Inhalt

VG München, Urteil v. 05.02.2024 – M 18 K 19.3291
Titel:

Wiedereinsetzung (gewährt), Kostenbeitrag, Hilfe für junge Erwachsenen, Kostenbeitrag aus Vermögen, Rangverhältnis der Leistungsverpflichteten, Unbillige Härte

Normenketten:
VwGO § 60
SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 § 92 Abs. 1 Nr. 5
SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 § 92 Abs. 1a
SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 § 92 Abs. 5
SGB XII in der Fassung vom 27. Dezember 2003 § 90
SGB XII § 91
Schlagworte:
Wiedereinsetzung (gewährt), Kostenbeitrag, Hilfe für junge Erwachsenen, Kostenbeitrag aus Vermögen, Rangverhältnis der Leistungsverpflichteten, Unbillige Härte
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3224

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
 II.    Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen den Kostenbeitragsbescheid vom 5. Juni 2019 mit welchem er zur Zahlung eines monatlichen Kostenbeitrags für das Kalenderjahr 2017 für stationäre Jugendhilfemaßnahmen für seinen volljährigen Sohn verpflichtet wurde.
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Der Kläger ist Vater des am ... 1998 geborenen Leistungsempfängers. Dem Leistungsempfänger wurde bereits als Minderjährigem Eingliederungshilfe in Form der Heimerziehung nach §§ 35a, 34 SGB VIII gewährt, wozu der Kläger ebenfalls einen Kostenbeitrag leistete.
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Mit Bescheid vom 30. Mai 2016 wurde dem Leistungsempfänger auf den Antrag seines Vormundes Eingliederungshilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII i.V.m.§§ 35a, 34 SGB VIII in Form der (weiteren) Übernahme der Kosten für die Unterbringung in einer Einrichtung bis 7. Januar 2017 gewährt und mit Bescheiden vom 24. November 2016 und 29. Mai 2017 bis zum 31. Januar 2018 weiterbewilligt.
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Nachdem der Kläger trotz mehrfacher Anforderung keine Einkommensunterlagen vorlegte, verpflichtete der Beklagte diesen mit Bescheid vom 21. August 2017 nach freiem Ermessen zu einem monatlichen Kostenbeitrag vom 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2017 in Höhe von 1.313.- Euro.
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Auf den Widerspruch des Klägers und Vorlage entsprechender Einkommensunterlagen hob der Beklagte mit streitgegenständlichem Abhilfebescheid vom 5. Juni 2019, zugestellt am 8. Juni 2019, den Bescheid vom 21. August 2017 auf und setzte den Kostenbeitrag des Klägers für die Zeit vom 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2017 in Höhe von 725.- Euro fest.
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Der Bevollmächtigte des Klägers erhob für diesen am 10. Juli 2019 Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte,
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1. Der Heranziehungsbescheid vom 21. August 2017 und der Abhilfebescheid vom 5. Juni 2019 werden aufgehoben.
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2. Der Beklagte wird verpflichtet, den von dem Kläger zu leistenden Kostenbeitrag für die Unterbringung seines Sohnes für die Zeit vom 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2017 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu festzusetzen.
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Nachdem der Beklagte mit Schriftsatz vom 29. Juli 2019 auf den nichtfristgerechten Eingang der Klage hinwies, beantragte der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 19. August 2019,
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dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist zur Erhebung der Klage zu gewähren.
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Zur Begründung wurde unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen dargelegt, dass das Fristversäumnis aufgrund eines von der Rechtsanwaltsfachangestellten fehlerhaft notierten Zustellungsdatums für den streitgegenständlichen Bescheid erfolgt sei.
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Zudem wurde die Klage insbesondere damit begründet, dass der Beklagte zunächst eingehend hätte prüfen müssen, ob der Leistungsempfänger selbst mit seinem eigenen Vermögen herangezogen hätte werden können. Eine solche Überprüfung habe nicht stattgefunden. Der Kläger habe Kenntnis darüber, dass der Leistungsempfänger von seiner Großmutter im Jahr 2014 einen Betrag in Höhe von 52.000.- Euro geerbt habe.
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Mit gerichtlichen Schreiben vom 12. Februar 2021 teilt das Gericht mit, dass dem Wiedereinsetzungsantrag nach vorläufiger Überprüfung der Sach- und Rechtslage stattzugeben sein dürfte.
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Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 1. Juni 2021,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger dem Beklagten im Oktober 2017 mitgeteilt habe, dass der Leistungsempfänger eine halbe Eigentumswohnung und 52.000.- Euro geerbt habe. Zuvor habe es keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Leistungsempfänger Vermögen habe. Bezüglich der Eigentumswohnung habe sich herausgestellt, dass hierfür die Mutter des Leistungsempfängers auf Lebzeiten das Wohn- und Nutzrecht habe und ihr auch die Mieteinnahmen zustehen würden. Der Leistungsempfänger habe hieraus keine finanziellen Vorteile. Der Betrag in Höhe von 52.000.- Euro, welcher zunächst in eine Lebensversicherung einbezahlt worden sei, sei laut Auskunft der Versicherung zum 1. September 2017 gekündigt worden. Bereits im Jahr 2016 seine immer wieder Teilauszahlungen vorgenommen worden. Das Geld habe der Leistungsempfänger laut Angaben der Schwester des Klägers in Onlinespiele und Spielkarten gesteckt, da er spielsüchtig gewesen sei. Da bereits zu dem Zeitpunkt, zu dem bekannt geworden sei, dass der Leistungsempfänger Vermögen habe solle, kein Vermögen mehr vorhanden gewesen sei, habe auch kein Kostenbeitrag von ihm erhoben werden können. Eine Kostenbeitragsforderung aus nicht mehr vorhandenem Vermögen würde einen Härtefall nach § 92 Abs. 5 SGB VIII darstellen, da der Leistungsempfänger dadurch massiv verschuldet würde.
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Zudem verzichtete der Beklagte auf mündliche Verhandlung.
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Mit weiterem Bescheid vom 8. Juli 2021 setzte der Beklagte gegenüber dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 2018 bis 31. Juli 2018 einen monatlichen Kostenbeitrag in Höhe von 725.- Euro fest. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 2022 wurde der Widerspruch hiergegen zurückgewiesen. Der Bevollmächtigte des Klägers erhob am 7. August 2022 Klage gegen diesen Bescheid (M 18 K 22.4010). Über diese Klage ist noch nicht entschieden.
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Die Klageseite verzichtete mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2023 auf mündliche Verhandlung.
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Durch Beschluss der Kammer vom 16. Januar 2024 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten sowie auf die beigezogenen Gerichts- und Behördenakten im Verfahren M 18 K 22.4010 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die überwiegend zulässige Klage ist unbegründet.
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Die Klagefrist gilt als gewahrt, da dem Kläger insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO zu gewähren war.
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Der Kläger hat die Klagefrist ohne Verschulden nicht eingehalten. Wie der Bevollmächtigte nachvollziehbar und durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft darlegte, erfolgte das Fristversäumnis aufgrund eines von der Rechtsanwaltsfachangestellten Frau B. fehlerhaft notierten Zustellungsdatums für den streitgegenständlichen Bescheid. Liegt ein Verschulden eine Hilfsperson vor, so kann dieses dem Kläger nur zugerechnet werden, sofern bei dem Bevollmächtigten ein Organisationsverschulden zur Fristversäumung beigetragen hat (stRspr.; Eyermann/Hoppe, 16. Aufl. 2022, VwGO § 60 Rn. 11 ff.). Ein solches ist vorliegend auf Grund der glaubhaften und detaillierten Schilderungen des Bevollmächtigten nicht gegeben.
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Der Wiedereinsetzungsantrag wurde auch fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses bzw. Kenntnis der Fristversäumnis gestellt, § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO.
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Die Klage ist jedoch teilweise mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
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Soweit der Bevollmächtigte des Klägers neben dem Antrag auf Aufhebung des Bescheids vom 5. Juni 2019 beantragt hat, auch den Bescheid vom 21. August 2017 aufzuheben, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis, da dieser Bescheid in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 5. Juni 2019 aufgehoben wurde und sachgerecht davon auszugehen ist, dass der Kläger den streitgegenständlichen Bescheid vom 5. Juni 2019 insoweit mangels Beschwer nicht angreifen wollte.
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Zudem ist der weitere Antrag des Bevollmächtigten des Klägers, den Beklagten zur Neufestsetzung eines mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Für den erkennbar nicht lediglich als Hilfsantrag gestellten Antrag besteht kein Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger hat kein Recht darauf, dass er zu einem Kostenbeitrag herangezogen wird, vielmehr ist das Jugendamt des Beklagten zu einer Kostenheranziehung des Klägers per Gesetz verpflichtet.
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Soweit die Klage zulässig ist, ist sie unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 5. Juni 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
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Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist für die vorliegende Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, folglich der Zeitpunkt des Bescheidserlasses, ebenso ist auf die zum damaligen Zeitpunkt geltende Rechtslage abzustellen.
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Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid ist § 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII (in der Fassung vom 29. August 2013 – im Folgenden a.F.) i.V.m. § 91 Abs. 1 Nr. 8 i.V.m. Nr. 6 SGB VIII sowie § 94 SGB VIII (in der Fassung vom 3. Dezember 2013 – im Folgenden: a.F.) i.V.m. der Verordnung zur Festsetzung der Kostenbeiträge für Leistungen und vorläufige Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe (in der Fassung vom 5. Dezember 2013 – im Folgenden KostenbeitragsV a.F.).
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Der Kläger ist als Elternteil eines jungen Volljährigen zu den Kosten für dessen stationärer Unterbringung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe mit einem Kostenbeitrag heranzuziehen, § 92 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII a.F.
33
Der Sohn des Klägers erhielt über den vorliegend maßgeblichen Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2017 als junger Volljähriger Eingliederungshilfe in Form der vollstationären Unterbringung nach §§ 41, 35a, 34 SGB VIII. Hierbei handelt es sich um eine nach § 91 Abs. 1 Nr. 8 i.V.m. Nr. 6 SGB VIII kostenbeitragspflichtige Maßnahmen.
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Der Kläger wurde über die bestehende Kostenbeitragspflicht mit Schreiben vom 10. Februar 2016 entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. auch ausreichend belehrt.
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Die Kostenbeitragspflicht des Klägers entfällt nicht auf Grund einer vorrangigen Kostenbeitragspflicht des Leistungsempfängers aus seinem Vermögen gemäß § 92 Abs. 1a SGB VIII a.F.
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Gemäß § 92 Abs. 1a SGB VIII a.F. sind zu den Kosten vollstationärer Leistungen junge Volljährige und volljährige Leistungsempfänger nach § 19 SGB VIII zusätzlich aus ihrem Vermögen nach Maßgabe der §§ 90 und 91 des Zwölften Buches a.F. heranzuziehen. Gemäß § 94 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII a. F. sollen zudem Eltern nachrangig zu den jungen Menschen herangezogen werden. Die Kostenbeiträge dürfen die tatsächlichen Aufwendungen nicht überschreiten, § 94 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F.
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Der Leistungsempfänger hatte im vorliegend maßgeblichen Zeitraum 2017 weder Einkommen – insoweit unstreitig – noch heranzuziehendes Vermögen, welches – auch im Fall einer unterstellten Heranziehung – die Kosten der Leistung abgedeckt hätte, so dass ein weiterer Kostenbeitrag vom Kläger nicht hätte erhoben werden dürfen.
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Hinsichtlich des Vermögens ist entscheidend, welches Vermögen der Kostenbeitragspflichtige im Zeitpunkt der Kostenbeitragspflicht verwertbar zur Verfügung hat, § 92 Abs. 1a SGB VIII a.F. i.V.m. § 90 Abs. 1 SGB XII in der Fassung vom 27. Dezember 2003.
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Gemäß der Auskunft der Versicherung hatte der Leistungsempfänger nach den bereits im Jahr 2016 erfolgten Auszahlungen zum 1. Januar 2017 noch ein Restvermögen von 11.660,40 Euro. Von diesem Vermögen wären gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 Satz 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII (in der Fassung vom 29.3.2017 – im Folgenden DVD a.F.) 5.000.- Euro als Schonbetrag nicht einsetzbar gewesen. Der Leistungsempfänger wäre daher entsprechend den gesetzlichen Vorgaben für das Kalenderjahr 2017 zu einem Kostenbeitrag aus Vermögen in Höhe von 6.660,40 Euro heranzuziehen gewesen. Die Beurteilung des Beklagten, dass der geerbte Anteil an der Eigentumswohnung, für die die Mutter des Leistungsempfängers auf Lebzeiten das Wohn- und Nutzrecht hat und ihr auch die Mieteinnahmen zustehen, nicht als verwertbares Vermögen nach § 90 SGB XII a.F. anzusetzen war, erscheint hingegen sachgerecht. Auf Grund der unbestrittenen Belastungen dieses Immobilieneigentums erscheint eine Verwertung nicht zumutbar.
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Für die stationäre Unterbringung des Leistungsempfängers sind im Kalenderjahr 2017 Kosten weit über das vorhandene Vermögen des Leistungsempfängers in Höhe von 6.660,40 Euro entstanden. Dem Leistungsempfänger wurde vom 1. Januar 2017 bis 31. Juli 2017 Hilfe für junge Volljährige in Form der Übernahme der Kosten für die Unterbringung in der gleichen Einrichtung wie bereits im Jahr 2016 bewilligt und von 1. August 2018 bis 31. Dezember 2017 Hilfe für junge Volljährige in Form der Übernahme der Kosten für die Unterbringung im Betreuten Einzelwohnen. Die Kosten für die jeweiligen Monate setzen sich hierbei jeweils aus unterschiedlichen Teilbeträgen zusammen. Der Beklagte hat dem Gericht für das Jahr 2016 eine – auch von Klageseite nicht beanstandete – Kostenaufstellung übermittelt, aus der sich monatliche Beträge für die Unterbringung in der Einrichtung zwischen ca. 5.000.- Euro und 7.000.- Euro ergeben. Auch wenn sich in den vorgelegten Behördenakten keine Kostenaufstellung für das Jahr 2017 findet, hat das Gericht keine Zweifel daran, dass auch im Folgenden für die Monate Januar bis Juli 2017 entsprechende Kosten angefallen sind. Für das von August bis Dezember 2017 bewilligte betreute Wohnen fiel entsprechend den vorliegenden Unterlagen eine Monatspauschale in Höhe von 1.850.- Euro zuzüglich weiteren Kosten für Möbel, Fahrtkosten, Miete etc. an (vgl. Bewilligungsbescheid vom 6. September 2017). Dementsprechend sind im Jahr 2017 für die Unterbringung des Leistungsempfängern Kosten weit über 40.000.- Euro (mind. 7 Monate * 5.000.- + 5 Monate * 1.850.-) angefallen.
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Selbst wenn der Leistungsempfänger hierzu einen Kostenbeitrag aus Vermögen in Höhe von 6.660,40 Euro geleistet hätte, wären – entgegen der Behauptung der Klageseite – die tatsächlich entstandenen Kosten hierdurch bei weitem nicht gedeckt gewesen. Dementsprechend waren auch – wie geschehen – die Eltern des volljährigen Leistungsempfängers jeweils separat ergänzend zu einem Kostenbeitrag heranzuziehen. Wobei selbst hiermit die tatsächlichen Kosten bei weitem nicht gedeckt waren und im Übrigen von der Sozialgemeinschaft getragen wurde.
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Da somit selbst unter Berücksichtigung eines fiktiven Kostenbeitrags des Leistungsempfängers die Kostenbeitragspflicht des Klägers nicht entfällt, bedarf es vorliegend keiner abschließenden Entscheidung darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen ein solcher fiktiver Kostenbeitrag zu berücksichtigen ist.
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Die Berechnung des Kostenbeitrags des Klägers aus dem Einkommen erfolgte – nach Vorlage entsprechender Unterlagen – auch ordnungsgemäß nach § 93 SGB VIII a.F. i.V.m. § 94 SGB VIII a.F. i.V.m. mit der Kostenbeitragsverordnung a.F. Diese Berechnung wurde dem Kläger auch mit dem streitgegenständlichen Abhilfebescheid vom 5. Juni 2019 übersandt. Konkrete Einwände hiergegen wurden von Klageseite auch nicht erhoben.
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Ebenso bestehen keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der bewilligten Hilfe.
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Auch wenn die Rechtmäßigkeit der Hilfe nicht explizit Tatbestandsvoraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrags ist, ist sie nach h. M. zumindest in den Fällen, in denen für den Kostenpflichtigen kein Primärrechtsschutz zu erlangen ist, er sich also nicht gegen die den Kostenbeitrag auslösende Maßnahme wenden kann, inzidenter zu überprüfen (vgl. NdsOVG, B. v. 27.8.2018 – 10 LA 7/18; OVG NW, B. v. 28.8.2014 – 12 A 1034/16; VG Augsburg, U. v. 20.12.2019 – Au 3 K 17.855 – Rn. 27, jeweils juris). Dies ist vorliegend der Fall; der Kläger konnte keine Rechtsmittel gegen die seinem volljährigen Sohn bewilligte Hilfe einlegen, so dass die Rechtmäßigkeit der Hilfeleistung inzident zu überprüfen ist. Hingegen kann die Schlussfolgerung des Bevollmächtigten des Klägers, dass sich aus der fehlenden „Beteiligung am Antragsverfahren“ bereits die Rechtswidrigkeit des Kostenbeitragsbescheides ergäbe (Schriftsatz vom 28. Februar 2023 im Klageverfahren M 18 K 22.4010) nicht nachvollzogen werden.
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In Bezug auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Hilfe ist dem Bevollmächtigten des Klägers insoweit zwar zuzustimmen, dass sich aus der im Verfahren M 18 K 22.4010 vorgelegten Behördenakte die Hilfebewilligung nur äußerst rudimentär ergibt. Denn da der Leistungsempfänger keine Entbindung der Schweigepflicht erteilt hat, wurde die Behördenakte durch den Beklagten umfangreich geschwärzt bzw. durch Seite durch Fehlblätter ersetzt. Auch das Gericht hat in Bezug auf die Anforderungen der Aktenvorlage den Schutz der Sozialdaten des Leistungsempfängers sachgerecht zu berücksichtigen. Lediglich wenn auf Grund dessen eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit gänzlich ausgeschlossen ist, ist eine Heranziehung zu einem Kostenbeitrag ausgeschlossen (vgl. VG Bremen, U.v. 8.9.2023 – 3 K 100/22 – juris). Das Verhältnis zwischen dem Kläger und seinem Sohn ist – so auch der Vortrag der Klageseite – seit langem und weiterhin erheblich zerrüttet. Es besteht daher ein zu berücksichtigendes Begehren des Leistungsempfängers, seine Daten soweit möglich gegenüber dem Kläger nicht offen zu legen.
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Nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (OVG SH, B.v. 3.2.2021 – 3 MB 50/20 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.).
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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Gericht keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Beklagten über die Hilfebewilligung nach § 41 i.V.m. §§ 35a, 43 SGB VIII.
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Dem Leistungsempfänger wurde bereits als Minderjährigem auf Antrag seines Vormunds Eingliederungshilfe in Form der Unterbringung in der Einrichtung bewilligt, in welcher er auch im Folgen noch bis zum Ende des Schuljahres 2016/17 untergebracht war. Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII besteht, wenn die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (bzw. i.V.m. § 41 SGB VIII jungen Volljährigen) mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Das Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII durch die Stellungnahme eines Facharztes festzustellen. Welche Hilfeform im Rahmen des Anspruchs aus § 35a Abs. 1 SGB VIII geleistet wird, richtet sich nach dem jeweiligen Bedarf im Einzelfall, vgl. § 35a Abs. 2 und 3 SGB VIII. Der Leistungsempfänger litt offenbar bereits seit 2014 (so auch der von Klageseite vorgelegte Chatauszug) unter einer Spielsucht, die wohl auch wesentlich für die stationäre Unterbringung gewesen sein dürfte. Die Spielsucht (pathologisches Spielen) besteht laut der aktuellen Klassifikation nach den ICD-10 in häufigem und wiederholtem episodenhaften Glücksspiel, das die Lebensführung des betroffenen Patienten beherrscht und zum Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen führt (ICD-10: F 63.0). Auch die weiteren Ausführungen des vorgelegten Chatsverlaufs, an dessen Glaubwürdigkeit auch von Klageseite keine Zweifel geäußert wurden – zeigen, dass der Leistungsempfänger zum einen selbst erheblich unter dieser Spielsucht litt und zum anderen Familienangehörige hierdurch erheblich in Mitleidenschaft zog. Es lag folglich eine erhebliche seelische Erkrankung vor, die die Teilhabe des Leistungsempfängers am Leben in der Gesellschaft deutlich beeinträchtigte, so dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII vorlagen. Auch die gewählte Hilfeart in Form einer stationären Hilfe und im Folgenden des betreuten Einzelwohnens erscheint fachlich vertretbar und nachvollziehbar. Aus den vorgelegten Akten ist erkennbar, dass der Beklagte im Rahmen seiner Entscheidung gerade den Schuljahreswechsel als relevanten Zeitpunkt für einen Wechsel der Betreuungsform und die Herbeiführung einer weiteren Verselbständigung des gerade erst volljährigen Leistungsempfängers durch die Bewilligung des betreuten Einzelwohnens als sachgerecht erachtet hat. Für das Gericht ergeben sich daher keine Anhaltspunkte für eine rechtswidrige Hilfegewährung durch den Beklagten. Auch von Klageseite erfolgten keinerlei Ausführungen, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme wecken können.
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Schließlich liegt auch kein Fall der besonderen Härte vor, § 92 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII a.F.
51
Der Begriff der besonderen Härte im Sinne von § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII ist ein der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegender unbestimmter Rechtsbegriff, mit dem der Gesetzgeber atypischen Fällen Rechnung tragen will, die mit den auf die individuelle Zumutbarkeit abstellenden, letztlich aber doch typisierenden und pauschalierenden Heranziehungsvorschriften nicht hinreichend erfasst werden. Die Erhebung eines Kostenbeitrags wird dabei regelmäßig nur dann eine besondere Härte darstellen, wenn sie im Einzelfall zu einem Ergebnis führt, das den Leitvorstellungen der §§ 91 ff. SGB VIII nicht entspricht (BVerwG, U.v. 21.10.2015 – 5 C 21/14 – juris Rn. 31).
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Die Klageseite führt hierzu im Schriftsatz vom 28. Februar 2023 im Verfahren M 18 K 22.4010 aus, dass eine besondere Härte vorliege, da der Kläger bereits nicht zur Unterhaltszahlung verpflichtet worden sei. Eine eingereichte Unterhaltsklage durch den Leistungsempfänger sei erfolglos geblieben. Auch sei „das Beziehungsgeflecht mehr als gestört, wie dem Beklagten bereits nachgewiesen“ worden sei. Ein weitergehender Vortrag im Klageverfahren unterblieb. In der vorgelegten Behördenakte findet sich hierzu ein Schriftsatz des Bevollmächtigten des Klägers vom 10. November 2020 an den Beklagten, worin mitgeteilt wird, dass der Leistungsempfänger seine Unterhaltsklage vor dem Familiengericht zurückziehen habe müssen, da er über sein Vermögen getäuscht und dieses verschwendet habe. Als Anlage war u.a. ein Schreiben des Bevollmächtigten des Leistungsempfängers vom 15. Oktober 2020 beigefügt, worin dieser gegenüber dem Familiengericht die Rücknahme der Anträge erklärt. Ausführungen des Familiengerichts selbst finden sich nicht, so dass auch die rechtliche Beurteilung durch das Gericht nicht nachgewiesen ist. Es bestehen vielmehr erhebliche Zweifel, dass ein Familiengericht auf Grund einer diagnostizierten Spielsucht zu dem Vorwurf der „Täuschung und Verschwendung“ gelangen würde.
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Unabhängig hiervon ist zwischen der Würdigung im unterhaltsrechtlichen Verfahren und dem vorliegenden Verfahren zu unterscheiden. Denn durch die Anerkennung einer außergewöhnlichen Härte für den Kläger würde nicht – wie im Unterhaltsrecht – eine Entscheidung zulasten des Sohns des Klägers, sondern zu Lasten der Sozialgemeinschaft getroffen werden, welche für die Kosten der Jugendhilfeleistung in noch größerem Umfang aufkommen müsste. Dementsprechend muss auch ein – zudem offenbar im Jahr 2020 geltend gemachter – versagter Unterhaltsanspruch nicht zwingend zu einer außergewöhnlichen Härte führen. Vielmehr ergibt sich aus den vorgelegten Unterlagen, dass der Leistungsempfänger das geerbte Vermögen bis ins Jahr 2017 aufgrund seiner Spielsucht verbrauchte. Ein vorwerfbares, gegen den Kläger gerichtetes Verhalten kann das Gericht in dieser Erkrankung nicht erkennen, unabhängig von ihren Entstehungsgründen. Es stellt daher auch keine besondere Härte dar, dass der Kläger für gegenüber seinem Sohn – zumindest auch aufgrund dieser Erkrankung – erbrachten Jugendhilfeleistungen einen Kostenbeitrag entsprechend seinen finanziellen Möglichkeiten zu leisten hat. Auch hat der Leistungsempfänger (zumindest soweit vorliegend erkennbar und entgegen der wiederholten Formulierung der Klageseite) gegenüber dem Beklagten nicht über seine Vermögensverhältnisse „getäuscht“, sondern vielmehr hat der Beklagte es fehlerhaft unterlassen, diese für das Kalenderjahr 2017 zu ermitteln.
54
Der streitgegenständliche Kostenbeitragsbescheid vom 5. Juni 2019 stellt sich daher als rechtmäßig dar.
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Die Klage war daher vollumfänglich mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO abzuweisen.
56
Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 S. 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.