Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 10.09.2024 – W 7 K 23.1478
Titel:

Kein Chancenaufenthaltsrecht im atypischen Fall eines sehr jungen, minderjährigen Ausländers

Normenkette:
AufenthG § 25a, § 25b, § 104c
Leitsätze:
1. § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sieht einen zwingenden Ausschlussgrund bei Vorliegen von Straftaten vor, die mit einer Strafe in Höhe von mehr als 90 Tagessätzen geahndet wurden und die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können. Eine Möglichkeit, von dieser Grenze abzuweichen, sieht das Gesetz nicht vor. (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Das Chancenaufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG dient dazu, den berechtigten Ausländern die Gelegenheit zu einem Übergang in ein Bleiberecht auf rechtssicherer Grundlage zu ermöglichen, indem während des Erteilungszeitraums von 18 Monaten die Möglichkeit zur Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a oder 25b AufenthG gegeben wird (BVerwG BeckRS2023, 23669). (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Steht bereits bei der Erteilung einer Chancenaufenthaltserlaubnis fest, dass ein Übergang zu § 25a und § 25b AufenthG nach Ablauf von 18 Monaten nicht in Betracht kommen wird, beispielsweise aus Altersgründen, ist gesetzessystematisch von einem atypischen Fall auszugehen, der die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG rechtfertigt (VG München BeckRS 2024, 17380). (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Unabhängig davon, ob § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG auf minderjährige Ausländer überhaupt anwendbar ist, ist es bei einem sehr jungen Minderjährigen ausgeschlossen, dass er in 18 Monate einen Nachweis über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, etwa durch Abschluss des bundeseinheitlichen Tests zum Orientierungskurs "Leben in Deutschland" erbringen wird (VG München BeckRS 2024, 17380). (Rn. 18) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. §25a Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 AufenthG enthält gesetzessystematisch die Wertung, wonach bei 14-jährigen Ausländern erst nach drei Jahren erfolgreichen Schulbesuchs eine positive Prognose über deren Integration in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland möglich ist. Demgegenüber sind die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AufenthG (noch) strikter gefasst. (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Chancenaufenthaltsrecht, Ausländerstrafrecht, unerlaubter Aufenthalt, atypischer Fall, sehr junger Minderjähriger, Grundkenntnisse der rechts- und Gesellschaftsordnung, Schulbesuchsdauer, Integration
Fundstelle:
BeckRS 2024, 31564

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Rechtsanwaltsbeiordnung wird abgelehnt.

Gründe

1
Die Kläger begehren Prozesskostenhilfe für die am 20. Oktober 2023 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erhobene Klage, mit der sie unter Aufhebung des Bescheids vom 20. September 2023 die Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis begehren.
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Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen nicht vor.
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Nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO ist Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, neben weiteren Voraussetzungen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung wenigstens hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Es genügt bereits eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolgs (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 166 Rn. 8 m.w.N.). Diese liegt hier nicht vor.
4
Nach summarischer Prüfung hat die Klage im Bewilligungszeitpunkt keine Aussicht auf Erfolg, da sie zwar zulässig, aber nicht begründet ist.
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Die Kläger haben nach summarischer Prüfung keinen Anspruch auf die begehrte Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis.
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1. Wie im Bescheid vom 20. September 2023 zutreffend angegeben wurde, ist die Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin zu 1) nicht möglich. Denn diese wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts W. vom 5. Januar 2021 (Az. ... 11111/20), in der Tagessatzhöhe nach Einspruch abgeändert durch Beschluss vom 5. März 2021, zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass verurteilt.
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Das Argument der Klägerbevollmächtigten, die dort abgeurteilten Straftaten, die nur von Ausländern begangen werden könnten, würden in der Regel mit einer Geldstrafe in Höhe von weniger als 90 Tagessätzen geahndet, führt zu keinem anderen Ergebnis.
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Zum einen formuliert § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG einen zwingenden Ausschlussgrund bei Vorliegen von Straftaten, die mit einer Strafe in Höhe von mehr als 90 Tagessätzen geahndet wurden und die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können. Die Möglichkeit, von dieser Grenze abzuweichen, sieht das Gesetz nicht vor (Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand: 15.1.2024, § 104c AufenthG Rn. 59).
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Zum anderen und lediglich hilfsweise sei festgehalten, dass der Strafbefehl vom 5. Januar 2021 auf den langjährigen Aufenthalt der Klägerin zu 1) ab 3. Juni 2017, die Vernichtung des Reisepasses nach der Einreise und die mehrfachen Aufforderungen zur Passbeschaffung eingeht. Dass der Strafbefehl auf dieser Grundlage eine vergleichsweise hohe Strafe festsetzt, erscheint weder ungewöhnlich noch mit den Mitteln des Ausländerrechts korrekturbedürftig.
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2. Auch die Tochter der Klägerin zu 1), die Klägerin zu 2), hat keinen Anspruch auf die begehrte Chancen-Aufenthaltserlaubnis.
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Eine von ihrer Mutter abgeleitete Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt infolge der versagten Erteilung an die Klägerin zu 1) nicht in Betracht.
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Auch aus eigenem Recht hat die Klägerin zu 2) keinen Anspruch auf eine Chancen-Aufenthaltserlaubnis.
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Zwar erfüllt sie angesichts ihrer Geburt im Bundesgebiet am 2. Oktober 2017 die notwendige Voraufenthaltszeit zum Stichtag und auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 104c AufenthG im Übrigen. Angesichts ihres sehr jungen Alters liegt aber ein atypischer Fall vor.
14
§ 104c Abs. 1 AufenthG ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet. Die Aufenthaltserlaubnis ist bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel zu erteilen. Eine andere Entscheidung ist nur bei Vorliegen atypischer Umstände möglich. Wann von einer atypischen Fallgestaltung auszugehen ist, bestimmt sich nach dem Regelungszweck. Das befristete Chancen-Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG soll den berechtigten Ausländern die Gelegenheit zum Übergang in ein Bleiberecht auf rechtssicherer Grundlage ermöglichen, indem während des Erteilungszeitraums von 18 Monaten die Möglichkeit zur Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a oder § 25b AufenthG gegeben wird (vgl. BVerwG, B.v. 29.8.2023 – 1 B 16.23 – juris Rn. 4; VG München, B.v. 9.7.2024 – M 27 E 24.3882 – juris Rn. 30).
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Wenn bereits bei Erteilung der Chancen-Aufenthaltserlaubnis feststeht, dass ein Übergang zu § 25a oder § 25b AufenthG nach Ablauf der 18 Monate nicht in Betracht kommen wird, etwa aus Altersgründen, ist gesetzessystematisch von einem atypischen Fall auszugehen (VG München, B.v. 9.7.2024 – M 27 E 24.3882 – juris Rn. 31; Wittmann in Berlit, GK-AufenthG, Stand: 141. Lfg., § 104c AufenthG Rn. 68, 249 ff.; OVG LSA, B.v. 1.6.2023 – 2 M 49/23 – juris Rn. 16; vgl. auch StMI Anwendungs- und Vollzugshinweise, F4-2081-3-88-218, aktualisierte Fassung vom 27.1.2023, S. 19).
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Die anschließende Erteilung eines Titels nach § 25a AufenthG ist schon deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin zu 2) auch in 18 Monaten keine Jugendliche i.S.d. Bestimmung, also nicht 14 Jahre alt sein wird (§ 1 Abs. 2 JGG).
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Aber auch die anschließende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG ist altersbedingt ausgeschlossen.
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Unabhängig von der Frage, ob § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG überhaupt auf minderjährige Ausländer anwendbar ist (m.w.N. zur Streitfrage Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand: 15.1.2024, § 25b AufenthG Rn. 13), werden in 18 Monaten jedenfalls die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für die Klägerin zu 2) nicht vorliegen. Angesichts deren sehr jungen Alters ist es ausgeschlossen, dass sie in 18 Monaten einen Nachweis über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (§ 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) etwa durch Abschluss des bundeseinheitlichen Tests zum Orientierungskurs „Leben in Deutschland“ erbringen wird (VG München, B. v. 9.7.2024 – M 27 E 24.3882 – juris Rn. 34).
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Die Ausnahmeregelung des § 25b Abs. 3, die aus Altersgründen von einigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 25b AufenthG entbindet, erstreckt sich nicht auf § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG, wonach auch der Minderjährige ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgeben und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügen muss.
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Zwar kann der Nachweis entsprechender Kenntnisse mitunter auch auf andere Weise als durch den Test „Leben in Deutschland“ erbracht werden, der regelmäßig erst ab einem Alter von 14 Jahren abgelegt werden kann (Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand: 15.1.2024, § 104c AufenthG Rn. 100c; Wittmann in Berlit, GK-AufenthG, Stand: 132. Lfg., § 25b AufenthG Rn. 153).
21
Jedenfalls ist gesetzessystematisch aber die Wertung von § 25a Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 AufenthG zu beachten, wonach bei 14-jährigen Ausländern erst nach drei Jahren erfolgreichen Schulbesuchs eine positive Prognose über deren Integration in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland möglich ist. Die nach Ablauf der 18-monatigen Geltungszeit der Chancen-Aufenthaltserlaubnis achtjährige Klägerin zu 2) wird zu diesem Zeitpunkt noch keine drei Jahre die Schule besucht haben. § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ist gegenüber § 25a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG strikter gefasst. Es muss nicht nur eine Integration in die Lebensverhältnisse prognostiziert werden können, sondern Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse sind nachzuweisen. Gesetzessystematisch ist ein solcher Nachweis jedenfalls innerhalb der ersten drei Schuljahre ausgeschlossen, in denen der Gesetzgeber noch nicht einmal die niederschwelligere positive Prognose nach § 25a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG (für Jugendliche) gestattet. Die Streitfrage, ob eine Erteilung an Kinder unter 14 Jahren überhaupt möglich ist, bedarf daher keiner Entscheidung.
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Jedenfalls die Klägerin zu 2) wird für die Erteilung eines Anschlusstitels aufgrund ihres Alters noch nicht in Betracht kommen.
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3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war daher abzulehnen, ohne dass es noch darauf ankam, ob die persönlichen und wirtschaftlichen Bewilligungsvoraussetzungen vorliegen. Auch die Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten nach § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO kommt mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Klage nicht in Betracht.