Bedrohung nicht glaubhaft darlegen. Zum einen hatte er eine diesbezügliche Befürchtung weder bei der polizeilichen Befragung noch in der Anhörung beim Bundesamt erwähnt. Im Gegenteil hatte er ausdrücklich angegeben, dass er gar nicht gekommen wäre, wenn er die Schulden nicht gehabt hätte (S. 6 der Niederschrift über die Anhörung am …11.2022). Zum anderen waren seine Angaben zu einer Bedrohung aufgrund seiner Volkszugehörigkeit auch in der mündlichen Verhandlung sehr oberflächlich und unsubstantiiert. Er sagte letztendlich nur, dass Zaza in der Gegend, wo er herkomme, keine Ruhe hätten und ständig unter Druck gesetzt würden, und schilderte zwei Vorfälle aus den Jahren 2011 und 2015, wo er von Türken beleidigt und als Terrorist bezeichnet worden sei. Abgesehen davon, dass diese Ereignisse allein schon aufgrund des Zeitablaufs für die Ausreise 2022 nicht kausal sein können, stellen derartige Beleidigungen auch keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG dar. Zudem wäre es dem Kläger unbenommen, in eine andere Gegend zu ziehen, sodass eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG zu bejahen ist. Es ist davon auszugehen, dass der junge, gesunde und arbeitsfähige Kläger, der außerdem über Abitur und Berufserfahrung in vielen Bereichen verfügt, auch in einem anderen Teil der Türkei – gegebenenfalls mit Hilfe seiner Großfamilie – seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.
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Nach alledem und dem Gesamteindruck, den das Gericht vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, ist davon auszugehen, dass dieser die Volkszugehörigkeit allein aus asyltaktischen Gründen vorgebracht hat, nachdem er mit seinem ursprünglichen Vortrag (Druck seitens der Gläubiger) keinen Erfolg hatte. Im Übrigen ist den aktuellen Erkenntnismitteln auch nicht zu entnehmen, dass Kurden oder Zaza in der Türkei eine landesweite (Gruppen-)Verfolgungsgefahr im Sinne von § 3 AsylG droht (vgl. z.B. a. VG München, B.v. 6.3.2024 – UA Rn. 22; VG Köln, B.v. 9.1.2024 – 22 L 2642/23.A – juris Rn. 10 f; VG Aachen, U.v. 8.9.2023 – 8 K 2588/21.A – juris Rn. 67 f.; jew. m.w.N.).
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Das Gericht ist daher nicht davon überzeugt, dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist oder ihm bei einer Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3 AsylG drohen.
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2. Die Beklagte hat auch zu Recht die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG abgelehnt.
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2.1 Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
- 1.
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die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
- 2.
-
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
- 3.
-
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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2.2 Es ist nicht davon auszugehen, dass dem Kläger in der Türkei die – abgeschaffte – Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Auf die Ausführungen zur Flüchtlingseigenschaft (s.o. 1.) wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
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3. Schließlich liegen auch die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK oder Art. 60 Abs. 7 AufenthG nicht vor.
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3.1 Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25). In ganz außergewöhnlichen Fällen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 15 unter Verweis auf U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 15 unter Verweis auf B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Maßstab für die anzustellende Gefahrenprognose ist grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum des Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 25 m.w.N.). Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfe- und Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 17 unter Verweis auf U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 25 ff.). Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (z.B. BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; vgl. a. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22).
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Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln sind die humanitären Bedingungen in der Türkei aber auch für Kurden oder Zaza nicht so schlecht, dass von einer Verletzung des Art. 3 EMRK ausgegangen werden könnte. Insbesondere verfügt der junge, gesunde und arbeitsfähige Kläger – wie bereits ausgeführt – über Schulbildung sowie Berufserfahrung in vielen Bereichen. Der Kläger hat zudem in der Türkei noch seine Großfamilie, die ihn in hinreichender Weise unterstützen kann. Nach alledem ist davon auszugehen, dass der Kläger in der Türkei in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Sollte es in seiner Heimatregion aufgrund der Zerstörungen durch das Erdbeben am 1. Mai 2021 gegenwärtig keine Beschäftigungsmöglichkeiten geben, bleibt es ihm unbenommen, sich in anderen Regionen der Türkei Arbeit zu suchen.
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3.2 Die allgemeine Gefahr in der Türkei hat sich für den Kläger auch nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssten nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Ausreise in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, der Ausländer somit gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – juris Rn. 15). Dafür bestehen hier jedoch keine Anhaltspunkte. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr) höher als jene in § 60 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13), so dass im Lichte des Nichtvorliegens eines Abschiebungsverbots nach Art. 60 Abs. 5 AufenthG erst recht die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung nicht gegeben sind (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 58; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris).
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.