Titel:
Beleidigung; Abwägung zwischen Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit
Normenkette:
StGB § 185, § 193
Leitsätze:
1. Die Bezeichnung als „asoziales Pack“ kann den Straftatbestand der Beleidigung erfüllen. (Rn. 13)
2. Die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Äußernden und den Persönlichkeitsrechten des betroffenen Dritten kann auch durch das Revisionsgericht vorgenommen werden. (Rn. 11)
Der eine Abwägung entbehrlich machende und damit die Meinungsfreiheit verdrängende Effekt, der mit einer Einordnung einer Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, Schmähkritik oder Formalbeleidigung verbunden ist, gebietet es, diese Einordnung klar kenntlich zu machen und sie in einer auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen, gehaltvollen und verfassungsrechtlich tragfähigen Weise zu begründen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beleidigung, Schmähkritik, Formalbeleidigung, Abwägung, Meinungsfreiheit
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 19.09.2023 – 28 NBs 247 Js 128246/23
Fundstelle:
BeckRS 2024, 32050
Tenor
I. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 19. September 2023 wird als unbegründet verworfen.
II. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
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Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revision hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
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Zur Begründung wird auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Antragsschrift vom 31. Januar 2024 Bezug genommen.
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Ergänzend bemerkt der Senat: 1) Die Angriffsrichtung der erhobenen Verfahrensrüge richtet sich offensichtlich primär gegen die Verurteilung wegen der Beleidigung vom 9. Dezember 2022, obwohl diese nach Auffassung der Revision weder angeklagt noch vom Eröffnungsbeschluss umfasst sei. Insoweit wird Bezug genommen auf dies diesbezüglichen Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Zuschrift vom 31. Januar 2024. Sofern der Verfahrensrüge auch mit der Angriffsrichtung erhoben sein sollte, die Feststellungen der Kammer in der Darstellung des Verfahrensgangs seien „widersprüchlich“ (RevBegr. S. 27 unten), also würden im Widerspruch zum tatsächlichen Geschehen stehen, kann es der Senat ausschließen, dass das Berufungsurteil darauf beruht:
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a) Das Landgericht hat unzutreffend festgestellt, dass das Urteil des Amtsgerichts München am „06.06.2022“ (UA S. 4) verkündet wurde. Zutreffend wäre der 6. Juli 2023 (RevBegr. S. 14). Auf diesem Fehler, bei dem es sich um ein offensichtliches Schreibversehen handelt, kann das Berufungsurteil nicht beruhen, da das fälschlich angenommene Verkündungsdatum des amtsgerichtlichen Urteils keinerlei Einfluss auf den Schuldspruch und den Rechtsfolgenausspruch im landgerichtlichen Urteil hat.
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b) Gleiches gilt für die unzutreffende Feststellung der Tatzeit hinsichtlich der eingestellten Tat vom 29. November 2022.
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c) Auf der im Rahmen eines Schreibversehens unzutreffenden Mitteilung des Landgerichts in den Urteilsgründen, das Amtsgericht habe die vom Amtsgericht und nunmehr auch vom Landgericht verurteilte Tat „Ziffer 3 der Anklage“ nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, beruht das Urteil ebenfalls nicht. Die verurteilte Tat nach Ziffer 3 der Anklage wurde weder vom Amtsgericht noch vom Landgericht eingestellt. Die erwähnte Mitteilung im Urteil stellt ebenfalls keine Einstellung dar. Somit ist die Tat im gesamten Verfahrensgang nicht eingestellt worden, so dass eine Verurteilung erfolgen konnte.
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2) Der Senat kann offenlassen, ob die vom Landgericht im Rahmen des § 193 StGB vorgenommene Abwägung (UA S. 11) noch ausreichend ist oder ob sie zu knapp und damit lückenhaft ist. Selbst bei Annahme eines Rechtsfehlers würde das Urteil nicht auf diesem beruhen.
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a) Der eine Abwägung entbehrlich machende und damit die Meinungsfreiheit verdrängende Effekt, der mit einer Einordnung einer Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde, Schmähkritik oder Formalbeleidigung verbunden ist, gebietet es, diese Einordnung klar kenntlich zu machen und sie in einer auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen, gehaltvollen und verfassungsrechtlich tragfähigen Weise zu begründen. Diese Begründung darf sich bei der Schmähkritik nicht in der bloßen Behauptung erschöpfen, für den Äußernden habe die Diffamierung der Person im Vordergrund gestanden. Vielmehr sind die für diese Beurteilung maßgebenden Gründe unter Auseinandersetzung mit objektiv feststellbaren Umständen des Falles nachvollziehbar darzulegen. Insbesondere muss das Gericht deutlich machen, warum aus seiner Sicht ein gegebenenfalls vorhandenes sachliches Anliegen des Äußernden in der konkreten Situation derart vollständig in den Hintergrund tritt, dass sich die Äußerung in einer persönlichen Kränkung erschöpft. Entsprechend ist bei der Formalbeleidigung festzustellen, dass die verwendete Beschimpfung das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts verlässt und unabhängig von den Umständen grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar sein kann. Hält ein Gericht eine Äußerung ohne hinreichende Begründung für eine Antastung der Menschenwürde, Formalbeleidigung oder Schmähung, mit der Folge, dass eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entbehrlich wird, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 –, juris Rn. 23f).
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b) Im vorliegenden Fall hat das Landgericht zwar eine Abwägung durchgeführt, wobei der Senat offenlässt, ob diese den verfassungsgerichtlichen Vorgaben entspricht. Selbst bei Annahme eines Rechtsfehlers beruht das Urteil jedoch nicht darauf, weil eine vom Senat durchgeführte Abwägung zum Überwiegen der Belange des Persönlichkeitsschutzes der Verletzten und damit zur Strafbarkeit führt:
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i) Die gerichtliche Feststellung des Vorliegens der genannten Ausnahmetatbestände – gemeint ist u.a. die Formalbeleidigung – schließt eine hilfsweise Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit nach den konkreten Umständen des Falles nicht etwa aus. Ein solches Vorgehen bietet sich vielmehr in den vielfach nicht eindeutig gelagerten Grenzfällen an, zumal sich in solchen Fällen ohnehin die Waagschale nicht selten zum Persönlichkeitsschutz hinneigen wird, weil es nicht in erster Linie um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung geht, die Äußerung aber auf der anderen Seite das Persönlichkeitsrecht erheblich beeinträchtigt. (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 362/18 –, juris, Rn. 24).
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ii) Diese Abwägung kann der Senat aufgrund der sorgfältig getroffenen Feststellungen der Berufungskammer selbst vornehmen (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 4. Juli 2022 – 202 StRR 61/22 –, juris Rn. 13).
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(1) Dabei ist zugunsten der Meinungsäußerungsfreiheit in den Blick zu nehmen, dass es zwischen der Angeklagten und der Verletzten bereits vor der gegenständlichen Tat zu Spannungen im nachbarschaftlichen Verhältnis gekommen war. Anlass für diese war u.a das Bellen des Hundes der Geschädigten und der Umstand, dass die Geschädigte auf ihrer Terrasse Zigaretten rauchte, was die über der Geschädigten wohnende Angeklagte störte (UA S. 7). Die gegenständliche Äußerung erfolgte lediglich mündlich und war damit, anders als zum Beispiel eine im Internet veröffentlichte Äußerung, flüchtig und nicht gegenständlich fixiert, wie zum Beispiel auf einem Flugblatt.
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(2) Andererseits sind in die erforderliche Abwägung auch erhebliche Umstände einzubeziehen, die zu Gunsten des Rechts der persönlichen Ehre der von den Äußerungen der Angeklagten betroffenen Geschädigten sprechen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei zunächst dem Umstand zu, dass von vornherein ein vernünftiger oder nachvollziehbarer Anlass für die ehrverletzende Äußerungen nicht bestand und die Angeklagte nach den Feststellungen des Landgerichts das Streitgespräch gesucht hat (UA S. 11) Die getätigte Äußerung der Angeklagten zielte auch nicht darauf ab, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten und stellte auch keine sogenannte Machtkritik dar. Zwar erhielt nur die Nachbarin der Geschädigten von der ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass es sich bei dieser um eine im Nahbereich der Geschädigten wohnenden Person handelt. In deren Anwesenheit war die beeinträchtigende Wirkung der Äußerung bei der Betroffenen intensiver als bei Anwesenheit völlig fremder Personen. Schließlich ist auch zu sehen, dass es sich nicht etwa um eine spontane Äußerung in einer hitzigen Situation handelte, sodass ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung von der Angeklagten erwartet werden konnte. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Bezeichnung der Geschädigten durch die Angeklagte als „assoziales Pack“ (UA S. 6) eine massive Verletzung der persönlichen Ehre darstellt, bei der die Diffamierung der Geschädigten durchaus in den Vordergrund gerückt ist. Schlussendlich ist in den Blick zu nehmen, dass die Beleidigung der Geschädigten kein angemessenes Mittel war, um die bestehenden Konflikte zu lösen oder jedenfalls ein geordnetes Zusammenleben sicherzustellen. Insoweit hätte die Angeklagte vielmehr zivilrechtliche Schritte einleiten müssen anstatt zu Verbalinjurien zu greifen.
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(3) Bei einer wertenden Gegenüberstellung und Abwägung der genannten Gesichtspunkte hat die Meinungsäußerungsfreiheit der Angeklagten hinter dem Persönlichkeitsrecht der Verletzten zurückzutreten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.