Titel:
Kostenerstattung, Körperliche Behinderung, Vorrang-/Nachrangverhältnis, Verhältnis von Jugendhilfe und Sozialhilfe (Wesentliche) Teilhabebeeinträchtigung
Normenketten:
SGB X § 104
SGB VIII § 10
SGB IX § 2
SGB IX § 99
SGB XII a.F. § 53
Schlagworte:
Kostenerstattung, Körperliche Behinderung, Vorrang-/Nachrangverhältnis, Verhältnis von Jugendhilfe und Sozialhilfe (Wesentliche) Teilhabebeeinträchtigung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 32403
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein Sozialhilfeträger, begehrt von der Beklagten, einer Jugendhilfeträgerin, Erstattung von Kosten in Höhe von 15.619,80 EUR, die er im Zeitraum von 13. September 2016 bis 7. April 2017 für die Betreuung des Kindes Y.R. in einer heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) und für Fahrtkosten dorthin aufgewendet hat.
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Laut sozialpädiatrischem EEG-Befund des k.-Kinderzentrums in M. vom 9. Januar 2015 lagen bei Y.R., geb. ... 2005, die Diagnosen Epilepsie mit atypischen Absencen und bilateral tonisch-klonischen Anfällen, fraglich automotorischen Anfällen sowie Z.n. rezidivierenden Fieberkrämpfen vor. Die Medikation wurde mitgeteilt. Gesamtbeurteilend wurde ausgeführt, dem Kind gehe es bezüglich der Anfallssituation recht gut. Er habe keine klinischen Anfälle. Problematisch seien weiterhin die Unaufmerksamkeit und zunehmende Schulprobleme. Die Testung laufe, eine Umschulung auf eine Förderschule sei angedacht.
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Unter Vorlage dieses Befunds sowie des Schwerbehindertenausweises von Y.R., der den GdB von 80 und die Merkzeichen B, G und H ausweist, sowie einer schulischen Stellungnahme der A.B.-Schule Förderzentrum Sprache vom 22. Juni 2016 wurde durch die Eltern am 19. Juli 2016 beim Kläger die Übernahme der Kosten für die Betreuung in einer HPT sowie die Übernahme der Kosten mit Behindertenfahrdienst für die Teilnahme an der HPT beantragt.
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In einer Kurz-Stellungnahme vom 30. August 2016 teilte der Fachdienst Behindertenhilfe des Klägers der Sachbearbeitung mit, von der Anfallssymptomatik her könnte eine wesentliche körperliche Behinderung vorliegen, die Ausprägung der Epilepsie sei aber im Sinne einer seelischen Behinderung zu sehen. Diesbezüglich wurde auf Seite 21 der Orientierungshilfe für die Feststellungen der Träger der Sozialhilfe zur Ermittlung der Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB XII i.V.m. der Eingliederungshilfe-Verordnung (EHVO) der Bundesarbeitsgemeinschaft der Überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) vom 24. November 2009 (im Folgenden: Orientierungshilfe BAGüS) Bezug genommen. Hinsichtlich der Klärung der Zuständigkeit des Klägers seien daher Art und Ausprägung der Anfälle abzufragen. Der Bedarf an einer Förderung im Rahmen einer HPT werde prinzipiell gesehen, der Besuch der angedachten HPT werde als geeignet angesehen.
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Am 13. September 2016 trat Y.R. in die HPT ein.
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Mit Schreiben vom 27. September 2016 teilten die Eltern dem Beklagten auf Anfrage mit, Y.R. habe seit über drei Jahren eine Epilepsie mit atypischen Absencen und bilateral tonisch-klinischen Anfällen. Die EEG-Befunde seien weiterhin pathologisch und zeichneten durchgängig Anfälle. „Kleine Anfälle“ liefen ständig im Gehirn ab und seien für Außenstehende kaum erkennbar. Y.R. wirke abwesend oder verträumt, zeige aber kaum Zuckungen oder sichtbare Krämpfe. Das Auftreten von „Großen Anfällen“ könne für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Dazu kämen die Nebenwirkungen der Medikamente, u.a. würden Konzentrationsprobleme, Müdigkeit und Vergesslichkeit im Beipackzettel erwähnt. Im Aufnahmeverfahren der A.B.-Schule sei die Aufnahme in die HPT empfohlen worden. Es folgten Ausführungen zur Erforderlichkeit der Inanspruchnahme des Behindertenfahrdienstes.
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Im Folgenden legte die Kindsmutter eine ärztliche Bescheinigung der Neuropädiaterin Dr. M. vom 17. November 2016 vor, aus der hervorgeht, dass bei Y.R. eine Epilepsie bestehe, er sich in regelmäßiger Betreuung in der Klinik befinde und unter medikamentöser Therapie sowie einer modifizierten Atkins-Diät derzeit anfallsfrei sei. Konzentrationsprobleme und Schwierigkeiten im Arbeitstempo würden als Folge der Epilepsie bzw. als Nebenwirkungen der Medikation gesehen.
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Der Fachdienst Behindertenhilfe beim Kläger teilte der Sachbearbeitung hierzu am 1. Dezember 2016 mit, es werde HPT für zwei Jahre empfohlen. Die Maßnahme sei ursächlich aufgrund der Epilepsie notwendig, wobei die tatsächlichen Einschränkungen nicht im körperlichen Bereich lägen. Y.R. sei derzeit anfallsfrei. Die im Schreiben der Mutter vom 27. September 2016 beschriebenen Anfälle seien die im EEG-Befund vom 9. Januar 2015 beschriebenen Spike-Waves. Nach der Orientierungshilfe BAGüS sei eine Einstufung in die Stufe 3 des vom Epilepsiezentrum Kehl-Kork erarbeiteten Schemas zur Gliederung von Epilepsien nach Schweregrad angemessen. Aufgrund der Epilepsie bestehe eine wesentliche Teilhabebeeinträchtigung, siehe Behindertenausweis. Die Ausprägung bzw. der Unterstützungsbedarf sei jedoch nicht im körperlichen Bereich zu sehen, sondern bestehe hinsichtlich Konzentration, Arbeitstempo, Strukturierung von Arbeiten (und emotionalem Umgang mit der Behinderung: Selbstbewusstsein).
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Am 8. Dezember 2016 setzte der Kläger die Beklagte über den Antrag in Kenntnis und teilte mit, dass die zweiwöchige Prüffrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht eingehalten werden könne. Es werde um Mitteilung gebeten, ob der Fall übernommen werde.
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Nach einem richterlichen Hinweis in einem von den Eltern beim Sozialgericht M. angestrengten einstweiligen Rechtsschutzverfahren erklärte sich der Kläger als erstangegangener Träger zur Leistung bereit und bewilligte mit Bescheid vom 18. Januar 2017 für Y.R. vom 13. September 2016 bis zunächst 31. August 2017 Leistungen der Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für die Förderung in der HPT sowie die Übernahme der Fahrtkosten für einmal täglich mit dem Sammeltaxi von der HPT nach Hause in der Schulzeit und zweimal täglich mit dem Sammeltaxi von und zur HPT in den Ferien und an schulfreien Tagen.
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Mit Schreiben vom 18. Januar 2017 meldete der Kläger bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X an und teilte mit, dass es sich bei der Epilepsie um keine wesentliche körperliche Behinderung handele.
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Am 1. Februar 2017 legten die Eltern den psychologischen Bericht des k.-Kinderzentrums in M. vom 25. Januar 2017 vor, aus dem sich folgende Diagnosen ergeben: Achse I: Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10: F90.0), Achse II: Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung (ICD-10: F83),Achse III: Durchschnittliche Intelligenz, Intelligenzniveau: IQ 92, Achse IV: Epilepsie mit atypischen Absencen und bilateral tonisch-klonischen Anfällen, fraglich automotorischen Anfällen (ICD-10: G40.0), Achse V: Getrennte Eltern; sehr gute familiäre Ressourcen, Achse VI: Anpassungsprobleme in einem sozialen Bereich. Zusammenfassend wird ausgeführt, eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung habe bei einer Testung im Klinikum S. ausgeschlossen werden können. Die bestehenden Konzentrationsprobleme und Schwierigkeiten im Arbeitstempo würden als Folge der Epilepsie bzw. als Nebenwirkungen der Medikation gesehen. Die Aufnahme in eine HPT am Nachmittag für zunächst ein Jahr werde empfohlen. Im Rahmen der Entwicklungsstörung liege eine psychische Störung vor, die länger als sechs Monate bestehen werde und es gebe Hinweise, dass ein Integrationsrisiko als Folge der seelischen Störung bestehe oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Deshalb sollte die Gewährung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII vom Kostenträger geprüft werden. Es bestehe keine geistige oder körperliche Behinderung. Die Förderschwerpunkte sollten in der Verbesserung der fokussierten Daueraufmerksamkeit und der Konzentration sowie der Verbesserung der Eigensteuerung und der Handlungsplanung liegen.
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Mit Schreiben vom 24. März 2017 teilte die Beklagte mit, die Fallübernahme und Kostenerstattung würden abgelehnt. Bei der festgestellten Epilepsie mit atypischen Absencen handele es sich um eine körperlich-neurologische Erkrankung mit weitreichenden Folgen. Die im Gutachten vom 25. Januar 2017 angegebenen Förderschwerpunkte würden verdeutlichen, dass sich der Hilfebedarf aus der neurologischen Erkrankung ergebe und damit als neuropädiatrische Rehabilitation zu werten seien. Die Hilfeart ziele auf den Umgang mit der schweren neurologischen Erkrankung und ihren Folgeerscheinungen und falle in den Zuständigkeitsbereich des Klägers.
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Am 7. April 2017 trat Y.R. aus der HPT aus.
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Der Fachdienst Behindertenhilfe des Klägers nahm am 19. April 2017 dahingehend Stellung, dass sich aus dem Attest vom 25. Januar 2017 keine neuen Erkenntnisse bezüglich der Behinderungsart ergäben. Nach Orientierungshilfe BAGüS sei nach wie vor eine Einstufung in die „Stufe 3 nach Kehl-Kork“ angemessen. Vor diesem Hintergrund bestehe keine wesentliche körperliche Behinderung.
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Am 12. Juni 2017 wandte sich der Kläger erneut an die Beklagte und verwies auf § 3 Nr. 2 Eingliederungshilfeverordnung, wonach eine wesentliche seelische Behinderung auch bei seelischen Störungen als Folge von Anfallsleiden gegeben sein könne. Die Epilepsie stelle bei Zuordnung zu „Stufe 3 nach Kehl-Kork“ nach der Orientierungshilfe BAGüS keine wesentliche körperliche Behinderung dar, könne aber zu einer wesentlich seelischen Behinderung auf Grund eines hirnorganischen Psychodroms führen, welches sich in Beeinträchtigungen der psychischen Funktionen wie Verlangsamung, erschwerter Umstellungsfähigkeit, Weitschweifigkeit, Affektlabilität und chronischer Wesensveränderung äußere. Die vorliegende Behinderung liege im seelischen Bereich.
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Mit Schreiben vom 11. Januar 2018 legte die Beklagte dem Kläger eine E-Mail der Diplom-Psychologin Dr. H. vom 18. Dezember 2017 vor, wonach davon auszugehen sei, dass bei Y.R. die Konzentrationsproblematik aus der Grundkrankheit Epilepsie und der notwendigen Medikation zu erklären sei, und teilte mit, dies bestätige die im Vordergrund stehende körperliche Erkrankung, die den Hilfebedarf erforderlich mache.
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Am 12. August 2019 erhob der Kläger Klage mit dem Antrag:
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Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für den Leistungsberechtigten Y.R. im Zeitraum vom 13.9.2016 bis 7.4.2017 aufgewendeten Leistungen für den Besuch der heilpädagogischen Tagesstätte sowie die hiermit zusammenhängenden Fahrtkosten in Höhe von EUR 15.519,80 zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu erstatten.
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Zur Begründung wurden die bereits im außergerichtlichen Schriftverkehr genannten Argumente angeführt.
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In der Klageerwiderung vom 19. August 2020 verwies die Beklagte darauf, dass die Aussagen der Mutter und die Aussagen des Gutachtens vom 25. Januar 2017 der Annahme einer seelischen Behinderung entgegen stünden. Auch dem Abschlussbericht der HPT seien keine Anhaltspunkte für eine maßgebliche seelische Beeinträchtigung zu entnehmen. Im Übrigen sei das Gutachten vom 25. Januar 2017 nicht schlüssig, da einerseits keine geistige oder körperliche Behinderung gesehen werde, andererseits die bestehenden Probleme als Folge der Epilepsie oder als Nebenwirkung der Medikation eingeordnet würden.
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Mit Schriftsätzen vom 30. September 2024 bzw. 7. Oktober 2024 verzichteten die Beteiligten auf mündliche Verhandlung.
23
Hinsichtlich der Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte sowie den Inhalt der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht kein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte zu.
26
Der Verwaltungsrechtsweg ist für die Entscheidung über den geltend gemachten Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X in Verbindung mit § 114 Satz 2 Alt. 2 SGB X eröffnet. Ein Anspruch des Leistungsempfängers gegen die Beklagte kann sich ausschließlich nach den Regelungen des SGB VIII ergeben.
27
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände (VGH BW – U.v. 23.2.2024 – 12 S 775/22 – juris Rn. 32). Hinsichtlich des materiellen Rechts ist daher maßgeblich auf die Rechtslage für den Zeitraum vom 13. September 2016 bis 7. April 2017 abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 6/11 – juris Rn. 6).
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung nach der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage in § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Denn der Kläger hat nicht als nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht. Vielmehr war er für die Bewilligung der Eingliederungshilfemaßnahme gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII in der Fassung vom 11. September 2012 (im Folgenden: a.F.) vorrangig zuständig.
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Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Leistungsberechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und – wie hier – weder die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen noch der (vorrangige) Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Voraussetzung für einen Anspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist demnach, dass Leistungspflichten zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris Rn. 26).
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Das Verhältnis konkurrierender Leistungsansprüche der Jugendhilfe und der Sozialhilfe hat der Gesetzgeber ausdrücklich in § 10 Abs. 4 SGB VIII geregelt (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 5 C 19/08 – juris Rn. 20). Nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII bzw. SGB IX grundsätzlich vor. Abweichend hiervon gehen nach Satz 2 sozialhilferechtliche Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer derartigen Behinderung bedroht sind, den Leistungen der Jugendhilfe vor.
31
Vorliegend bestand ein solcher, die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII a.F. auslösender Anspruch des Leistungsempfängers Y.R. gegen den Kläger. Denn zur Überzeugung des Gerichts lag im streitgegenständlichen Zeitraum eine körperliche Behinderung bei Y.R. vor, die einen Eingliederungshilfeanspruch nach § 53 Abs. 1 Satz 1 oder 2 SGB XII in der bis 31. Dezember 2020 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) begründete.
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Gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
33
Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. haben Personen, die durch eine Behinderung i.S.d. § 2 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung – also einer solchen, durch die sich nicht wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt sind – können nach § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB IX a.F. Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten (Ermessensanspruch).
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§ 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII löst den Vorrang der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII a.F. bzw. SGB IX auch dann aus, wenn eine körperliche oder geistige Behinderung vorliegt, die nicht die Wesentlichkeitsschwelle des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX überschreitet, sondern „nur“ die Voraussetzungen des Ermessensanspruchs nach § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 3 SGB IX erfüllt.
35
Für dieses Normverständnis spricht schon der Wortlaut, der anders als § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. bzw. § 99 Abs. 1 SGB IX gerade nicht von wesentlicher körperlicher oder geistiger Behinderung spricht (DIJuF JAmt 2024, 228 ff.). Auch die Änderungshistorie des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VII (bzw. § 10 Abs. 2 Satz 2 in der bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung) spricht nicht dafür, dass das Kriterium der Wesentlichkeit der körperlichen oder geistigen Behinderung zu fordern wäre. Denn die Ursprungsfassung der Regelung in § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII setzte bei seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1991 nämlich noch das Vorliegen einer körperlichen oder geistigen wesentlichen Behinderung beim jungen Hilfeempfänger voraus. Diese Einschränkung wurde bei unveränderter Rechtslage in § 39 Abs. 1 BSHG bereits mit Wirkung ab dem 1. April 1993 gestrichen und in der Folge trotz wiederholter Änderung der Vorschrift nicht wieder eingefügt (OVG NW, B.v. 9.3.2011 – 12 A 840/09 – juris Rn. 62; bestätigt durch BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris).
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Die Abkehr des Bundesverwaltungsgerichts von der sog. „Schwerpunkttheorie“ (vgl. Darstellung bei Kepert/Dexheimer, in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl., § 35a Rn. 27 m.w.N.) spricht ebenfalls für die hier vertretene Sichtweise. Demnach ist bei der Problematik der Mehrfachbehinderung bzw. in Fällen, in denen die Art der Behinderung nicht eindeutig einzuordnen ist, nicht an den Schwerpunkt der Behinderung und den danach erforderlichen konkreten Hilfebedarf anzuknüpfen, sondern hängt die Abgrenzung der Zuständigkeit von Jugendhilfe- oder Leistungen nach SGB IX bzw. XII gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VIII allein davon ab, ob die Jugendhilfeleistungen mit Maßnahmen der Eingliederungshilfe konkurrieren. Ist dies der Fall, ist die Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII a.F. bzw. 99 SGB IX vorrangig (st.Rspr.; vgl. z.B. BVerwG, U.v. 23.9.1999 – 5 C 26.98 – juris Rn. 13; BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 5 C 10.08 – juris Rn. 27; U.v. 19.10.2011 – 5 C 6.11 – juris Rn. 16; U.v. 9.2.2012 – 5 C 3.11 – juris Rn. 31.f.; vgl. auch BayVGH, U.v. 24.2.2014 – 12 ZB 12.715 – juris Rn. 36). Diese allein maßgebliche Anspruchskonkurrenz kann aber auch dann gegeben sein, wenn die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe nicht zwingend auf Grund einer wesentlichen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII a.F., sondern aufgrund einer leichten Behinderung im Ermessenswege gemäß § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu leisten ist (OVG NW, B.v. 9.3.2011 – 12 A 840/09 – juris Rn. 64 m.w.N.; bestätigt durch BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris).
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Das Bundesverwaltungsgericht führt als Argument neben Gründen der Rechtsklarheit u.a. an, in den meisten Ländern seien für die Eingliederungshilfe von behinderten Menschen aufgrund der erforderlichen Spezialisierung und wegen der mit dieser Aufgabe verbundenen hohen Kosten regionale oder landesweite Körperschaften (Landschaftsverbände, Bezirke etc.) mit entsprechend starker Finanzausstattung zuständig. Hingegen sei die Jugendhilfe von den kommunalen Gebietskörperschaften (Städte und Kreise) getragen, die regelmäßig über keine vergleichbare Spezialisierung im Bereich der Behindertenhilfe und über eine deutlich geringere Finanzausstattung verfügten. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII bewirke, dass die kommunalen Gebietskörperschaften von den speziellen Anforderungen und von den erheblichen Kosten entlastet würden, die die Eingliederungshilfe für junge geistig und körperlich behinderte Menschen mit sich bringe. Diese gesetzgeberische Entscheidung zur Entlastung der kommunalen Jugendhilfeträger enthalte bei Bestehen der in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorausgesetzten Doppelzuständigkeit keine Einschränkung. Vielmehr werde der Entlastungseffekt beeinträchtigt, wenn in einer größeren Zahl von Fällen gleichwohl die vorrangige Verantwortung den Jugendhilfeträgern aufgebürdet werde (BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 6.11 – juris Rn. 20). Im Sinne dieser Zielsetzung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII sowie der mit der Abkehr von der Schwerpunkttheorie verfolgten Rechtsklarheit muss der Vorrang der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers auch im Fall einer nicht wesentlichen körperlichen oder geistigen Behinderung ausgelöst sein.
38
Der Auffassung, die für den Vorrang der Eingliederungshilfeleistungen nach SGB IX und XII vor solchen nach SGB VIII eine wesentliche körperliche oder geistige Behinderung verlangt (LSG NRW, U.v. 28.1.2013 – L 20 SO 170/11 – juris Rn. 59; wohl nicht dieser Ansicht, aber missverständlich formuliert: SG Aachen, U.v. 24.11.2009 – S 20 SO 55/08 – juris Rn. 24) kann mangels Argumenten indes nicht gefolgt werden.
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Nach alledem ist lediglich eine – nicht unbedingt wesentliche – körperliche oder geistige Behinderung, die in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX definiert ist, zu fordern (so i.E. ohne konkrete Diskussion auch BayVGH, U.v. 9.6.2005 – 12 BV 02.969 – juris Rn. 12; SG Nürnberg vom 17.9.2018 – S 5 SO 6/18 – n.v. – S. 12; Schönecker/Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 10 Rn. 47; DIJuF, JAmt 2011, 262, 263).
40
Eine solche körperliche Behinderung, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führte, lag im hier zu entscheidenden Fall bei Y.R. vor.
41
Er litt unstreitig an einer Epilepsie mit atypischen Absencen und bilateral tonisch-klonischen Anfällen, fraglich automotorischen Anfällen (ICD-10: G40.0). Bei Epilepsie handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, die vom Gehirn ausgeht. Auch wenn Y.R. unter Medikation und spezieller Diät anfallsfrei war, verblieb nach den nicht in Frage gestellten Angaben der Kindsmutter im Schreiben vom 27. September 2016 ein Restrisiko für das Auftreten von „Großen Anfällen“. Außerdem verlaufen Epilepsien im Kindesalter schwer einschätzbar. Bei manchen Formen wird in vielen Fällen zumindest eine Remission erreicht, andere Formen treten in späterer Kindheit erst auf (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2008, 319 ff.). Bei Y.R. konnte man im streitgegenständlichen Zeitraum nicht davon ausgehen, dass die Epilepsie keine körperliche Einschränkung (mehr) bedeutete. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Epilepsie u.U. auch zu seelischen Störungen von Behinderungswert führen kann (vgl. Orientierungshilfe BAGüS, Anhang 2). Bei Y.R. wurden neben der Epilepsie kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen (ICD-10: F83) diagnostiziert, die zumindest laut ärztlicher Aussage eine Teilhabeeinschränkung zur Folge hatten. Unklar aber auch nicht entscheidungserheblich ist, ob die Entwicklungsstörungen als Folge der Epilepsie aufgetreten sind oder sich gesondert daneben entwickelt haben. Diese Diagnose ändert nichts an der körperlichen Grunderkrankung des Y.R. Es ist davon auszugehen, dass sich die Konzentrationsprobleme und Schwierigkeiten mit dem Arbeitstempo nicht aus den erst im Januar 2017 diagnostizierten Entwicklungsstörungen entwickelt haben, da sie mindestens seit 2015 schon Thema der vorliegenden ärztlichen Aussagen waren. Sie sind direkte Folge der Epilepsie bzw. der Medikation und damit als körperliche Einschränkung anzusehen. Diese Einordnung deckt sich mit der Darstellung der Krankheitssymptomatik der Mutter des Leistungsempfängers im Schreiben vom 27. September 2016, wo sie ausführt, dass „Kleine Anfälle“ ständig abliefen, die aber nicht als Krämpfe o.ä. sichtbar seien, sondern „nur“ als „Verträumtwirken“, Unaufmerksamkeit o.ä. Auch laut neuropädiatrischer Bestätigung vom 17. November 2016 waren Konzentrationsfähigkeit und Arbeitstempo infolge der Epilepsieerkrankung bzw. der Medikation eingeschränkt. Der psychologische Bericht vom 25. Januar 2017 sieht die Konzentrationsprobleme und Schwierigkeiten im Arbeitstempo ebenfalls ausdrücklich als Folge der Epilepsie bzw. als Nebenwirkungen der Medikation an. Dieser Bericht ist auch nicht etwa deshalb widersprüchlich oder unverwertbar, weil er im Weiteren besagt, dass keine körperliche, sondern eine seelische Behinderung vorliege. Diese ärztliche Aussage darf vor dem Hintergrund der während des Hilfezeitraums zwischen den Beteiligten und den Eltern geführten Diskussion um die Einordnung der Behinderung des Leistungsempfängers nicht überbewertet werden und ist nach Einschätzung des Gerichts vor dem Hintergrund, dass gleichzeitig erstmals auch eine seelische Störung (kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen) diagnostiziert wurde, so zu verstehen, dass der einschlägige Hilfebedarf im seelischen/heilpädagogischen Bereich lag. Nach der oben dargestellten ständigen Rechtsprechung ist im Rahmen der Vorrang-Nachrang-Beurteilung nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII aber gerade nicht auf den Schwerpunkt der Behinderung und den danach erforderlichen konkreten Hilfebedarf abzustellen und auch keine Kausalität der Behinderung für die Hilfe maßgeblich (BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris Rn. 33). Diese juristischen Bewertungen können indes nicht in allen Feinheiten den fachlich begutachtenden Ärzten und Psychologen abverlangt werden.
42
Durch die Verringerung der körperlichen Funktionsfähigkeit und Belastbarkeit kam es bei Y.R. unstreitig zu einer Teilhabebeeinträchtigung zumindest im schulischen Bereich. Dies dürfte mangels entgegenstehender Ausführung der Beteiligten unstreitig sein und es finden sich keinerlei Anhaltspunkte dagegen. Ob die Teilhabebeeinträchtigung wesentlich i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. war, kann nach den obigen Ausführungen dahinstehen. Auf die Klassifizierung nach der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden (und seither gemäß § 99 Abs. 4 Satz 2 SGB IX fortgeltenden) Eingliederungshilfeverordnung, die Definitionen für wesentliche Behinderung enthält, kommt es also ebenfalls nicht an.
43
Auch die – nicht bindende (vgl. VG Saarland, G.v. 3.4.2017 – 3 K 2311/16 – juris Rn. 47) – Orientierungshilfe BAGüS spricht nicht gegen die Annahme, dass eine körperliche Behinderung im oben erläuterten Sinne gegeben war. Nach Anhang 2 können Epilepsien je nach Schweregrad und Verlauf zu körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigungen führen. Möglich soll demnach auch sein, dass die Diagnose Epilepsie vorliegt, aber keinerlei körperliche Beeinträchtigung gegeben ist. Davon kann beim vorliegenden Sachverhalt jedoch nicht ausgegangen werden. Die Einordnung in Stufe 3 des Schemas zur Gliederung von Epilepsien nach Schweregrad des Epilepsiezentrums Kehl-Kork ist unstreitig und es finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Einordnung in Stufe 3 im streitgegenständlichen Zeitraum nicht zutreffend war. Nach Punkt 5.1.3 Orientierungshilfe BAGüS liegt bei einer schweren Epilepsie, die nach Anhang 2 vorliegen soll, wenn der Schweregrad der Epilepsie mindestens die Stufe 4 des Schemas nach Kehl-Kork erreicht, eine wesentliche körperliche Behinderung vor. Im Umkehrschluss soll wohl bei einer Epilepsie der Stufen 1-3 des Schemas nach Kehl-Kork keine wesentliche körperliche Behinderung vorliegen, was nicht ausschließt, dass dennoch eine körperliche Behinderung vorliegen kann. Die Einordnung in Stufe 3 dürfte für das Vorliegen einer körperlichen Behinderung sprechen, wenn ab Stufe 4 bereits eine wesentliche körperliche Behinderung vorliegen soll. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Orientierungshilfe BAGüS für Kinder und Jugendliche nur begrenzt aussagekräftig sein dürfte (vgl. ebd.).
44
Die Feststellung der Schwerbehinderung des Leistungsberechtigten mit einem Grad der Behinderung von 80 und den genannten Merkzeichen unterstreicht das dargestellte Ergebnis, wenn auch der dem Schwerbehindertenrecht zugrundeliegende Begriff der Schwerbehinderung des § 2 Abs. 2 SGB IX a.F. ein anderer als der vorliegend für den Eingliederungshilfeanspruch relevante Begriff des § 2 Abs. 1 SGB IX a.F. ist (vgl. hierzu VG München, U.v. 20.3.2024 – M 18 K 19.931 – juris Rn. 65).
45
Der Kläger war daher für die im streitgegenständlichen Zeitraum bewilligte Eingliederungshilfe in Form der teilstationären Unterbringung in einer HPT und der erforderlichen Fahrtkosten vorrangig zuständig und hat keinen Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten.
46
Die Klage war somit abzuweisen.
47
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
48
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.