Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 31.10.2024 – 103 ZBR-PAG 4/24
Titel:

Rechtsbeschwerde gegen Gewahrsamsanordnung nach bayerischem Landesrecht gegen sog. Klimakleber

Normenketten:
FamFG § 16 Abs. 2, § 62 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5, § 70 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 1 Nr. 3, S. 2, S. 3, Abs. 4, § 71, § 72 Abs. 1 S. 2, § 74 Abs. 2, Abs. 3 S. 3, S. 4, § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5, § 420, § 427, § 428 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
BayPAG Art. 4, Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 lit. a, lit. c, Art. 18, Art. 20 Abs. 2 S. 2, Art. 96 Abs. 1, Art. 99 Abs. 2 S. 2, S. 3, S. 4
StGB § 240 Abs. 1, Abs. 2
GG Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 8
ZPO § 222 Abs. 2, § 559, § 564
BayVersG Art. 15 Abs. 6
BayVwVfG Art. 41 Abs. 4 S. 2
Leitsätze:
1. Gegen die vorläufige, behördlich angeordnete Freiheitsentziehung zum Zwecke der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam kann keine Rechtsbeschwerde erhoben werden (Fortführung des Beschlusses vom 30. Mai 2022 – 103 ZBR-PAG 1/22, COVuR 2022, 400). (Rn. 21)
2. Hebt das Beschwerdegericht die Entscheidung des Erstgerichts über die Fortdauer des Gewahrsams auf, kann im Rechtsbeschwerdeverfahren die Dauer des vom Erstgericht zunächst angeordneten Gewahrsams nur unter dem Aspekt der Wiederholungsgefahr angegriffen werden. (Rn. 24 und 25)
3. Zum Prüfungsmaßstab im Rechtsbeschwerdeverfahren gemäß Art. 99 Abs. 2 S. 1 BayPAG i.V.m. §§ 72 Abs. 1 S. 2, 74 Abs.2, Abs. 3 S.3 und 4 FamFG.    (Rn. 36, 37 und 43)
4. Unterbindungsgewahrsam i.S.v. Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 BayPAG kann auch im Hinblick auf wiederholte und erneut angekündigte Verkehrsblockaden durch sogen. „Klimakleber“ verhängt werden. BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2024, 103 ZBR-PAG 4/24. (Rn. 64 – 77)
Schlagworte:
Klimaklaber, Sitzblockade, Nötigung, Unterbindungsgewahrsam, Prognoseentscheidung, Verhältnismäßigkeit, Gewahrsam, Feststellungsantrag, Feststellungsinteresse, Rehabilitierungsinteresse, Wiederholungsgefahr, Rechtsbeschwerde, Prüfungsmaßstab, Bayern
Vorinstanz:
LG München I, Beschluss vom 26.06.2024 – 13 T 11399/23
Fundstelle:
BeckRS 2024, 31658

Tenor

I. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des Landgerichts vom 26. Juni 2024 wird
1. als unzulässig verworfen,
a. soweit der behördliche Gewahrsam am 31. August 2023 zwischen 14.25 Uhr und 17.56 Uhr betroffen ist,
b. soweit die Anordnung des Gewahrsams ab dem 10. September 2023 ab 19.30 Uhr durch das Amtsgericht betroffen ist;
2. die weitergehende Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.
II. Die Betroffene hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
III. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 7.500,-- Euro.

Gründe

I.
1
1) Klimaaktivisten der ”Letzten Generation“ kündigten am 3. August 2023 die Kampagne ”100 für Bayern“ an. Nach eigenen Angaben der Gruppe sollte der ”Protest dahin, wo die Verdrängung und das Festkleben am ”Weiter-So“ besonders stark ist: Bayern.“ Ziel der Kampagne war es, in kurzer Zeit 2000-5000 Festnahmen zu provozieren und dadurch die Polizei zu überfordern. Am 14. August 2023 begannen die „Klimaaktivisten der Letzten Generation“ in W. ihre „Kampagne für Bayern“. Nach Blockadeaktionen am 17. und 18. August 2023 in N. und am 21. August 2023 in R. setzte die „Letzte Generation“ ihre Aktionen ab dem 24. August 2023 in M. fort. Am 18./19. August 23 verkündete die ”Letzte Generation“ mittels Pressemitteilung: ”Am Donnerstag, den 24. August 2023 um 8:00 Uhr werden wir überall in M. Straßen blockieren. Wir werden M. wochenlang zur Protesthochburg machen und so den Verfassungsbruch der Bundesregierung ins Licht der Öffentlichkeit rücken.“ In M. ereigneten sich am 24. August 2023 insgesamt 14 Aktionen an mehreren Örtlichkeiten. An den Blockaden beteiligten sich insgesamt 48 Personen, davon einige mehrfach. Am 25. August 2023 ereigneten sich vormittags 4 Aktionen. Dabei klebten sich 11 Personen auf die Fahrbahn. Am 25. August 2023 gab die Landeshauptstadt mit sofortiger Wirkung ein teilweises Versammlungsverbot in Form einer sofort vollziehbaren Allgemeinverfügung nach Art. 41 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG bekannt. Demnach waren unangemeldete Versammlungen verboten, wenn sie auf einer ”besonders kritischen Straße“ gemäß Anlage I der Allgemeinverfügung erfolgten und sich dabei Teilnehmende fest mit der Fahrbahn (z.B. durch Ankleben) verbanden. In der Folgezeit kam es in M. zu zahlreichen weiteren Aktionen mit Blockaden auf ”besonders kritischen Straßen“ i.S.d. Allgemeinverfügung.
2
2) Die Betroffene war an folgenden Aktionen auf ”besonders kritischen Straßen“ i.S.d. Allgemeinverfügung beteiligt:
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a) Am 29. August 2023 gegen 7:40 Uhr fand in der xstraße/xstraße in M. mit vier anderen Klimaaktivisten der ”Letzten Generation“ eine Blockadeaktion statt. Die Betroffene saß mit einer orangenen Warnweste bekleidet an zweiter Stelle von links auf der Fahrbahn und war mit der linken Hand mit dem Fahrbahnbelag verklebt. Beim Eintreffen der Polizei gegen 7:43 Uhr kam es bereits zu einem Rückstau von 120 Metern. Nach Auflösen der Versammlung gegen 08:49 Uhr war der Rückstau bereits ca. 150 Meter lang. Unter den anfangs 30 wartenden Fahrzeugen, nach Auflösung etwa 40, befanden sich auch zwei Linienbusse. Die Betroffene gab in der Beschuldigtenvernehmung in der Gefangenensammelstelle im Polizeipräsidium an: ”Ich finde meinen Protest legitim und werde diesen die nächsten 30 Tage in Bayern fortsetzen.“ Es erfolgte eine Belehrung und Gefährderansprache.
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b) Am 29. August 2023 fand gegen 18 Uhr in der x Allee/x Straße in M. mit zehn weiteren Mitgliedern der ”Letzten Generation“ eine Blockadeaktion statt. Die Betroffene saß mit vier weiteren Personen auf der Fahrbahn an zweiter Stelle und klebte mit der linken Hand an einem weiteren Beteiligten, welcher sich mit einer Hand an die Fahrbahn geklebt hatte. Durch die Blockade kam es beim Eintreffen der Polizei zu einem Rückstau von 700 Metern, in Fahrrichtung Nord war der Stau ca. 500 Meter lang. Nach Auflösung der Versammlung gegen 18:21 Uhr war der Rückstau aufgrund der Blockade der Fahrtrichtung Nord mehr als 2 km lang und in Fahrtrichtung Süd gegen 18:35 Uhr mehr als 1,5 km. Die weit mehr als 3.000 betroffenen Fahrzeuge auf der x Allee in südlicher Fahrrichtung stauten sich bis zur x Straße. Den Beteiligten wurde die Auflösung der Versammlung und mehrfach unmittelbarer Zwang angedroht. Schließlich wurden alle Beteiligten von der Fahrbahn weggetragen. In der Gefangenensammelstelle erfolgte erneut eine Gefährderansprache.
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c) Am 31. August 2023 fand gegen 7:45 Uhr auf der Kreuzung xring/x Straße in M. mit zehn weiteren Klimaaktivisten eine Blockadeaktion statt. Die Betroffene trug eine rote Warnweste und klebte mit ihrer rechten Hand auf dem Fahrbahnbelag und mit der linken Hand an ihrem Sitznachbarn. Wiederum wurde die Auflösung der Versammlung und unmittelbarer Zwang angedroht. Nach Ablösung der festgeklebten Personen wurden diese von Polizeibeamten auf den angrenzenden Grünstreifen getragen. Zu einer Verkehrsaufstauung kam es nicht, da die Polizeikräfte sogleich einschritten, nachdem sich die Aktivisten auf die Straße gesetzt und festgeklebt hatten. Die Straßenführung wurde zeitnah gesperrt und der Verkehr wurde abgeleitet. Die Betroffene gab in der Anhörung an: ”Ich finde meinen Protest legitim und werde diesen bis 30.09.23 fortsetzen. Also hier in Bayern.“ Es erfolgte wiederum eine Gefährderansprache sowie ein Platzverweis für den Kreuzungsbereich xring/x Straße im Umkreis von 100 Metern für den 31. August 2023.
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d) Am 31. August 2023 fand gegen 11:02 Uhr auf der Kreuzung xring/x Straße in M. mit sechs weiteren Personen eine Blockadeaktion statt. Aufgrund der schnellen Anwesenheit von Polizeibeamten vor Ort gelang es der Betroffenen nicht, sich an der Fahrbahn festzukleben. Lediglich eine beteiligte Person klebte sich an die Fahrbahndecke. Die anderen Beteiligten setzten sich auf die Fahrbahn. Die Auflösung der Versammlung und die Anwendung unmittelbaren Zwangs wurden angedroht. Die Beteiligten wurden sodann mittels unmittelbaren Zwang in den angrenzenden Grünstreifen verbracht und anschließend vorläufig festgenommen. Aufgrund des schnellen Eingreifens kam es lediglich zu geringen Auswirkungen auf den Fahrverkehr, da letztendlich nur ein Fahrstreifen nicht benutzbar war. Nach zweimaliger Androhung der Auflösung der Versammlung wurde die Versammlung aufgelöst und die Beteiligten, darunter auch die Beschwerdeführerin mittels unmittelbarem Zwang in den angrenzenden Grünstreifen verbracht. Um 11:32 Uhr wurde der Verkehr wieder freigegeben. Aufgrund des Verdachts der versuchten Nötigung wurden alle Beteiligten vorläufig festgenommen und in die Gefangenensammelstelle des Polizeipräsidiums M. verbracht. Um 14:25 Uhr wurde der Beschwerdeführerin erklärt, dass sie in Gewahrsam genommen wurde. Die Betroffene äußerte bei der Vernehmung, dass sie sich jeden Tag bis Ende September auf die Straße kleben werde.
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3) Das Polizeipräsidium hat am 31. August 2023 beim Amtsgericht u.a. die Anordnung des Gewahrsam bezüglich der Betroffenen bis zum 10. September 2023 um 19.30 Uhr beantragt. Zur Begründung für den Endtermin des beantragten Gewahrsams ist ausgeführt worden. Bis zum 10. September 2023 würde in M. die xmesse stattfinden. Aufgrund des Besucherandrangs und des dadurch erhöhten Verkehrsaufkommens würden Straßenblockaden während der Messe zu erhöhten Gefahrenlagen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung führen.
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4) Am 31. August 2023 ist die Betroffene in der Zeit von 17.50 Uhr bis 17.56 Uhr richterlich angehört worden. Die Betroffene erklärte gegenüber dem Amtsrichter: „Ich halte meinen Protest im Hinblick auf die Klimaerwärmung für legitim. Sobald ich aus dem Gewahrsam raus bin, werde ich weiter protestieren bis 30.09.2023. Ich werde mich weiterhin auf die Straße kleben.“ Nach der Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 31. August 2023 die Zulässigkeit der durch das Polizeipräsidium um 14.25 Uhr angeordnete Freiheitsentziehung festgestellt und deren Fortdauer bis längsten zum 30. September 2023 um 19.30 Uhr angeordnet. Die Betroffene wurde weiter in Gewahrsam gehalten und ist am 10. September 2023 zwischen 18.30 Uhr und 19.30 Uhr aus der JVA entlassen worden.
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5) Gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 31. August 2023 hat die Betroffene am 8. September 2023 Beschwerde eingelegt, der vom Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tag nicht abgeholfen worden ist. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 11. September 2023 die Anordnung der Fortdauer der Freiheitsentziehung durch das Amtsgericht bis 30. September 2023 mit Wirkung ab dem 10. September 2023, spätestens 19.30 Uhr, aufgehoben. Zur Begründung führte das Landgericht an, nach Entlassung der Betroffenen sei die weitere Anordnung der Freiheitsentziehung zur Klarstellung aufzuheben. Überdies sei der Gewahrsam auf den Höchstzeitraum zu beschränken, den die Antragstellerin im Antrag gemäß § 417 Abs. 1 Nr. 4 FamFG begründet habe, mithin auf den 10. September 2023, 19.30 Uhr. Die Anordnung einer über den Antrag der Behörde hinausgehenden Dauer der Freiheitsentziehung sei unzulässig. Mit dem Beschluss vom 26. Juni 2024 hat das Landgericht die Beschwerde der Betroffenen gegen den amtsgerichtlichen Beschluss zurückgewiesen, soweit die „Freiheitsentziehung bis 10.09.2023, 19:30 Uhr betroffen ist“.
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Im Übrigen hat es die Beschwerde „verworfen“.
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6) Gegen den Beschluss des Landgerichts vom 26. Juni 2024 hat die Betroffene mit Schreiben ihres Anwalts am 29. Juli 2024 Rechtsbeschwerde zum Bayerischen Obersten Landgericht eingelegt.
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a) Sie beantragt,
i) den Beschluss des Landgerichts vom 26. Juni 2024 aufzuheben und ii) festzustellen, dass die Entscheidung des Amtsgerichts vom 31. August 2023 insgesamt rechtswidrig war und die Beschwerdeführerin in ihren Rechten verletzt hat.
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b) Zur Begründung wird – zusammengefasst – ausgeführt, die Rechtsbeschwerde sei insgesamt, also hinsichtlich aller Gewahrsamszeiträume, zulässig, weil die Beschwerdeführerin ein berechtigtes Interesse an der Feststellung habe, vom Amtsgericht in ihren Rechten verletzt worden zu sein. Die Rechtsbeschwerde sei auch begründet. Hinsichtlich des Zeitraums nach der Entlassung der Betroffenen am 10. September 2023 bestehe entgegen der Meinung des Landgerichts ebenfalls ein Feststellungsinteresse der Betroffenen. Die Gewahrsamnahme der Betroffenen sei „insgesamt“ rechtswidrig gewesen, weil Art. 20 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 17 Abs. 1 PAG verfassungswidrig sei, weil die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 PAG nicht vorgelegen hätten und weil die Gewahrsamsanordnung unverhältnismäßig gewesen sei. Zusätzlich habe das Amtsgericht in verfassungswidriger Weise den Präventivgewahrsam über den Antrag der Polizei hinaus verlängert.
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c) Der Senat hat das Polizeipräsidium an dem Rechtsbeschwerdeverfahren beteiligt. Die Behörde hält die Rechtsbeschwerde für unzulässig und jedenfalls für unbegründet.
II.
A.
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Die Rechtsbeschwerde ist im tenorierten Umfang unzulässig. Im Übrigen ist sie zulässig.
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Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde sind drei unterschiedliche Gewahrsamszeiträume auseinanderzuhalten. Zunächst wurde die Betroffene am 31. August 2023 um 14.25 Uhr in behördlichen Gewahrsam genommen. Nach der richterlichen Anhörung ordnete das Amtsgericht nach Beendigung der Anhörung der Betroffenen mit Beschluss vom 31. August 2023 ab 17.57 Uhr den richterlich genehmigten Gewahrsam an. Nach der Entlassung der Betroffenen am 10. September schließt sich der Zeitraum bis 30. September 2023 um 19.30 Uhr an, für den das Amtsgericht den Gewahrsam längstens für zulässig erklärt hat, wobei die Anordnung für diesen Zeitraum vom Landgericht mit Beschluss vom 11. September 2023 bereits aufgehoben wurde.
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Die Rechtsbeschwerde ist nur teilweise zulässig:
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1) Das Rechtsmittel der Betroffenen ist gemäß § 70 Abs. 4 FamFG analog nicht statthaft, soweit sie sich gegen den polizeilichen, also den behördlichen, Gewahrsam am 31. August 2023 ab 14.25 Uhr bis zum Erlass des amtsgerichtlichen Beschlusses wendet:
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a) Gemäß Art. 99 Abs. 2 Satz 2 BayPAG findet in Freiheitsentziehungssachen nach dem Polizeiaufgabengesetz als Rechtsmittel gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts die Rechtsbeschwerde nach Maßgabe der §§ 70 bis 75 FamFG statt. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde richtet sich nach § 70 FamFG. Nach dieser Bestimmung ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn das Beschwerdegericht sie aus einem der in § 70 Abs. 2 FamFG genannten Gründe zugelassen hat (§ 70 Abs. 1 FamFG), sowie darüber hinaus in Freiheitsentziehungssachen ohne Zulassung, wenn sie sich gegen den die Freiheitsentziehung anordnenden oder in den in § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG genannten Verfahren gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss richtet (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2, 3 FamFG). Demgegenüber findet nach § 70 Abs. 4 FamFG gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests die Rechtsbeschwerde nicht statt.
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b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt für das Aufenthaltsrecht Folgendes: Der Regelung des § 70 Abs. 4 FamFG unterfällt die vorläufige richterliche Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung nach § 427 FamFG i. V. m. § 62 AufenthG. Dem gleich steht die einer richterlichen Beschlussfassung vorgelagerte Möglichkeit der Behörde, einen Ausländer unter strengen Voraussetzungen für einen kurzen Zeitraum vorläufig in Gewahrsam zu nehmen, um diesen unverzüglich dem Richter vorzuführen (§ 428 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 62 Abs. 5 AufenthG). Denn nach § 428 Abs. 2 FamFG ist auch über die Anfechtung behördlich angeordneter Freiheitsentziehungen im Sinne von § 428 Abs. 1 Satz 1 FamFG „nach den Vorschriften dieses Buches“ zu entscheiden. Daraus wird deutlich, dass der gerichtliche Rechtsschutz gegen solche Maßnahmen den Regelungen folgen soll, die auf die Anfechtung gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehungen Anwendung finden. Hierzu zählt § 70 Abs. 4 FamFG (BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020, StB 23/18, juris Rn. 12).
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c) Für die behördlich angeordnete Freiheitsentziehung zum Zweck der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam nach den Vorschriften des bayerischen Polizei- und Ordnungsrechts gilt nichts anderes. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, der es insoweit rechtfertigen würde, im Hinblick auf das Rechtsmittelrecht zwischen den beiden Rechtsgebieten zu differenzieren. Vielmehr ist in der jeweils zu beurteilenden Verfahrenskonstellation der maßgebliche sachliche Grund für den Ausschluss der Rechtsbeschwerde, dass der behördliche Gewahrsam im Vorfeld der richterlichen Entscheidung generell nur vorläufigen Charakter hat (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2022, 3 ZB 4/21, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020, StB 23/18, juris Rn. 13; BayObLG, Beschluss vom 30. Mai 2022, 103 ZBR-PAG 1/22, BayVBl. 2022, 790; BayObLG, Beschluss vom 1. Dezember 2023, 103 ZBR-PAG 2/23, BayVBl. 2024, 175).
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d) Nach den aufgezeigten Maßstäben ist die Rechtsbeschwerde im vorliegenden Verfahren hinsichtlich der Zeit des behördlichen Gewahrsams bis zum Erlass des richterlichen Beschlusses nicht statthaft. Die Betroffene begehrt unter anderem die Feststellung, dass die Entscheidung des Amtsgerichts vom 31. August 2023 „insgesamt rechtswidrig war“. Nachdem der amtsgerichtliche Beschluss auch den behördlichen Gewahrsam der Betroffenen abdeckte, begehrt die Rechtsbeschwerde auch diesbezüglich eine Entscheidung des Senats. Die Rechtsbeschwerde ist mit dieser Angriffsrichtung analog § 70 Abs. 4 FamFG nicht eröffnet und daher unzulässig.
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2) Das Rechtsmittel der Betroffenen, bezogen auf den Zeitraum nach ihrer Entlassung am 10. September 2023 aus dem Gewahrsam, ist ebenfalls unzulässig. Hinsichtlich dieses Zeitraums hat sich die Hauptsache erledigt und die Betroffene hat kein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass sie in ihren Rechten verletzt worden ist, § 62 Abs. 1 und 2 FamFG:
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a) Nach § 62 Abs. 1 FamFG spricht das Beschwerdegericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt und der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat. Diese Vorschrift findet nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechende Anwendung. Ein berechtigtes Interesse liegt gemäß § 62 Abs. 2 FamFG in der Regel vor, wenn entweder schwerwiegende Grundrechtseingriffe vorliegen oder eine Wiederholung konkret zu erwarten ist. Erforderlich ist allgemein ein schützenswertes Interesse daran, eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Ein schwerwiegender Grundrechtseingriff liegt unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung dann nicht vor, wenn diese Haft nicht vollzogen worden ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein tiefgreifender Grundrechtseingriff insbesondere im Fall einer Freiheitsentziehung gegeben. Zudem indiziert eine unberechtigte Inhaftierung ein Rehabilitierungsinteresse. Das mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff verbundene Rehabilitierungsinteresse ist jedoch grundsätzlich nur dann zu bejahen, wenn es infolge der angefochtenen Entscheidung auch zu einem effektiven Eingriff in die Rechte des Betroffenen gekommen, die Rechtsverletzung also auch als solche eingetreten ist. Das ist nicht der Fall, wenn die – unterstellt rechtswidrig – angeordnete Haft gar nicht vollzogen worden und somit die persönliche Bewegungsfreiheit des Betroffenen nicht eingeschränkt worden ist. Denn dann ist auch die gerade mit dem (unrechtmäßigen) Freiheitsentzug verbundene Verletzung der Persönlichkeit nicht eingetreten (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – XIII ZB 47/21, BeckRS 2023, 40557, Rn 8-12). Für die Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG ist jedenfalls dann kein Raum, wenn und soweit das Vorliegen des Rechtsfehlers noch vor Eintritt der Erledigung jedenfalls inzident festgestellt worden ist (BGH, Beschluss vom 5. Juni 2024 – XII ZB 463/23, BeckRS 2024, 20225 Rn. 21). Im Hinblick auf eine Wiederholungsgefahr gilt: Ist ungewiss, ob in Zukunft noch einmal die gleichen tatsächlichen Verhältnisse eintreten wie im Zeitpunkt der betreffenden Maßnahme, so kann ein Feststellungsinteresse nicht aus einer Wiederholungsgefahr hergeleitet werden (vgl. zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO: VGH München, Beschluss vom 12. Mai 2015 – 10 ZB 13.632, BeckRS 2015, 46384 Rn. 8).
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b) So liegt der Fall hier: Das Landgericht hat in seinem Beschluss vom 11. September 2023, also vor Eintritt der Erledigung des amtsrichterlichen Beschlusses am 30. September 2023 um 19.30 Uhr, die Anordnung der Fortdauer der Freiheitsentziehung mit Wirkung ab dem 10. September 2023, spätestens 19.30 Uhr, aufgehoben. Es hat in den Gründen ausdrücklich festgestellt, dass die Anordnung einer über den Antrag der Behörde hinausgehenden Dauer der Freiheitsentziehung unzulässig ist. Damit hat das Landgericht gleichzeitig inzident festgestellt, dass die amtsgerichtliche Anordnung der Fortdauer des Gewahrsams über den Antrag der Behörde hinaus bis längstens 30. September 2023 um 19.30 Uhr rechtswidrig war. Durch den Beschluss des Landgerichts vom 11. September 2023 ist eine Beschwer der Betroffenen, die durch eine unzulässige Anordnung des Amtsgerichts möglicherweise entstanden sein könnte, beseitigt worden. Auch eine Wiederholungsgefahr nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 FamFG, die die Betroffene befürchtet, besteht nicht. Sie hat vor dem Amtsrichter zwar angegeben, sie wolle sich weiterhin an Protesten beteiligen. Dies hat die Betroffene jedoch vor dem Vollzug des gerichtlichen Gewahrsams geäußert. Trotz dieser Äußerung war und ist jedoch nicht sicher, dass sie nach Vollzug des Gewahrsams weitere Verkehrsblockaden durchführen wird. Vielmehr besteht die naheliegende Möglichkeit, dass der Vollzug des Gewahrsams mit dem Entzug der Freiheit eine Änderung ihrer Absichten bewirkt hat. Vor diesem Hintergrund ist offen und damit ungewiss im oben genannten Sinne, ob sie sich nach dem Gewahrsamsvollzug tatsächlich wieder an Aktionen beteiligen würde, die zu einer Ingewahrsamnahme führen könnten. Zudem wären, sofern sie an weiteren Aktionen teilnehmen würde, die tatsächlichen Umstände der Handlungen der Betroffenen neu festzustellen und von den Gerichten zu würdigen. Es ist daher eine Wiederholung im Sinne von § 62 Abs. 2 Nr. 2 FamFG nicht konkret zu erwarten.
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3) Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des Landgerichts ist zulässig, soweit sie sich auf den gerichtlichen Gewahrsam vom 31. August ab 17.57 Uhr bis zum 10. September 2023 um 19.30 Uhr bezieht:
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a) Die Rechtsbeschwerde ist insoweit statthaft:
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i) Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde gegen den auf Beschwerde ergangenen Beschluss des Landgerichts zum Bayerischen Obersten Landesgericht ergibt sich aus Art. 99 Abs. 2 Satz 1 bayerisches Polizeiaufgabengesetz (BayPAG). Danach findet gegen im zweiten Rechtszug in der Hauptsache ergangenen Entscheidungen der Landgerichte in Angelegenheiten nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz die Rechtsbeschwerde nach Maßgabe der §§ 70 bis 75 FamFG statt. Gemäß § 70 Abs. 3 Nr. 3 FamFG ist daher in Freiheitsentziehungssachen die Rechtsbeschwerde auch ohne die grundsätzlich erforderliche Zulassung nach § 70 Abs. 1 FamFG statthaft, sofern sie sich gegen den Beschluss richtet, der die Freiheitsentziehung anordnet (§ 70 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Damit ist allerdings nicht nur der Anordnungsbeschluss selbst gemeint, sondern auch derjenige Beschluss, mit dem das Beschwerdegericht die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen und damit die erstinstanzliche Anordnung der Freiheitsentziehung aufrechterhalten hat (BeckOK FamFG/Obermann, 51. Ed., 1. August 2024, FamFG § 70 Rn. 40). Umfasst sind auch die Fälle, in denen sich die Freiheitsentziehung durch Zeitablauf erledigt hat und der Betroffene nach § 62 FamFG, der wegen Artikel 99 Abs. 2 Satz 2 BayPAG entsprechend anzuwenden ist, das Ziel verfolgt, die bewirkte Verletzung des Freiheitsgrundrechts festzustellen (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 – 3 ZB 8/19 –, juris Rn. 9).
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ii) Nach diesen Maßgaben ist die Rechtsbeschwerde im vorliegenden Fall statthaft, da sie sich gegen den in dieser Sache ergangenen Beschluss des Landgerichts vom 26. Juni 2024 richtet, soweit mit diesem die Beschwerde der Betroffenen gegen die unmittelbar freiheitsentziehende Entscheidung des Amtsgerichts bis zum 10. September 2023, 19.30 Uhr verworfen worden ist.
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b) Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Es ist insbesondere form- und fristgerecht beim Bayerischen Obersten Landesgericht durch einen Rechtsanwalt eingelegt worden.
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i) Gemäß Art. 99 Abs. 2 Satz 1 BayPAG i.V.m. § 71 FamFG ist die Rechtsbeschwerde binnen einer Frist von einem Monat nach der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses durch Einreichen einer Beschwerdeschrift bei dem Rechtsbeschwerdegericht einzulegen. Gemäß Art. 99 Abs. 2 Satz 3 BayPAG entscheidet über diese Rechtsbeschwerden das Bayerische Oberste Landesgericht, wobei sich die Beteiligten mit Ausnahme zweier hier nicht vorliegender Sonderfälle durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen (Art. 99 Abs. 2 Satz 4 BayPAG).
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ii) Der angegriffene Beschluss des Landgerichts ist dem Prozessbevollmächtigten der Betroffenen mittels beA-Versand am 27. Juni 2024 zugestellt worden. Die von Rechtsanwalt xx verfasste Rechtsbeschwerdeschrift ging beim Bayerischen Obersten Landesgericht am 29. Juli 2024 ein. Nachdem es sich bei dem 27. Juli 2024 um einen Samstag handelte, ist der Eingang am 29. Juli 2024 fristgerecht, Art. 96 Abs. 1 BayPAG i.V.m § 16 Abs. 2 FamFG und § 222 Abs. 2 ZPO.
B.
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Die Rechtsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, nicht begründet:
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Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht angenommen, dass die vom Amtsgericht angeordnete Freiheitsentziehung dem Grunde und der Dauer nach – also mit Erlass des amtsgerichtlichen Beschlusses am 31. August 2023 bis zur Haftentlassung der Betroffenen am 10. September 2023 – der Sach- und Rechtslage entsprach. Die Beschwerdeentscheidung begegnet auch keinen sonstigen rechtlichen Bedenken, die dem Rechtsmittel zum Erfolg verhelfen würden.
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1) Prüfungsgegenstand im Rechtsbeschwerdeverfahren ist allein der Beschluss des Landgerichts vom 26. Juni 2024. Hat – wie hier – bereits das Beschwerdegericht nach Hauptsacheerledigung über den Fortsetzungsfeststellungsantrag befunden, geht es im Rechtsbeschwerdeverfahren nur um die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung. Ob die gerichtliche Anordnung des Gewahrsams zu Recht ergangen ist, ist dabei lediglich inzident zu prüfen. Prüfungsgegenstand ist allein der Beschluss des Landgerichts (vgl. BGH Beschluss vom 17. Dezember 2020 – 3 ZB 8/19, juris, Rn. 17).
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2) Der Prüfungsmaßstab im Rechtsbeschwerdeverfahren ist gemäß Art. 99 Abs. 2 Satz 1 BayPAG in Verbindung mit § 72 Abs. 1 Satz 2, § 74 Abs. 2, 3 Satz 3 und 4 FamFG eingeschränkt:
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a) § 74 Abs. 3 Satz 3 FamFG regelt, dass auf Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, die angefochtene Entscheidung nur geprüft werden darf, wenn die Mängel nach § 71 Abs. 3 FamFG und § 73 Satz 2 FamFG gerügt worden sind. Derartige Verfahrensrügen sind im vorliegenden Verfahren nicht erhoben worden. Mängel im amtsgerichtlichen Verfahren, die vom Rechtsbeschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen sind und die die Rechtswidrigkeit der angeordneten Maßnahme zur Folge hätten, sind hier nicht ersichtlich:
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i) Gemäß Art. 18 BayPAG ist, wenn eine Person – wie hier – nach Art. 17 BayPAG festgehalten wird, von der Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeizuführen. Artikel 96 Abs. 1 BayPAG verweist, soweit eine gerichtliche Entscheidung nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz vorgesehen ist, hinsichtlich des zu beachtenden Verfahrens auf die Vorschriften des Buches 1 und für Freiheitsentziehungsverfahren zusätzlich des Buches 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG).
39
ii) Die Betroffene ist um 14.25 Uhr in Gewahrsam genommen und am selben Tage um 17.50 Uhr dem zuständigen Amtsrichter am Amtsgericht vorgeführt worden. Zweck der Vorführung war die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung. Die Vorführung erfolgte demnach ca. 3 ½ Stunden nach der Ingewahrsamnahme der Betroffenen. Eine derartige Zeitspanne ist unter Berücksichtigung von Gesichtspunkten der Eigensicherung der beteiligten Polizeibeamten, der Transportzeiten, des zu beachtenden Verfahrens und der notwendigen Terminsabsprache mit dem zuständigen Richter unverzüglich im Sinne des Art. 18 BayPAG.
40
iii) Hinsichtlich des vom FamFG vorgeschriebenen Verfahrensablaufs vor dem Amtsgericht sind ebenfalls keine Mängel ersichtlich.
41
(1) Der nach § 417 FamFG erforderliche Freiheitsentziehungsantrag der Polizei lag vor und entsprach inhaltlich den Anforderungen von § 417 Abs. 2 FamFG.
42
(2) Die nach § 420 FamFG erforderliche persönliche Anhörung der Betroffenen vor der richterlichen Anordnung der Freiheitsentziehung fand am 31. August 2023 zwischen 17.50 Uhr und 17.56 Uhr vor dem Amtsrichter statt.
43
b) Weiter werden nach § 74 Abs. 3 Satz 3 FamFG die §§ 559, 564 der Zivilprozessordnung für entsprechend anwendbar erklärt. Nach § 559 ZPO unterliegt nur dasjenige Parteivorbringen der Beurteilung durch das Revisionsgericht, das aus dem Berufungsurteil oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist sowie die in der Revisionsbegründung vorgebrachten Tatsachen. Übertragen auf die amtswegig zu führenden Verfahren nach dem FamFG bedeutet dies, dass das Rechtsbeschwerdegericht an den Tatsachenstoff gebunden ist, den das Beschwerdegericht bei Erlass seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Dieser ergibt sich grundsätzlich nur aus der Beschwerdeentscheidung selbst und dem aus dem Sitzungsprotokoll bzw. den Vermerken über Anhörungstermine ersichtlichen Vorbringen der Beteiligten. Das Rechtsbeschwerdegericht hat folglich über das Rechtsbeschwerdevorbringen hinaus nicht den gesamten aus der Verfahrensakte ersichtlichen Sachvortrag der Verfahrensbeteiligten zur berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2013 – V ZB 107/13 Rn. 3, BeckRS 2014,2536; MüKoFamFG/A. Fischer, 3. Aufl. 2018, FamFG § 74 Rn. 6; a.A. Sternal/Göbel, FamFG, 21. Aufl., § 74 Rn. 29.). Das Rechtsbeschwerdegericht überprüft im Rahmen der Rechtsbeschwerde die Beurteilung der Vorinstanz in ihrer Gesamtheit im Hinblick auf die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe. In Fällen, in denen eine individuelle Beurteilung nicht typisierbarer Einzelfälle, die Beurteilung persönlicher Eigenschaften und Fähigkeiten, eine Prognose oder eine aus sonstigen besonderen Gründen nicht über den Einzelfall hinaus verallgemeinerungsfähige Entscheidung erforderlich ist, steht dem Tatrichter allerdings ein Beurteilungsspielraum zu (BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020, 3 ZB 1/20, juris, Rn. 14). Damit obliegt dem Senat in derartigen Fällen die Prüfung, ob das Landgericht Rechtbegriffe, denen eine derartige individuelle Beurteilung zugrunde liegt, zutreffend erfasst und ausgelegt hat, d.h. vor allem die dem Begriff zugrundeliegenden Wertungsmaßstäbe erkannt und herangezogen hat, und ob alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt sowie vollständig und widerspruchsfrei ohne Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze gewürdigt worden sind (vgl. BGH, a.a.O, Rn. 15) .
44
3) Die Begründung der angefochtenen landgerichtlichen Entscheidung trägt die Verwerfung der Beschwerde der Betroffenen. Die inzidente Feststellung der Rechtmäßigkeit der durch das Amtsgericht nach der richterlichen Anhörung angeordneten Ingewahrsamnahme der Betroffenen am 31. August 2023 ab 17.57 Uhr bis zur Entlassung aus der JVA am 10. September 2023 zwischen 18.30 Uhr und 19.30 Uhr ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Aus der Begründung der Beschwerdeentscheidung und dem Gesamtzusammenhang der Beschwerdegründe ergibt sich, dass das Landgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat, der Anwendungsbereich von Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 BayPAG sei im vorliegenden Fall grundsätzlich eröffnet und die für die Ingewahrsamnahme erforderliche Begehung einer Straftat durch die Betroffene habe unmittelbar bevorgestanden. Die angeordnete Maßnahme sei auch unerlässlich, um die Straftat zu verhindern und habe bis zum Zeitpunkt der Haftentlassung auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne entsprochen.
45
a) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht angenommen, der Anwendungsbereich von Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 BayPAG sei im vorliegenden Fall eröffnet. Es kann der Anwendung dieser Norm nämlich nicht die sogenannte Polizeifestigkeit einer Versammlung entgegengehalten werden.
46
i) Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird. Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. Der Schutz des Art. 8 GG besteht zudem unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist. Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 32f). Gemäß Art. 15 Abs. 6 BayVersG ist eine verbotene Versammlung aufzulösen. Voraussetzung für die Anwendung dieser Regelung ist ein wirksames und vollziehbares Verbot der Versammlung. Auf die Rechtmäßigkeit des Verbots kommt es für die Beurteilung einer Auflösungsverfügung nach Art. 15 Abs. 6 BayVersG nicht an. Möchte der Veranstalter eine Versammlung trotz eines Verbots abhalten, muss er das Verbot gerichtlich angreifen und im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes versuchen, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage zu erreichen (BeckOK PolR Bayern/M. Müller, 24. Ed. 1. März 2024, BayVersG Art. 15 Rn. 219).
47
ii) Im vorliegenden Fall hatte die Landeshauptstadt am 25. August 2023 mit sofortiger Wirkung ein teilweises Versammlungsverbot in Form einer sofort vollziehbaren Allgemeinverfügung nach Art. 41 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG bekanntgemacht. Demnach waren alle unangemeldeten Versammlungen verboten, wenn sie auf einer ”besonders kritischen Straße“ gemäß Anlage I der Allgemeinverfügung erfolgten und sich dabei Teilnehmende fest mit der Fahrbahn (z.B. durch Ankleben) verbanden. Die Betroffene hatte am 31. August 2023 gegen 11.02 Uhr an einer durch die Allgemeinverfügung verbotenen Versammlung teilgenommen. Eine an dieser Aktion beteiligte Person hatte sich bereits an den Fahrbahnbelag geklebt. Diese Versammlung fand auf einer „besonders kritischen Straße“ i.S.d. Allgemeinverfügung statt. Die Versammlungen wurde von der Polizei vor Ort vor der Freigabe des Verkehrs um 11.32 Uhr aufgelöst. Ab dem Zeitpunkt der Auflösung der Versammlungen durch die Polizei endete der Schutz durch Art. 8 GG und damit auch die Polizeifestigkeit der Versammlung. Die Befugnisnormen des allgemeinen Polizeirechts und damit auch Art. 17 BayPAG waren ab diesem Zeitpunkt und jedenfalls bei der Ingewahrsamnahme der Betroffenen an diesem Tag um 14.25 Uhr anwendbar.
48
b) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht angenommen, dass die prognostisch von der Betroffenen künftig zu erwartende Handlung eine strafbare Nötigung nach § 240 StGB oder deren Versuch darstellt:
49
i) Die Verkehrsblockaden der Betroffenen auf verkehrsreichen Straßen in M. verwirklichen den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Nötigung oder bei sehr schnellem Einschreiten der Polizei jedenfalls den Tatbestand einer versuchten Nötigung, § 240 Abs. 1 StGB:
50
(1) Die Frage, ob bei derartigen Sitzblockaden „Gewalt“ i.S.v. § 240 StGB durch eine daran teilnehmende Person ausgeübt wird, ist höchstrichterlich geklärt. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, strafbare Nötigung durch Gewalt kann demnach vorliegen, wenn der Einfluss auf die Opfer bei nur geringem körperlichen Aufwand dergestalt physischer Art ist, dass die beabsichtigte Fortbewegung durch tatsächlich nicht überwindbare Hindernisse unterbunden wird. Der Verurteilung wegen Nötigung steht nicht entgegen, dass die die Straße versperrenden Personen nicht selbst mit eigener Hand (oder eigenem Körper) in unmittelbarem Kontakt auf die nachfolgenden Kraftfahrer eingewirkt haben. Die physische Sperrwirkung der von ihnen zuerst angehaltenen Fahrzeuge auf die Nachfolgenden ist ihnen zuzurechnen. Denn Nötigung ist weder ein eigenhändiges Delikt noch verlangt es die unmittelbare Begegnung von Täter und Opfer. Der angestrebte Erfolg kann auch dadurch erreicht werden, dass sich der Täter einer Sache oder einer Person bedient, um dem zu Nötigenden ein physisches Hindernis zu bereiten. Auf welche Weise er das tut, spielt im Verhältnis zu dem in der Fortbewegung gehemmten Adressaten keine Rolle. So können – etwa – die auf einem Parkplatz sich befindenden Kraftfahrzeugführer dadurch genötigt werden, dass der Täter ein in der Ausfahrt stehendes Fahrzeug auf irgendeine Art fahrunfähig und dadurch die Ausfahrt unpassierbar macht. Möglich wäre auch, dass der Täter den Führer eines Fahrzeugs durch Bedrohung zum Anhalten zwingt und dadurch den nachfolgenden Verkehrsteilnehmern ein physisches Hindernis absichtlich bereitet; der erste Führer wäre dann durch Drohung, die folgenden – die von der Drohung möglicherweise nichts wissen – wären durch Zwang genötigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Instrumentalisierung des ersten als Hindernis für sich strafbar oder straflos ist. Ausschlaggebend ist allein die vom Täter bezweckte physische Wirkung auf den oder die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer (BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 – 1 StR 126/95 –, juris Rn. 16f).
51
(2) Hier benutzte die Betroffene die von ihr (möglicherweise nur) durch psychischen Zwang angehaltenen Wagen der ersten Reihe als Mittel zur Bildung einer Barriere für die nachfolgenden Autofahrer der zweiten Reihe. Letztere konnten dann aufgrund von physischem Zwang durch die Wagen der ersten Reihe ihre Fahrt nicht fortsetzen. Gerade dieser Aufbau von tatsächlich nicht mehr zu überwindenden Hindernissen entsprach den Vorstellungen der Betroffenen als der notwendigen und gewollten Folge ihres Verhaltens. Diese Subsumtion wird von der Rechtsbeschwerde auch nicht bezweifelt.
52
ii) Die Rechtsbeschwerde ist aber der Ansicht, Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 BayPAG sei verfassungskonform dergestalt auszulegen, dass als Anlasstaten nur Straftaten von „erheblicher Bedeutung“ herangezogen werden dürften. Nötigungen i.S.v. § 240 StGB würden nach Ansicht der Rechtsbeschwerde als Anlasstat für eine Ingewahrsamnahme nicht schwerwiegend genug sein. Dem folgt der Senat nicht: Wie die Rechtsbeschwerde zutreffend feststellt, genügt für die Anordnung des Unterbindungsgewahrsams nach dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 BayPAG bereits jede Straftat als Anlasstat. Für eine einschränkende Auslegung dieser Norm, wie es die Rechtsbeschwerde für erforderlich hält, dass nur Straftaten gegen Leib oder Leben, schwerer Landfriedensbruch oder ähnlich gewichtige Straftaten den Gewahrsam rechtfertigen würden, besteht kein Anlass. In Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 BayPAG ist zusätzlich Erfordernis der „Unerlässlichkeit“ niedergelegt und gemäß Art. 4 BayPAG ist im Polizeirecht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besonders zu beachten. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass bei Straftaten, die als Bagatellfall anzusehen ist, kein Unterbindungsgewahrsam verhängt wird. Soweit die Rechtsbeschwerde im Hinblick auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 17 BayPAG auf die Kommentierung von Di Fabio (Dürig/Herzog/Scholz, 104 EL April 2024, GG, Art. 2 Abs. 2 Nr. 2, Rn 85) hinweist, ergeben sich daraus keine anderen Folgerungen. Es wird dort insbesondere für die Auslegung von polizeilichen Generalklauseln ausgeführt, dass Unterbindungsgewahrsam zur Verhinderung von Angriffen gegen Leib oder Leben, schwerem Landfriedensbruch oder ähnlich gewichtigen Straftaten „in Betracht kommt“. Dass der Unterbindungsgewahrsam bei den genannten Straftaten in Betracht kommt, bedeutet aber nicht, dass er nur und ausschließlich in derartigen Fällen und nicht auch bei weniger gewichtigen Straftaten, sofern im konkreten Fall der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten wird, verhängt werden kann. Zudem sind die im konkreten Fall von der Betroffenen beabsichtigten Verkehrsblockaden unter den Begriff der „gewichtigen Straftat“ zu subsumieren. Dies folgt aus dem Umstand, dass sie bereits zuvor gleichartige Taten begangen hat, dass jegliche niedrig-schwellige Reaktion (Gefährderansprache, Platzverweis) der Polizei sie nicht von weiteren derartigen Handlungen abhalten konnte, dass sie zahlreiche Autofahrer am Weiterfahren hindern will, ohne dass diese konkret Anlass zur Blockade gegeben hätten, und dass die Betroffene die Behinderung des Verkehrs und einer Vielzahl von Autofahrern gerade beabsichtigte.
53
iii) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht weiter angenommen, die künftig zu erwartende Nötigungshandlung durch die Betroffene sei verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB:
54
(1) Die Rechtswidrigkeit jeder Nötigung hängt davon ab, dass die Anwendung von Gewalt zu dem angestrebten Zweck verwerflich ist. Nach dieser Verwerflichkeitsklausel sind Nötigungsmittel und Nötigungszweck in ihrer Verknüpfung, der sogenannten Mittel-ZweckRelation, in einer Gesamtwürdigung in Beziehung zu setzen (Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 240 Rn. 40). Bei dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Strafgericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 39).
55
(2) Die vom Landgericht vorgenommene Verwerflichkeitsprüfung lässt Rechtsfehler nicht erkennen:
56
(a) Das Landgericht hat die gegenständlichen Blockaden ausdrücklich als Versammlungen bezeichnet und zudem deren Rechtmäßigkeit unterstellt. Weiter hat das Landgericht den grundrechtlich geschützten Umstand der Behinderung anderer Personen als sozial-adäquate (Neben-)Folge einer Versammlung gesehen (LG-Beschl. S. 9). Vor diesem Hintergrund kann es der Senat ausschließen, dass die Kammer bei ihrer Abwägung das Grundrecht der Betroffenen aus Artikel 8 GG aus dem Blick verloren hat, obwohl es diesen Grundgesetzartikel in seinem Beschluss nicht ausdrücklich erwähnt. Das Landgericht hat bei seiner Abwägung weiter berücksichtigt, dass die Betroffene bei der Verfolgung ihrer politischen Ziele absichtlich Dritte behinderte und diese für ihre Zwecke instrumentalisierte. Eingestellt in die Abwägung wurde vom Landgericht, dass die Behinderung der zufällig, also ohne Sachbezug, betroffenen Autofahrer im zeitlichen Umfang die Grenzen des Sozialadäquaten überschreite. Berücksichtigt wurde auch, dass eine Möglichkeit der Blockade auszuweichen für die betroffenen Autofahrer nicht bestünde, weil die Blockade nicht angekündigt werde.
57
(b) Ergänzend ist noch anzumerken, dass Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 GG als Prüfungsmaßstab ausscheidet und daher vom Landgericht zutreffend nicht in die Abwägung einbezogen wurde. Zwar kann eine an den Inhalt oder die Form der Meinungsäußerung anknüpfende Bestrafung wegen Nötigung das Grundrecht der Meinungsfreiheit auch dann berühren, wenn die Meinungskundgabe in einer oder durch eine Versammlung erfolgt. Gegenstand der strafrechtlichen Subsumtion als Nötigung ist im vorliegenden Fall aber nicht eine Meinungsäußerung, sondern die der Erzielung öffentlicher Aufmerksamkeit dienende Blockadeaktion (vgl. BVerfG Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90, 2173/93, 433/96, BeckRS 2012, 55832 Rn. 38).
58
(c) Vor diesem Hintergrund lässt die Würdigung des Landgerichts, die zu erwartenden Nötigung durch die Betroffene sei verwerflich, keinen Rechtsfehler erkennen.
59
c) Das Landgericht hat angenommen, die Begehung einer solchen Tat unmittelbar sei bevorgestanden, Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 a) und 2c) BayPAG. Das ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden.
60
i) Es muss Grund zur Annahme gegeben sein, dass eine Person die in Frage stehende Handlung begehen wird. Zur Erleichterung dieser Prognoseentscheidung hat der Gesetzgeber in Abs. 1 Nr. 2 a) bis c) Anhaltspunkte gegeben. Bei deren Vorliegen sieht der Gesetzgeber selbst die Annahme der bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit als gegeben an. (Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, PAG, 6. Aufl. 2023, Art. 17 Rn. 32f).
61
ii) Das Landgericht hat das unmittelbare Bevorstehen der Begehung einer solchen Tat rechtfehlerfrei angenommen: Das Landgericht hat dies aus den Angaben der Betroffenen und ihrem vorangegangenes Verhalten zutreffend geschlossen.
62
(1) Die Betroffene hat in ihrer richterlichen Anhörung angegeben, sie werde bis zum 30. September 2023 weiterprotestieren und sich „auf die Straße kleben“. Sinngemäß gleich geäußert hat sich die Betroffene gegenüber der Polizei am 29. August 2023 und noch zweimal am 31. August 2023.
63
(2) Die Betroffene nahm jeweils am 29. August 2023 und am 31. August 2023 an insgesamt vier Blockadeaktionen der geschilderten Art teil.
64
d) Rechtsfehlerfrei geht das Landgericht davon aus, die Inbewahrsamnahme der Betroffenen sei dem Grunde nach und nach ihrer Dauer unerlässlich gewesen, um die Begehung einer Straftat der geschilderten Art durch die Betroffene zu verhindern:
65
i) Unerlässlich betont nachdrücklich den Grundsatz der Erforderlichkeit. Angesichts der Schwere des Eingriffs kommt Art. 4 BayPAG hier besondere Bedeutung zu. Insbesondere ist genau zu prüfen, ob nicht mildere Maßnahmen ausreichend sind (Schmidbauer/Steiner/Schmidbauer, 6. Aufl. 2023, PAG Art. 17 Rn. 42). Unerlässlich ist eine Freiheitsentziehung, wenn sie das äußerste bzw. letzte Mittel zur Verhinderung von Schäden ist. Die Unerlässlichkeit verlangt, dass die Gefahrenabwehr nur auf diese Weise möglich und nicht durch eine andere Maßnahme ersetzbar ist (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 – StB 36/18 –, juris Rn. 25).
66
ii) Das Landgericht führt dazu aus, die Maßnahme sei zur Gefahrenabwehr erforderlich. Weniger einschneidende Maßnahmen gegen die Betroffene seien im vorliegenden Fall nicht erfolgversprechend gewesen. Gegen die nachvollziehbare Begründung dieser Auffassung durch das Landgericht, die Betroffene habe sich durch drei kurz vorangehende Gefährderansprachen nicht von der Fortsetzung ihres Tun abhalten lassen, ist von Rechts wegen nichts zu erinnern. Weniger eingriffsintensive Maßnahmen durch die Verkehrsblockaden durch die Betroffene gleichermaßen hätten verhindert werden können, sind nicht ersichtlich gewesen. Angesichts der Beharrlichkeit der Betroffenen ist auch nicht damit zu rechnen gewesen, das mildere Mittel zum Erfolg, nämlich der Verhinderung von strafbaren Nötigungshandlungen, geführt hätten. Die Dauer der vom Landgericht gebilligten Gewahrsamsanordnung, entsprechend dem behördlichen Antrag bis zum 10. September 2023 um 19.30 Uhr, begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Zutreffend schließt das Landgericht aus den eigenen Angaben der Betroffenen und ihrem vorangegangenen Verhalten, dass jedenfalls bis zum Ende der xmesse in M., also bis zum 10. September 2023, mit der Begehung zahlreicher weiterer strafbarer Blockadeaktionen durch die Betroffene zu rechnen war.
67
e) Ohne durchgreifenden Rechtsfehler geht das Landgericht davon aus, die Ingewahrsamnahme sei auch verhältnismäßig im engeren Sinne:
68
i) Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind zunächst alle erkennbaren und relevanten Belange zu erheben und in die Abwägung einzustellen. Anschließend sind sie nach ihrer Bedeutung zu gewichten. Dies hat sich an den Wertentscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers und vor allem an den Wertentscheidungen der Bayerischen Verfassung und des Grundgesetzes zu orientieren (Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, PAG, 6. Aufl. 2023, Art. 4 Rn. 16).
69
ii) Die Darstellung der vom Landgericht vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung ist lückenhaft und damit rechtsfehlerhaft. Trotz dieses Rechtsfehlers ist die Rechtsbeschwerde jedoch nicht begründet, weil sich ohne die Rechtsverletzung kein für die Rechtsbeschwerdeführerin günstigeres Ergebnis als das vom Beschwerdegericht erkannte ergeben würde, § 74 Abs. 2 FamFG
70
(1) Zutreffend hat das Landgericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Umstände abgewogen, dass es der Polizei in Einzelfällen gelang, Blockadeaktionen nach kürzerer Zeit zu beenden. Dies sei aber nicht für alle Fälle sichergestellt. Zudem würden nicht nur eine große Anzahl von Personen behindert, sondern auch prognostisch lebens- und gesundheitswichtige Transporte. Unter Berücksichtigung dieser Umstände sei die Ingewahrsamnahme verhältnismäßig im engeren Sinne
71
(2) Die Abwägung lässt in den schriftlichen Beschlussgründen jedoch ausdrücklich nicht erkennen, ob das Landgericht dabei das Grundrecht der Betroffenen aus Artikel 8 und Artikel 6 GG berücksichtigt hat. Auch bei ausdrücklicher Berücksichtigung dieser Grundrechte durch das Landgericht hält es der Senat für ausgeschlossen, dass das Landgericht eine für die Betroffene günstigere Entscheidung getroffen hätte:
72
(a) Es liegt aufgrund des bestehenden Versammlungsverbots durch die Allgemeinverfügung der Landeshauptstadt und der darauf beruhenden ebenfalls zu erwartenden Auflösung eine künftigen Versammlung durch die Polizei auf der Hand, dass die von der Betroffenen zu erwartenden Blockadeaktionen nach ihrer Auflösung keine unter dem Schutz von Artikel 8 GG stehenden Versammlungen mehr sind. Gleichwohl hat das Landgericht im Hinblick auf die Verkehrsblockaden unterstellt, dass es sich dabei um rechtmäßige Versammlungen handelt. Selbst unter dieser Prämisse hat das Landgericht im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB inzident das Grundrecht der Versammlungsfreiheit hinter den Rechten der betroffenen Autofahrer zurücktreten lassen.
73
(b) Nicht ausdrücklich berücksichtigt hat das Landgericht die Rechts der Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 GG. Dieser gewährleistet u.a. ein Recht, sich mit seinen Angehörigen in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen (BVerfG Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 Rn. 108 in NJW 2022, 139, 142).
74
Hier ist allerdings zu sehen, dass der Eingriff in diese Rechte lediglich ein Reflex der auf Gesetz beruhenden Freiheitsentziehung darstellt. Zudem hat die Betroffene durch ihr Verhalten den Eingriff in diese Rechte geradezu provoziert. Die Freiheitsentziehung ist auf wenige Tage beschränkt und daher sind die Auswirkungen auf den Kontakt zu den Kindern auch nur von kurzer Dauer. Während der Haft besteht die Möglichkeit, durch Briefe und Besuche den Kontakt aufrechtzuerhalten.
75
(c) Die Betroffene hat plakativ vor der Polizei und dem Amtsrichter vorgetragenen, sie sei entschlossen, mit den Blockadeaktion fortzufahren. Dies äußerte sie ungeachtet der Strafbarkeit ihres Tuns und der Auswirkungen auf ihre Kinder durch mögliche Inhaftierungen. Vor diesem Hintergrund kann es der Senat ausschließen, dass bei ausdrücklicher Berücksichtigung der genannten Grundrechte der Betroffenen konkret in der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine für die Betroffene günstigere Entscheidung ergangen wäre. Dies gilt insbesondere für die Rechte der Betroffenen aus Art. 8 GG, nachdem das Landgericht der Sache nach im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter durchgeführt hat. Der Senat kann insoweit zusätzlich ausschließen, dass das Landgericht diese Rechte im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit aus dem Blick verloren hat.
76
iii) Die Rechtsbeschwerde führt aus, die vom Amtsgericht angeordnete Dauer des Gewahrsams bis zum 30. September 2023 sei unverhältnismäßig gewesen. Die Frage, ob der Gewahrsam bis zum 30. September 2023 unverhältnismäßig gewesen wäre, kann der Senat offenlassen. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 11. September 2023 den Gewahrsam bis zum 10. September 2023 spätestens 19.30 Uhr begrenzt.
77
iv) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist im vorliegenden Fall ohne Relevanz, ob Art. 20 Abs. 2 Satz 2 BayPAG mit dem Grundgesetz vereinbar ist:
78
(1) Die Rechtsbeschwerde trägt vor, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts würde ein Präventivgewahrsam, der länger als 14 Tage andauern würde, einen Verstoß gegen das Grundgesetz darstellen (BVerfGE 109,190 [220] = BVerfG, Urteil vom 10. Februar 2004 – 2 BvR 834/02 –, juris Rn. 111).
79
(2) Das Landgericht hat in seinem Beschluss vom 11. September 2023 die Anordnung der Fortdauer der Freiheitsentziehung durch das Amtsgericht mit Wirkung ab dem 10. September 2023, spätestens 19:30 Uhr, aufgehoben. Dementsprechend wurde die Betroffene auch am 10. September 2023 aus der Haft entlassen. Sie befand sich somit lediglich 11 Tage in Gewahrsam, so dass die Schwelle zu der von der Rechtsbeschwerde behaupteten verfassungswidrigen Dauer des Unterbindungsgewahrsams offensichtlich noch nicht erreicht war. Konkret betroffen war die Rechtsbeschwerdeführerin demnach lediglich im genannten Zeitraum. Nachdem die Rechtsbeschwerde nach dem FamFG keine Popularklage darstellt, kann mit ihr nicht abstrakt ohne eigene Beschwer die Verfassungsmäßigkeit einer Norm zur Überprüfung gestellt werden.
80
(a) Lediglich ergänzend bemerkt der Senat: Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat zur Frage der Vereinbarkeit von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 BayPAG mit der Verfassung ausgeführt: Eine andere Bewertung hinsichtlich der Angemessenheit eines bis zu zwei Monate andauernden Präventivgewahrsams ist auch nicht durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004 (BVerfGE 109, 190) veranlasst. Darin hat das Bundesverfassungsgericht in einem sogenannten obiter dictum u. a. betreffend das Bayerische Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern (BayStrUBG) vom 24. Dezember 2001 (GVBl 2001, 978), das für die Straftäterunterbringung eine Anlasstat vorausgesetzt und die Abwehr künftiger Straftaten bezweckt hatte, ausgeführt, dass eine Erstreckung des Gesetzes auf nicht strafrechtlich verurteilte Personen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nicht vertretbar gewesen wäre. Denn es sei – abgesehen von Zwangsmaßnahmen der Quarantäne nach dem Infektionsschutzgesetz und von der landesgesetzlich geregelten Unterbringung psychisch Kranker – gerade und ausschließlich das schwerwiegende und dem Betroffenen zurechenbare Indiz der Anlasstaten, welches den Staat berechtige, die Gefährlichkeit seiner Bürger zu überprüfen und auf das Ergebnis dieser Überprüfung eine langfristige schuldunabhängige Freiheitsentziehung zu gründen. Unterhalb dieser Schwelle könne der Staat auf konkrete Gefahrensituationen lediglich mit den situationsbezogenen Instrumenten des Polizeirechts reagieren, zu denen auch der bis zu 14-tägige landesrechtliche Polizeigewahrsam gehören dürfte. Dagegen wäre die längerfristige Verwahrung eines psychisch gesunden und strafrechtlich nicht oder nur unerheblich vorbelasteten Bürgers zum Zweck der Abwehr einer von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung von Straftaten mit dem Grundgesetz nicht vereinbar (BVerfGE 109, 190 [220]). Das Bundesverfassungsgericht hat also auf konkrete Gefahrensituationen bezogene Instrumente des Polizeirechts einerseits von langfristigen schuldunabhängigen Freiheitsentziehungen andererseits abgegrenzt. Eine rein präventiv begründete längerfristige Verwahrung eines psychisch gesunden und strafrechtlich nicht oder nur unerheblich vorbelasteten Bürgers wurde in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar bewertet. Den damaligen, bis zu 14-tägigen landesrechtlichen Polizeigewahrsam hat das Bundesverfassungsgericht als ein auf eine konkrete Gefahrensituation bezogenes – und damit zulässiges – Instrument des Polizeirechts eingeordnet, ohne dabei zum Ausdruck zu bringen, dass genau diese Dauer eine äußerste Grenze im Polizeirecht darstelle (BayVerfGH, Entscheidung v. 14. Juni 2023 – Vf. 15-VII-18, GSZ 2023, 190,199 Rn. 160f).
81
(b) Dem schließt sich der Senat an, ohne dass es für das gegenständliche Verfahren von Bedeutung wäre.
82
4) Die Kostenentscheidung beruht auf Art. 96 Abs. 1 PAG i.V.m. 84 FamFG.
83
5) Die Festsetzung des Gegenstandswerts des Rechtsbeschwerdeverfahrens beruht auf Art. 97 Abs. 4 Satz 1 PAG i.V.m. § 35 Abs. 1, § 36 Abs. 2 und 3, § 62 analog GNotKG. Die Rechtsbeschwerde betrifft zwei Verfahrensgegenstände, deren Werte zu addieren sind:
84
Soweit sie sich gegen die Rechtmäßigkeit der vorläufigen behördlichen Ingewahrsamnahme richtet, beträgt der Wert 2.500,- Euro, soweit sie die Feststellung der Rechtswidrigkeit der gerichtlichen Entscheidung über den Gewahrsam begehrt, 5.000,- Euro.