Titel:
Dublin-Verfahren (Zielstaat: Italien, Herkunftsstaat: Äthiopien), Abschiebungsanordnung, Tatsächliche Durchführbarkeit der Abschiebung, Fehlende Übernahmebereitschaft, Italiens, Systemische Mängel des Asylverfahrens (verneint), Drohende Verfestigung eines „refugee in orbit“-Szenarios bei potentieller Aufrechterhaltung der Unzulässigkeitsentscheidung und Aufhebung der Abschiebungsanordnung in der Hauptsache, Rechtsschutzziel: Zeitnahe inhaltliche Prüfung des Asylantrags
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a Abs. 1 Satz 1
VwGO § 80 Abs. 5
VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) Art. 12 Abs. 4
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat: Italien, Herkunftsstaat: Äthiopien), Abschiebungsanordnung, Tatsächliche Durchführbarkeit der Abschiebung, Fehlende Übernahmebereitschaft, Italiens, Systemische Mängel des Asylverfahrens (verneint), Drohende Verfestigung eines „refugee in orbit“-Szenarios bei potentieller Aufrechterhaltung der Unzulässigkeitsentscheidung und Aufhebung der Abschiebungsanordnung in der Hauptsache, Rechtsschutzziel: Zeitnahe inhaltliche Prüfung des Asylantrags
Fundstelle:
BeckRS 2024, 31528
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
1
Die Antragspartei begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
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Der Antragsteller, nach eigenen Angaben Staatsangehöriger Äthiopiens, reiste am 14. April 2024 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am selben Tag Kenntnis erlangte. Am 22. April 2024 stellte er einen förmlichen Asylantrag.
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Eine VIS-Datenbank-Recherche vom 22. April 2024 ergab ein von Italien ausgestelltes und bis 15. Februar 2024 gültiges Schengen-Visum für 60 Tage.
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Bei der Anhörung beim Bundesamt äußerte der Antragsteller wörtlich: „Ich kann nur sagen, es gibt ein familiäres Problem in Äthiopien und ein Angehöriger lebt in Italien. Das könnte für mich ein Problem sein.“
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Am 11. Juni 2024 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an Italien. Eine Antwort hierauf ist bis 11. August 2024 nicht erfolgt.
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Mit Bescheid vom 17. Oktober 2024, zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 19. Oktober 2024, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Am 25. Oktober 2024 hat der Antragsteller Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 3 K 24.50925) erhoben und gleichzeitig beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
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Der Antragsteller nimmt zur Begründung Bezug auf seine Anhörung beim Bundesamt. Es drohe ihm in Italien die Gefahr durch ein dort lebendes Familienmitglied. Ihm sei bereits mit dem Tode gedroht worden.
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Die Antragsgegnerin legte am 29. Oktober 2024 die Behördenakte vor und beantragt
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Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die vom Bundesamt übermittelte Behördenakte, insbesondere die Anhörung des Bundesamts vom 15. Oktober 2024 (Bl. 104 ff. BA), Bezug genommen.
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1. Der Antrag gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat keinen Erfolg.
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Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück.
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Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten der Antragspartei aus. Nach summarischer Prüfung sind die Erfolgsaussichten ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid als gering anzusehen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei der Entscheidungszeitpunkt des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG).
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Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Selbst wenn die Abschiebungsanordnung sich als rechtswidrig erweisen sollte, so entspricht eine Aufhebung nicht dem Rechtsschutzziel des Antragsstellers bzw. dieser wäre durch die Rechtswidrigkeit nicht beschwert (s. dazu unter c)).
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a) Die italienische Republik ist für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
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Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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Ausgehend von den Daten des Europäischen Visa-Informationssystems (VIS) und dem Vortrag des Antragstellers ist vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG zuständig. Die Antragsgegnerin ist hier zutreffend von der Zuständigkeit Italiens nach Art. 12 Abs. 4 UAbs. 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ausgegangen, da für den Antragsteller zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags am 22. April 2024 (vgl. Art. 7 Abs. 2, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO) ein von Italien ausgestelltes Visum vorlag, dessen Gültigkeit weniger als sechs Monate lang zurücklag.
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Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe von Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Aufnahmegesuch für den Antragsteller fristgerecht am 11. Juni 2024 erfolgte. Die italienischen Behörden haben hierauf nicht geantwortet, sodass davon auszugehen ist, dass dem Übernahmegesuch stattgegeben wurde (Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO). Italien ist daher nach Art. 22 Abs. 7 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Dublin III-VO innerhalb der grundsätzlich sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller aufzunehmen.
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b) Schließlich ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen. Es ist weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich, dass die Antragspartei im Falle einer Abschiebung nach Italien aufgrund systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) ausgesetzt wäre.
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aa) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 43 ff.) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind (Stufe 1), dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall (Stufe 2) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 63).
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bb) Diesbezüglich wird auf die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein (U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 18 ff. bzw. das zuvor veröffentlichte U.v. 4.10.2024 – 4 LB 2/23 – juris Rn. 42 ff.) verwiesen.
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Soweit Überstellungen nach Italien in den letzten fast 2 Jahren weitestgehend nicht stattgefunden haben, stellt das nach hier vertretener Auffassung keinen systemischen Mangel der in Italien durchgeführten Asylverfahren dar (so aber OVG NW, B.v. 14.2.2024 – 11 A 1255/22.A – juris Rn. 37 ff. in einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH; i.E. wie hier: OVG SH, U.v. 4.10.2024 – 4 LB 2/23 – juris Rn. 67 ff.), wohl aber einen systemischen Mangel hinsichtlich des vorgeschalteten Dublin-Verfahrens selbst. Das Verwaltungsgericht Sigmaringen führt mit überzeugenden Argumenten, denen sich das Gericht vollumfänglich anschließt, in einem weiteren Vorlagebeschluss an den Gerichtshof (B.v. 7.5.2024 – A 4 K 1979/23 – juris Rn. 46 f.) aus:
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Nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts differenziert die Dublin-III-VO jedoch zwischen dem Verfahren zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaats („Dublin-Verfahren“) einerseits und dem „Asylverfahren“ andererseits, d.h. dem Verfahren in den Mitgliedsstaaten, in dem geprüft wird, ob und wenn ja welcher Schutzstatus einem Asylbewerber nach den Kriterien der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) gewährt wird. Das in der Dublin-III-VO geregelte „Dublin-Verfahren“ ist danach ein dem „Asylverfahren“ vorgeschaltetes, eigenständiges Verfahren und kein Teil des Asylverfahrens. Dies hat zur logischen Konsequenz, dass Mängel, die im „Dublin-Verfahren“ auftreten und auf dieses beschränkt sind, per se keine systemischen Schwachstellen im „Asylverfahren“ im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO begründen können. Die generelle Weigerung eines Mitgliedsstaats – wie hier Italiens – Dublin-Rückkehrer aufzunehmen ist ein Mangel, der nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts ausschließlich das „Dublin-Verfahren“ betrifft: Italien hat mit den beiden Rundschreiben vom 05. und 07.12.2022 und der nachfolgenden Handhabung, keine Dublin-Rückkehrer mehr aufzunehmen, zu erkennen gegeben, sich künftig nicht mehr am Dublin-System beteiligen und die Dublin-III-VO nicht mehr einhalten zu wollen. Dass Italien künftig keine Asylanträge – entsprechend den RL 2011/95/EU und RL 2013/32/EU – von Personen bearbeiten und entscheiden will, die sich bereits im Land befinden, lässt sich den Rundschreiben vom 05. und 07.12.2022 dagegen nicht entnehmen.“
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c) Dem Antragsteller fehlt voraussichtlich das Rechtschutzinteresse an der Aufhebung der in Ziff. 3 des Bescheids angeordnete Abschiebungsanordnung bzw. er ist voraussichtlich dadurch nicht in seinen Rechten verletzt im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (siehe zum Folgenden ähnlich: VG München, U.v. 9.9.2024 – M 10 K 24.50768 – BeckRS 2024, 29668).
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aa) Selbst wenn man mit zunehmender Ansicht in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung infolge der von Italien im Dezember 2022 erklärten „temporären Aussetzungen“ von Dublin-Überstellungen Zweifel gegen die tatsächliche Durchführbarkeit (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG) der Abschiebung annimmt (vgl. zuletzt etwa: BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 43 ff. und zuvor veröffentlicht: VG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 24.9.2024 – W 6 K 24.50311 – juris Rn. 38 ff.; B.v. 2.10.2024 – W 6 K 24.50311 – juris Rn. 19 m.w.N. zur aktuellen Rspr.), würde die objektive Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung im konkreten Fall nicht zu dessen Aufhebung führen.
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Geht man mit vorstehend zitierten Gerichten davon aus, dass keine Überstellung nach Italien innerhalb der offenen Überstellungsfrist erfolgen wird, fehlt es in der vorliegenden Konstellation am Rechtsschutzinteresse hinsichtlich des in § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO angelegten Aufhebungsanspruchs bzw. der Betroffene ist durch die Rechtswidrigkeit nicht in seinen Rechten verletzt (siehe dazu ausführlich: VG München, U.v. 9.9.2024 – M 10 K 24.50768 – BeckRS 2024, 29668). Das Gericht ist der Überzeugung, dass die Folgen der Aufhebung von Ziff. 3 des streitbefangenen Bescheids in der Hauptsache bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG mit der Gefahr einer Verfestigung eines „refugee in orbit“-Szenarios einhergehen könnte, weil sich das Bundesamt auf den Standpunkt zurückziehen könnte, die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziff. 1 des Bescheids sei gerichtlich bestätigt (vgl. etwa diese bestätigend: BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 14 ff.), während infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung in Ziff. 3 des Bescheids keine vollziehbare Ausreisepflicht des Betroffenen mehr bestünde, die zugleich den Anlauf der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO hemmen würde. Insoweit schließt sich das Gericht den Ausführungen des Verwaltungsgerichts Sigmaringen (B.v. 7.5.2024 – A 4 K 1979/23 – juris Rn. 59 f. zur entsprechenden Vorlagefrage an den EuGH) an. Es stellt vereinfacht, aber in der Sache pointiert fest: „Die Verzögerung der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz ist im Fall des Klägers durch seinen erfolgreichen Eilantrag gegen den streitgegenständlichen Bescheid faktisch noch länger.“
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Denn selbst wenn das Gericht zeitnah nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung in der Hauptsache die Ziff. 3 des streitbefangenen Bescheids aufheben würde, befände sich der Antragsteller danach in einer Art Schwebezustand, in der sich das Bundesamt für die inhaltliche Prüfung seines Asylantrags nicht zuständig sehen würde, ihn infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung unabhängig von der Problematik des Überstellungsstopps aber auch nicht nach Italien überstellen könnte (vgl. auch Gräsel in BeckOK MigR, Stand 1.7.2024, Art. 29 Dublin III-VO Rn. 11). Die Konsequenz aus einer Aufhebung der Ziff. 3 des angefochtenen Bescheids unter Aufrechterhaltung der Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG widerspräche dem wesentlichen, wenn nicht sogar zentralen Grundgedanken des Dublin-Systems, Rechtssicherheit hinsichtlich des prüfenden Mitgliedstaats und eine zügige Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu gewährleisten (vgl. ErwG Nr. 5 zur Dublin III-VO).
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Der Antragsteller hätte wohl hinsichtlich der objektiven Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung kein Rechtsschutzbedürfnis bezüglich des sonst bestehenden gerichtlichen Aufhebungsanspruchs nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO bzw. ist in der konkreten Fallsituation nicht durch eine rechtswidrige Abschiebungsanordnung in seinen Rechten verletzt, weil die Aufhebung der Abschiebungsanordnung das Gegenteil seines beabsichtigten Rechtsschutzbegehrens bezwecken würde, nämlich mit einer (jedenfalls vorrübergehenden) deutlichen Verschlechterung seiner Rechtsstellung einherginge. Vereinfacht ausgedrückt: Eine wirksame (wenn auch möglicherweise rechtswidrige) Abschiebungsanordnung wäre beim Vorliegen eines tatsächlichen Überstellungshindernisses während der Überstellungsfrist der einzig ersichtliche Weg, den Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ohne wesentliche Verzögerungen herbeizuführen und so das Rechtsschutzziel des Antragstellers zu verwirklichen.
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Das Gericht verkennt nicht, dass die oben dargelegte Annahme der Verhinderung einer „refugee in orbit“-Situation des Antragstellers bereits die letztlich indirekte Folge nach einer Aufhebung der Abschiebungsanordnung in der Hauptsache im Blick hat. Nicht außer Acht gelassen werden kann dabei aber bereits jetzt, dass der seit Dezember 2022 andauernde Zustand, der nach den Erklärungen Italiens eigentlich nur „temporär“ sein sollte, letztendlich einen erheblichen Fremdkörper in der Konzeption des Dublin-Systems darstellt, den es nicht geben dürfte. Stellt sich das Dublin-Verfahren im Verhältnis zu Italien als solches als systemisch mangelhaft dar (vgl. insoweit zur EuGH-Vorlage des VG Sigmaringen, B.v. 7.5.2024 – A 4 K 1979/23 – juris Rn. 46 ff.), und geht man davon aus, dass Abschiebungen nach Italien innerhalb der nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen 6-Monats-Frist bis zum Inkrafttreten der GEAS-Reform Mitte 2026 definitiv nicht mehr erfolgen können, muss in der Konsequenz hinterfragt werden, inwieweit eine Abschiebungsanordnung einen Betroffenen überhaupt noch beschweren bzw. in seinen Rechten verletzen kann, wenn ihm faktisch keine Abschiebung drohen wird. Die tatsächliche Situation führt vielmehr gerade zum absurd klingenden eigentlich Rechtsschutzziel des Fortbestehenlassens der Abschiebungsanordnung, um so schlussendlich den Zuständigkeitsübergang kraft Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zu gewährleisten. So kann die Antragspartei nur auf diesem Wege eine zügige Bearbeitung ihres eigentlichen Begehrens – die inhaltliche Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz -erhalten.
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bb) Die hier vertretene Ansicht steht nach Auffassung des Gerichts wohl auch nicht zwingend im Widerspruch zu den getroffenen Annahmen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 43 ff.). Dieser geht von der Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung aus, da nicht feststehe, dass die Abschiebung durchgeführt werden könne. Ohne weitere Begründung wird in der Folge die Verletzung der klägerischen Rechte angenommen. Zur Frage der Konsequenzen der Aufhebung der Abschiebungsanordnung für den Betroffenen und den in den beiden Vorlagebeschlüssen an den EuGH geäußerten Bedenken hinsichtlich der systematischen Brüche zu den Zielsetzungen des Dublin-Systems infolge der Praxis Italiens wird nichts weiter ausgeführt.
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cc) Dem Verwaltungsgericht Würzburg (vgl. etwa Gerichtsbescheid v. 24.9.2024 – W 6 K 24.50311 – juris Rn. 41, B.v. 5.6.2024 – W 6 S 24.50178 – juris Rn. 26) ist zwar durchaus zuzugestehen, dass rechtstechnisch betrachtet der Erlass einer Abschiebungsandrohung (§ 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG) wohl der dogmatisch stringentere Weg wäre als der derzeit praktizierte Erlass einer Abschiebungsanordnung. Würde das Bundesamt dahingehend verfahren, hätte das die rechtliche Konsequenz, dass infolge der dann zu setzenden Ausreisefrist von 30 Tagen (§ 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG) eine vom Betroffenen erhobene Klage aufschiebende Wirkung hätte gem. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Wenn das Verwaltungsgericht über die Klage zeitnah zum Beispiel durch Gerichtsbescheid (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder im schriftlichen Verfahren bzw. ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (§ 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG und § 101 Abs. 2 VwGO) und die Unzulässigkeitsentscheidung sowie die Abschiebungsandrohung bestätigen würde, würde 30 Tage nach Rechtskraft (§ 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO) einer solchen Entscheidung (d.h. mit Ablauf der Ausreisefrist) die 6-Monats-Frist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO anlaufen, weil der Betroffene ab diesem Zeitpunkt vollziehbar ausreisepflichtig wäre. Nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungfrist käme es dann zum Übergang der Zuständigkeit gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO. Im Ergebnis würde sich diese Variante von der hier vertretenen insofern unterscheiden, dass der Anlauf der Überstellungsfrist erst mit Rechtskraft eines Urteils und nicht bereits durch einen ablehnenden und gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Beschluss über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgen könnte, was in der Praxis wohl mit Verzögerungen für den Asylbewerber einherginge.
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Denn anders als bei einem Beschluss über einen Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO müsste über eine Klage gegebenenfalls erst mündlich verhandelt werden (§ 101 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder Anhörungen zum Erlass eines Gerichtsbescheids zugestellt und eine Äußerungsfrist abgewartet werden. Zudem müsste überdies das Urteil erst rechtskräftig werden, was ggf. Auswirkungen auf die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nach § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO hätte, und schlussendlich noch die 30-tägige Ausreisefrist (§ 38 Abs. 1 AsylG) ablaufen.
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Mit dem hier vertretenen Begründungsansatz, die Vollziehbarkeit einer (etwa nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 43 ff.) objektiv rechtswidrigen Abschiebungsanordnung mit einem zeitnahen ablehnenden Beschluss über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO herbeizuführen, ist aber dem Rechtsschutzziel des Betroffenen am zeitnahen Eintritt des Zuständigkeitsübergangs gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO besser Rechnung getragen, als wenn erst über längere Zeit noch ein Klageverfahren mit aufschiebender Wirkung am Verwaltungsgericht anhängig wäre bzw. nach Erlass eines Urteils erst die Fristen nach § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 38 Abs. 1 AsylG ablaufen müssten, um den Lauf der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO in Gang zu setzen.
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dd) Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass etwa das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein (U.v. 4.10.2024 – 4 LB 2/23 – juris Rn. 67 ff.) die Abschiebungsanordnung mit einer Begründung nicht beanstandet, die möglicherweise im Blick hat, oben dargestellte Folgen einer Aufhebung der Abschiebungsanordnung zu verhindern. Es geht davon aus, dass sich Fragen der praktischen Umsetzung der Überstellung (Art. 29 ff. Dublin-III-VO) auch systematisch im Rahmen der Dublin-III-VO erst in einem zweiten Schritt nach Abschluss der Inanspruchnahme eines Rechtsbehelfs (Art. 27 Dublin-III-VO) stellen würden und daher allein in diesem Verfahrensabschnitt (erstmals) zu berücksichtigen sind.
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„Nicht entscheidend ist, ob alle tatsächlich für die Abschiebung erforderlichen Umstände bereits im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG feststehen. Denn diese sind erst Gegenstand eines gesonderten Verfahrens durch die zuständige Ausländerbehörde, das erst nach Vollziehbarkeit des Dublin-Bescheides eingeleitet wird. Erst im Rahmen dieses Verfahrens werden – durch die zuständigen Ausländerbehörden, § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, unter Koordinierung durch die Beklagte – mit dem zuständigen Mitgliedsstaat Modalität und ggf. Transportmittel, Ankunftsort und Zeitpunkt für die Überstellung abgestimmt und das Transportmittel und die ggf. erforderliche Begleitung organisiert. Zudem hängt der Umstand, ob die Abschiebung tatsächlich stattfinden kann, auch davon ab, ob die bzw. der Betroffene zum entsprechenden Zeitpunkt angetroffen wird und sich der Abschiebung nicht wiedersetzt etc. Da weder die Beklagte im Zeitpunkt ihrer Entscheidung noch der Senat im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung Kenntnis über dieses Verfahren haben können, würde § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG bei einem dahingehenden Verständnis der Norm leerlaufen und nie eine Abschiebungsanordnung erlassen werden dürfen.“ (OVG SH, U.v. 4.10.2024 – 4 LB 2/23 – juris Rn. 70)
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ee) Ferner sei angemerkt, dass das Gericht festgestellt hat, dass eine zunehmende Anzahl von Asylsuchenden, die im Rahmen des Dublin-Systems nach Italien überstellt werden sollen, (teils ausdrücklich) keine Anträge nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO mehr stellt und „nur“ noch ausschließlich Klage erhebt und dabei teils sogar auf den baldigen Ablauf der Überstellungsfrist – bei einer bereits Wochen vor Erlass des Bescheids erfolgten Annahme(fiktion) des Aufnahmegesuchs -hinweist.
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d) Unabhängig davon liegen keine anderweitigen Gründe i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG vor, wonach die Abschiebung nicht durchgeführt werden könnte. Insbesondere sind weder individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, noch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse oder Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK oder § 60 Abs. 7 AufenthG anzunehmen.
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Von einer Abschiebung in einen anderen Staat soll gem. § 60 Abs. 7 AufenthG abgesehen werden, wenn für den Ausländer eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei kommt es nicht darauf an, von wem die Gefahr ausgeht und wodurch sie hervorgerufen wird. Es muss jedoch über die Gefahren hinaus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, eine besondere Fallkonstellation gegeben sein, die als gravierende Beeinträchtigung die allgemeine Gefährdung deutlich übersteigt.
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Solche Umstände hat der Antragsteller nicht substantiiert dargelegt bzw. liegen nach Aktenlage auch nicht vor. Worin die erwähnte vermeintliche Bedrohungssituation durch ein Familienmitglied in Italien konkret bestehen soll und woraus diese resultieren mag, wurde weder in der Bundesamtsanhörung noch im gerichtlich Verfahren erläutert, sondern durch den Antragsteller lediglich behauptet.
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Der Antrag war daher abzulehnen.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).