Inhalt

VGH München, Beschluss v. 26.02.2024 – 9 CS 23.2245
Titel:

Begutachtung eines Gebäudes auf Standsicherheit

Normenketten:
BayBO Art. 3 S. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 54 Abs. 2 S. 2
BGB § 857
Leitsätze:
1. Anordnungen nach Art. 54 Abs. 2 S. 2 BayBO können auch bei einer durch Tatsachen erhärteten sog. Anscheinsgefahr oder einem sog. Gefahrenverdacht getroffen werden und fordern nicht das sichere Vorliegen einer Gefahr. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der nicht tatsächlich ausgeübte, lediglich fiktive Erbenbesitz nach § 857 BGB begründet mangels tatsächlicher Beziehung zu einer Sache keinen Gewahrsam im Sinne einer tatsächlichen, nach außen erkennbaren Sachherrschaft; ein mit Sachherrschaft verbundener Besitz des Erben entsteht erst durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sicherheitsrechtliche Anordnung, Inanspruchnahme von Erben als Zustandsstörer vor Erteilung des Erbscheines., Inanspruchnahme von Erben als Zustandsstörer vor Erteilung des Erbscheines, Stand- und Verkehrssicherheit, Anscheinsgefahr, Gefahrenverdacht, Erbenbesitz, Sachherrschaft
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 21.11.2023 – W 4 S 23.1304
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3148

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerinnen und Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- € festgesetzt.

Gründe

I.
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Die Antragstellerinnen und Antragsteller (im Folgenden: Antragsteller) wenden sich gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Anordnung der Antragsgegnerin vom 30. August 2023 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26. Oktober 2023 (modifizierte Fristen), mit der sie als Erben des streitgegenständlichen Anwesens (FlNr. … … …*) verpflichtet wurden, das Dach und das Gebäude auf Standsicherheit von einer Fachfirma begutachten zu lassen, bis zum 1. Dezember 2023 darüber eine Auftragsbestätigung und bis zum 31. Januar 2024 die Begutachtungsergebnisse vorzulegen sowie die erforderlichen Maßnahmen binnen vier Wochen nach Bekanntwerden des Gutachtenergebnisses durchzuführen.
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der dagegen erhobenen Klage abgelehnt. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung werde die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben, da die auf Art. 54 Abs. 2 Satz 2 BayBO in Verbindung mit Art. 3 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 BayBO gestützten Anordnungen wegen Vorliegens hinreichender Tatsachen, die für das Vorhandensein einer Gefahr für Gesundheit und Leben von Menschen sprächen, voraussichtlich rechtmäßig seien. Unter Berücksichtigung der Angaben der Dachdeckerfirma, die im Auftrag der Antragsgegnerin im September 2022 Sicherungsmaßnahmen an der Dacheindeckung durchgeführt habe, sowie der entsprechenden Lichtbilder sei ohne weiteres davon auszugehen, dass jedenfalls zur Innenhofseite hin sich weiterhin Schieferschindeln lösen und herabfallen könnten. Im Kellergeschoss habe sich bei der Ortseinsicht am 22. September 2022 nach einem Wassereinbruch noch immer Wasser befunden und seien angerostete Stahlträger vorgefunden worden, die mit Sprießen unterbaut seien; laut Aktenvermerk vom 27. September 2022 könnte die Standsicherheit des Gebäudes gefährdet sein. Das sichere Vorliegen dieser Gefahr sei nicht notwendig; auch werde die Einschätzung als mögliche Gefahrenlage nicht dadurch in Frage gestellt, dass eine akute Einsturzgefahr bei dem Gebäude derzeit wohl nicht bestehe. Die insoweit nunmehr eingeräumten Fristen begegneten mit Blick auf die hier im Raum stehenden Gefahren für die hochrangigen Rechtsgüter Gesundheit und Leben keinen Bedenken. Die gesamtschuldnerische Verpflichtung der Antragsteller als Miterben des zum Nachlass gehörenden Gebäudes sei unter dem Gesichtspunkt einer an der effektiven Gefahrenabwehr orientierten Störerauswahl nicht zu beanstanden. Der Inanspruchnahme stehe nicht entgegen, dass bislang noch kein Erbschein ausgestellt worden sei. Dass die Antragsteller keine Verfügungsgewalt über das Anwesen hätten, trügen diese selbst nicht vor; auch spreche eine bereits stattgefundene Besichtigung mit Kaufinteressenten dagegen. Die mit den baurechtlichen Anordnungen geforderten Maßnahmen seien als solche einer ordnungsgemäßen Nachlassverwaltung einzustufen. Die behördlichen Anordnungen sowie die hierfür gesetzten Fristen seien angemessen und frei von Ermessensfehlern.
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Mit der eingelegten Beschwerde verfolgen die Antragsteller ihr Rechtsschutzziel weiter. Unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vortrags machen sie im Wesentlichen geltend, das behauptete Herunterfallen von Dachziegeln habe sich als Lüge erwiesen, dies ergebe sich auch nicht aus den behördlichen Vermerken. Fotos zur Kellerstütze ließen zwar Feuchtigkeitsschäden erkennen, nicht aber Schäden, die die Standsicherheit des Gebäudes in Frage stellen könnten. Nach den in den Akten befindlichen Vermerken seien weder Zweifel an der Standsicherheit des Gebäudes noch Bedenken wegen angeblich drohenden Herabfallens von Dachziegeln berechtigt. Die getroffene Anordnung sei nicht erfüllbar und widersprüchlich, da eine Fachfirma nicht mit einem Gutachtensauftrag für die Standsicherheit beauftragt werden könne, dies könne nur ein Sachverständiger. Der in Absprache mit der Antragsgegnerin beauftragte Sachverständige habe mitgeteilt, dass die Frist für die Erstellung eines Gutachtens schlichtweg „illusorisch“ sei und unmöglich eingehalten werden könne. Hinsichtlich des noch nicht erteilten Erbscheins setze sich das Verwaltungsgericht nicht mit der dargelegten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auseinander. Die vom Gericht vertretene Auffassung sei falsch, da der Erbschein nicht nur der Feststellung der Erbverhältnisse, sondern vor allem auch der Festlegung etwaiger Beschränkungen für die Erben diene. Der Erbschein sei für den Nachweis der Erbschaft unabdinglich, die Erbschaftsverhältnisse seien nicht abschließend geklärt. Der Antragstellerbevollmächtigte habe im Auftrag der Antragsteller am 9. Januar 2024 einen Kaufvertrag abgeschlossen, der aber erst für den Fall der Ausstellung der Erbscheine und erst dann rechtswirksam werde, wenn die Antragsteller mit einzelnen notariell beglaubigten Erklärungen diesem Kaufvertrag zustimmten; der Erwerber wolle das Anwesen generalsanieren. Laut dem Begehungsprotokoll vom 14. Dezember 2023 durch das Sachverständigenbüro W. bestehe keine akute Gefährdung der Standsicherheit. Durch die Vorlage des Begehungsprotokolls sei die Einholung eines Sachverständigengutachtens hinfällig. Die Antragsteller haben beantragt,
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den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. November 2023 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ziffern 1 bis 5 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 30. August 2023 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 26. Oktober 2023 wiederherzustellen.
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Die Antragsgegnerin hat beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen,
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und verteidigt den angefochtenen Beschluss. Eine fristgerechte Erledigung der Begutachtung hätte erfolgen können, sofern von den Beschwerdeführern der Auftrag rechtzeitig erteilt worden wäre; der Sachverständige sei jedoch erst am 1. Dezember 2023 beauftragt worden. In dem Begehungsprotokoll vom 14. Dezember 2023 seien lediglich Aussagen zum Gebäude selbst, nicht aber auch zum Dach getroffen worden. Eine Sichtung oder eine Begutachtung des Dachs habe nicht stattgefunden. Die von der Antragsgegnerin im Jahr 2022 aufgrund einer akuten Gefahrenlage mit Notsicherungsmaßnahmen beauftragte Fachfirma habe festgestellt, dass sich das Dach allgemein in einem sehr schlechten Zustand befinde und schnellstens saniert werden sollte. Diese Gefahrenlage bestehe weiterhin fort, da Sicherungsmaßnahmen auf der Rückseite des Gebäudes, d.h. zum Innenhof nicht veranlasst worden seien und der Verfall des Gebäudes voranschreite. Das Gebäude befinde sich in zentraler Innenstadtlage in einem verkehrsberuhigten Bereich, benachbart seien Geschäfte und ein Kino; das Objekt sei nach derzeitigem Kenntnisstand noch von einer Person bewohnt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf den übermittelten Behördenakt verwiesen.
II.
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Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die von den Antragstellern dargelegten Gründe, auf die die Prüfung des Senats im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragsteller auf vorläufigen Rechtsschutz (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO) zu Recht abgelehnt, weil die Klage im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Der angefochtene Bescheid erscheint angesichts der Zweifel hinsichtlich der Standsicherheit des Gebäudes und der von ihm ausgehenden Gefahren, insbesondere durch herabfallende Dachziegel rechtmäßig (vgl. Art. 54 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 3 und Art. 14 BayBO) und verletzt keine Rechte der Antragsteller, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Senat nimmt deshalb zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses und sieht von einer weiteren Begründung ab. Lediglich ergänzend bleibt im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen Folgendes zu bemerken:
10
Soweit die Antragsteller das erstinstanzliche Vorbringen wiederholen, das streitgegenständliche Anwesen leide an keinen erheblichen Mängeln und es gingen davon keinerlei Gefahren aus, hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass Anordnungen nach Art. 54 Abs. 2 Satz 2 BayBO auch bei einer durch Tatsachen erhärteten sog. Anscheinsgefahr oder einem sog. Gefahrenverdacht getroffen werden können und nicht das sichere Vorliegen einer Gefahr fordern. Maßstab für die Eingriffsschwelle ist der allgemeine sicherheitsrechtliche Grundsatz, wonach an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Da es sich bei den Rechtsgütern Leben und Gesundheit um hochwertige Rechtsgüter handelt, zu deren Schutz der Staat gemäß Art. 2 Abs. 2 GG auch verfassungsrechtlich verpflichtet ist, sind an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts keine allzu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 16.12.2020 – 9 CS 20.2415 – juris Rn. 22 m.w.N.). In Anbetracht der bei Ortseinsichten getroffenen Feststellungen, der Aussagen der Dachdeckerfirma sowie der entsprechenden Lichtbilder ist von einem weiterhin möglichen Ablösen von Schieferschindeln, insbesondere auf Seiten des Innenhofs auszugehen (vgl. Lichtbild Bl. 41 BA). Unter Berücksichtigung der Lage des Anwesens in belebter Innenstadtlage, der Bewohnung des Gebäudes und einer möglichen Frequentierung auch des Innenhofes liegen hinreichende Tatsachen vor, die für das Vorhandensein einer Gefahr für Gesundheit und Leben von Menschen sprechen. Gleiches gilt im Hinblick auf die Standsicherheit des Gebäudes aufgrund der getroffenen Feststellungen der Antragsgegnerin (angerostete Stahlträger, Wasserstand, Gefahr von Unterspülung, Risse in der Außenwand, vgl. Aktenvermerke S. 1, 30, 46). Soweit die Antragsteller erneut anführen, dass behördlicherseits eine akute Einsturzgefahr verneint worden sei, steht dies – worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat – in Anbetracht gleichwohl bestehender Zweifel an der Stand- und Verkehrssicherheit des Gebäudes den streitgegenständlichen Anordnungen nicht entgegen. Die im streitgegenständlichen Bescheid gewählte Formulierung „Fachfirma“ macht hinreichend deutlich, dass es sich dabei um eine fachkundige Stelle zu handeln hat; Zweifel an der Erfüllbarkeit der Anordnung ergeben sich daraus nicht.
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Das von den Antragstellern vorgelegte Protokoll vom 14. Dezember 2023 beruhte auf einer Begehung zur Einschätzung, ob es an dem Gebäude „gravierende Schäden“ gebe, die die „Standsicherheit“ in Frage stellen. Dabei waren Teile des Gebäudes, insbesondere das Erdgeschoss gar nicht und der Keller nur eingeschränkt begehbar, es habe an einer ausreichenden Beleuchtung gefehlt. Die im Protokoll getroffenen Aussagen beruhten auf einer visuellen Einschätzung und halten sich eher vage: „Bei einigen der Kappenträger sind an den freien Untergurten z.T. deutliche Korrosionsschäden erkennbar, die auch schon zu Abplatzungen an den Profilen geführt haben. Mit den vor Ort zur Verfügung stehenden Mitteln konnten jedoch keine vollständigen Durchrostungen oder Fehlstellen von Trägern festgestellt werden. Die Träger scheinen auf den Auflagern aufzuliegen.“ Ausdrücklich stelle die Beurteilung eine „Einschätzung“ dar, „basierend auf augenscheinlich und stichprobenartig am Objekt vorgenommenen Kontrollen“; Bauteilöffnungen zur Erkennbarkeit von Schäden wurden einer erneuten Sichtung vorbehalten. Aussagen zum Dach des Gebäudes und davon ausgehende Gefahren durch herabfallende Dachziegel wurden in dieser Stellungnahme nicht getroffen. Insoweit hat die Antragsgegnerin zu Recht darauf hingewiesen, dass mit Vorlage dieses Begehungsprotokolls die im streitgegenständlichen Bescheid getroffenen Anordnungen nicht erledigt wurden; eine verlässliche Aussage zur Sicherheit des Gebäudes vermag dieses Begehungsprotokoll nicht zu liefern.
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Schließlich führt auch der wiederholte Verweis der Antragsteller auf die noch nicht erteilten Erbscheine nicht zu einer Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass die Erteilung des Erbscheins die materielle Erbenstellung nicht beeinflusst und die Antragsteller selbst nicht geltend machen, dass sie keinen Zugriff auf das Gebäude hätten. Zwar begründet der nicht tatsächlich ausgeübte, lediglich fiktive Erbenbesitz nach § 857 BGB mangels tatsächlicher Beziehung zu einer Sache keinen Gewahrsam im Sinne einer tatsächlichen, nach außen erkennbaren Sachherrschaft und entsteht ein mit Sachherrschaft verbundener Besitz des Erben erst durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt (vgl. OVG LSA, B.v. 18.9.2023 – 2 M 86/23 – juris Rn. 13). Davon ist hier jedoch auszugehen. Nach Mitteilung des Nachlassgerichts an die Antragsgegnerin vom 30. Mai 2023 stehe die Erbfolge fest, weshalb auch kein Nachlasspfleger mehr bestellt werde. Es fehle lediglich am Nachweis der Erbenstellung, Sicherungsmaßnahmen könnten durch die Erben erfolgen. Dass die Antragsteller die Sachherrschaft über das Gebäude haben, lässt sich an den von ihnen initiierten Besichtigungsterminen mit möglichen Erwerbern im Gebäude und dem in die Wege geleiteten Verkauf des Anwesens erkennen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 VwGO.
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Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nrn. 1.7.2, 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung von 2013 und entspricht der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).