Titel:
Voraussetzungen und Abgrenzung von Revision und Wiedereinsetzungsantrag
Normenkette:
StPO § 300, § 329 Abs. 3, § 333
Leitsatz:
Bei dem Wiedereinsetzungsgesuch nach § 329 Abs. 3 StPO und der Revision gegen das Verwerfungsurteil gemäß § 333 StPO handelt es sich zwar um unterschiedliche Rechtsbehelfe, für die unterschiedliche Voraussetzungen und Prüfungsmaßstäbe gelten. Lassen die Ausführungen jedoch nach ihrem Inhalt erkennen, dass sie sich auch gegen die Gründe des Verwerfungsurteils richten, wird gemäß § 300 StPO in der Regel auch eine Auslegung als Revision geboten sein. (Rn. 10 – 12) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Wiedereinsetzungsantrag, Revision, Auslegung, Gründe des Verwerfungsurteiles, Rechtsschutzziel
Vorinstanzen:
LG Augsburg, Urteil vom 24.05.2024 – 9 NBs 203 Js 122905/22
AG Augsburg, Urteil vom 23.05.2023 – 5 Cs 203 Js 122905/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 31758
Tenor
I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 24. Mai 2024 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
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Das Landgericht Augsburg hat mit Urteil vom 24. Mai 2024 die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 23. Mai 2023 gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 StPO mit der Begründung verworfen, der Angeklagte sei der Hauptverhandlung trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens ohne ausreichende Entschuldigung ferngeblieben.
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Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte für den Fall, dass ein gleichzeitig gestellter Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung keinen Erfolg haben würde, Revision eingelegt. Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat das Landgericht Augsburg mit Beschluss vom 19. Juli 2024 als unzulässig verworfen.
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Die Generalstaatsanwaltschaft M. beantragt mit Antragsschrift vom 12. Oktober 2024, die Revision kostenpflichtig als unzulässig zu verwerfen; vorsorglich führt die Generalstaatsanwaltschaft aus, das Rechtsmittel wäre im Übrigen auch unbegründet.
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Die Revision des Angeklagten ist zulässig, sie ist jedoch als unbegründet zu verwerfen. Eine zulässige Verfahrensrüge ist nicht erhoben; Verfahrenshindernisse, zu deren alleiniger Prüfung die konkludent erhobene Sachrüge veranlasst hat, haben sich nicht gezeigt.
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1. Der Senat sieht die Revision unter Heranziehung der Auslegungsregel des § 300 StPO als noch zulässig an.
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a) Sie wurde form- und fristgerecht mit Anwaltsschreiben vom 29. Mai 2024 eingelegt. Das Rechtsmittel war hilfsweise für den Fall der Ablehnung des gleichzeitig gestellten Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Diese, nach § 342 StPO zulässige, Bedingung ist eingetreten, denn der Antrag auf Wiedereinsetzung ist mit Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 19. Juli 2024, der nicht angefochten wurde, verworfen worden.
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b) Die Generalstaatsanwaltschaft verweist zwar zutreffend darauf, dass weder ein Revisionsantrag, wie von § 344 Abs. 1 StPO gefordert, noch eine Begründung des Rechtsmittels, § 344 Abs. 1, Abs. 2 StPO, in ausdrücklicher Form vorliegen. Es wird zudem nicht erklärt, ob eine Verfahrensrüge und/oder eine Sachrüge geltend gemacht werden soll.
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a) Der Senat legt dem Schreiben vom 29. Mai 2024 im Wege der Auslegung die Bedeutung bei, dass es neben einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und einer diesbezüglichen Begründung auch eine den Anforderungen des § 344 StPO gerade noch genügende Revisionsbegründung darstellt.
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aa) Der Schriftsatz weist nach der Bezeichnung beider eingelegter Rechtsbehelfe eine knappe Begründung auf, nach deren Inhalt der Angeklagte den Termin nicht ohne sein Verschulden versäumt habe. Er habe sich in Brasilien wegen eines strafrechtlichen Verfahrens gegen ihn in Arrest befunden.
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bb) Zwar handelt es sich, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, bei dem Wiedereinsetzungsgesuch nach § 329 Abs. 3 StPO und der Revision gegen das Verwerfungsurteil gemäß § 333 StPO um unterschiedliche Rechtsbehelfe, für die unterschiedliche Voraussetzungen und Prüfungsmaßstäbe gelten. Die gesetzliche Trennung zwischen Wiedereinsetzung und Revision ist hinzunehmen und beansprucht Geltung auch für die an die jeweilige Begründung zu stellenden Anforderungen.
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Andererseits sind gemäß § 300 StPO Irrtümer und Fehlbezeichnungen bei der Rechtsmitteleinlegung unschädlich. Aufgrund der Besonderheiten des gegenständlichen Rechtsmittelschreibens lässt sich diesem noch entnehmen, dass das Rechtsschutzbegehren gleichermaßen auf die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wie auch auf die Aufhebung des Urteils abzielt. Die Rechtsmittelbegründung schließt sich an beide dem Schriftsatz vorangestellte Anträge an, ohne sich erkennbar auf den Wiedereinsetzungsantrag zu beschränken, so dass sie räumlich auf beide Rechtsmittel bezogen werden kann. Zudem lassen die Ausführungen auch nach ihrem Inhalt erkennen, dass sie sich auch gegen die Gründe des Verwerfungsurteils richten. Der zur Entschuldigung vorgebrachte Umstand, dass sich der Angeklagte in seinem Heimatland Brasilien in Arrest befunden habe, ist nämlich Gegenstand auch schon der Urteilsgründe, die das (unspezifizierte) Vorbringen nicht als ausreichende Entschuldigung ansehen. Der Vortrag ist damit im Grundsatz geeignet, das Rechtsmittel der Revision mit der Behauptung zu begründen, dass das Urteil unter einem Rechtsfehler leide, und erlaubt eine dahingehende Auslegung.
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cc) Dieser Auslegung steht nicht entgegen, dass ein ausdrücklicher Revisionsantrag in Form einer Erklärung, in welchem Umfang das Urteil angefochten und seine Aufhebung beantragt werde, § 344 Abs. 1 StPO, nicht gestellt ist. Zwar ist von einer rechtskundigen Person wie einem Verteidiger grundsätzlich zu erwarten, dass seine Erklärungen regelgerecht abgegeben werden und den gewollten Rechtsbehelf unmissverständlich bezeichnen. Das schließt, wenn mehrere Rechtsbehelfe zulässig sind, nicht aus, dass das Vorbringen nach allgemeinen Grundsätzen und seinem Gesamtinhalt nach dem erkennbaren Interesse des Beschwerdeführers auszulegen ist. Das Fehlen eines ausdrücklichen (Revisions-)Antrags schadet nach allgemeinen Grundsätzen dann nicht, wenn das Ziel, das Urteil aufzuheben, aus dem Inhalt der Rechtsmittelschrift ersichtlich wird (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 1999, 4 StR 652/98, juris Rn. 3). Dies ist hier der Fall. Dem mit der Argumentation, das Verwerfungsurteil sei rechtsfehlerhaft, verfolgten Rechtsschutzziel kann allein durch vollständige Aufhebung des Verwerfungsurteils und Neuverhandlung der Sache zum Erfolg verholfen werden.
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dd) Der Senat legt das Rechtsmittelschreiben zudem dahin aus, dass die Sachrüge erhoben und damit ein zulässiger Revisionsgrund geltend gemacht worden ist.
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(1) Eine Verfahrensrüge in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 1 StPO entsprechenden Form ist nicht erhoben worden. Wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausführt (Vorlageschreiben S. 2), kann eine Verletzung des § 329 StPO nur mittels einer Formalrüge geltend gemacht werden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 329 Rn. 48 m.w.N.). Das Fehlen einer solchen macht das Rechtsmittel aber nicht schon insgesamt unzulässig. Es ist dann zu prüfen, ob eine Sachrüge zulässig erhoben ist.
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(2) Eine solche würde jedenfalls zu der Prüfung führen, ob Verfahrenshindernisse bestehen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rn. 49; BGH, Beschluss vom 6. Juni 1967, 5 StR 147/67, NJW 1967, 1476). Verfahrenshindernisse werden im gegenständlichen Rechtsmittelschriftsatz zwar nicht aufgezeigt, was gegen die Erhebung einer Sachrüge sprechen könnte. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass eine Begründung der Sachrüge nicht vorgeschrieben ist. Auch die Bezeichnung als Sachrüge ist nicht unbedingt erforderlich, wenn der Wille, das angegriffene Urteil in sachlicher Hinsicht überprüfen zu lassen, erkennbar wird (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 344 Rn. 44).
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Diese Voraussetzungen liegen unter Berücksichtigung der Auslegungsnorm des § 300 StPO im gegenständlichen Einzelfall vor. Der Beschwerdeführer wendet sich, wie ausgeführt, gegen die Urteilsgründe der Berufungsentscheidung. Bei Angriffen gegen Sachurteile ist das Urteil auf die allgemeine Sachrüge grundsätzlich auf etwaige Darstellungsmängel zu überprüfen. Auch wenn der Rechtsmittelführer rechtsirrig nicht erkannt haben mag, dass dies für ein Verwerfungsurteil nach § 329 StPO nicht gilt, da es sich allein auf Verfahrensrecht stützt, lässt dieser Irrtum den erkennbaren tatsächlichen Willen, eine Sachrüge zu erheben, unberührt. Anderenfalls würde die Frage der Erfolgsaussicht bzw. der Begründetheit eines erkennbar gewollten Rechtsmittels systemwidrig in die Zulässigkeitsprüfung verlagert.
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Im Übrigen liegt vorliegend der Wille zur Erhebung einer Sachrüge, die zur Prüfung auf Verfahrensfehler führt, auch deshalb nicht fern, weil der Angeklagte durch das Ersturteil wegen Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB verurteilt worden ist, während es bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts an einer Verfahrensvoraussetzung hierfür fehlte. Ein Strafantrag des Verletzten nach § 230 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StGB war nicht gestellt war, eine – ausdrückliche – Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 230 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StGB nicht erklärt. Da das Revisionsgericht diese Verfahrensvoraussetzung auf die Sachrüge von Amts wegen zu prüfen hat (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 49), bedurfte es auch keiner die Sachrüge insoweit konkretisierenden Begründung.
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2. Das Rechtsmittel erweist sich indessen als unbegründet. Die Nachprüfung des Urteils hat keinen auf die allein erhobene Sachrüge hin zu berücksichtigenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, § 349 Abs. 2 StPO.
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Auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft M. in ihrem Vorlageschreiben vom 12. Oktober 2024, soweit darin hilfsweise zur offensichtlichen Unbegründetheit der Revision ausgeführt wird (Schr. S. 3 f.), wird Bezug genommen.
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Lediglich folgende ergänzende Ausführung ist veranlasst:
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Der Senat hatte auf die Sachrüge hin von Amts wegen im Wege des Freibeweises zu überprüfen, ob die im Hinblick auf den im Ersturteil gefundenen Schuldspruch wegen Körperverletzung, § 223 Abs. 1 StGB, erforderlichen Verfahrensvoraussetzungen des § 230 Abs. 1 StGB vorlagen. Ein Strafantrag des Verletzten war nicht festzustellen, ebenso wenig – zunächst – die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses durch die Strafverfolgungsbehörde. Deren Antrag auf Erlass eines Strafbefehls vom 25. Juli 2022 war auf einen Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB gerichtet, auf den § 230 StGB keine Anwendung findet, und aus dem deshalb regelmäßig nicht geschlossen werden kann, es liege darin eine konkludente Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses (vgl. Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 230 Rn. 4 m.w.N.). Auch aus den Anträgen der Staatsanwaltschaft in den Hauptverhandlungen lässt sich ein solcher Wille nicht entnehmen.
22
Erst die ausdrückliche Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft (Vorlageschreiben S. 3) hat die erforderliche Verfahrensvoraussetzung geschaffen. Diese in der Revisionsinstanz abgegebene Erklärung genügt (Fischer a.a.O.).
23
Das Rechtsmittel bleibt damit ohne Erfolg.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.