Titel:
Erfolgreicher Eilantrag der Nachbarn - Wahrung des Doppelhauscharakters
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauNVO 1962 § 22 Abs. 2 S. 1
BBauG 1960 § 13
BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Für die Frage, ob grenzständige Gebäude ein Doppelhaus bilden, kommt es auf die wechselseitige Verträglichkeit dieser Gebäude an. Ein Doppelhaus liegt dann vor, wenn es den Gesamteindruck einer offenen, aufgelockerten Bebauung nicht stört, eben weil es als ein Gebäude erscheint. Dabei ist eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls vorzunehmen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Doppelhausfestsetzung der offenen Bauweise gem. § 22 Abs. 2 S. 1 BauNVO 1962 ist nachbarschützend. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Offene Bauweise, Doppelhaus, Wechselseitige Verträglichkeit der grenzständigen Gebäude, Wertende Gesamtbetrachtung., Wertende Gesamtbetrachtung, Abstandsflächen
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 12.10.2023 – AN 9 S 23.1256
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3147
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Beigeladene hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,00 € festgesetzt.
Gründe
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1. Die Antragstellerinnen sind Eigentümerinnen des Grundstücks FlNr. … der Gemarkung …, das direkt nördlich an das Grundstück FlNr. … des Beigeladenen angrenzt. Beide Grundstücke liegen im Bereich des am 20. Januar 1968 bekannt gemachten qualifizierten Bebauungsplans Nr. ... (nunmehr Nr. …), gemäß dessen Ziffer 5 der „weiteren Festsetzungen“ für das Plangebiet die offene Bauweise gilt mit der Abweichung, dass Garagen auf den dafür im Plan festgesetzten Flächen an der Grundstücksgrenze zulässig sind, auch dann, wenn sie mit dem Hauptgebäude verbunden werden. Für die streitgegenständlichen Grundstücke sieht der Bebauungsplan Baugrenzen vor. Ferner enthält der ursprüngliche Bebauungsplan eine Festsetzung hinsichtlich der Zahl der Vollgeschosse „E+3“, was nach der Planzeichenerklärung bedeutet, dass als Maß der baulichen Nutzung ein Erdgeschoss zuzüglich drei Vollgeschosse als Höchstgrenze festgelegt sind. Darüber hinaus ist in der Planzeichnung für die streitgegenständlichen Grundstücke „E+1“ eingezeichnet, was jedoch nicht farblich hinterlegt und deren Bedeutung in der Planzeichenerklärung nicht erläutert ist. Derzeit sind die Grundstücke mit an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebauten Doppelhaushälften jeweils mit der Geschosszahl E+1 bebaut.
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2. Der Beigeladene (und Beschwerdeführer) beantragte am 23. Januar 2023 bei der Antragsgegnerin die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit vier Wohneinheiten (E+3) anstelle der bestehenden Doppelhaushälfte, die abgerissen werden soll. Laut Eingabeplan soll das Mehrfamilienhaus einen Versatz von 2,87 m auf der West- und 3,12 m auf der Ostseite zur Doppelhaushälfte der Antragstellerinnen aufweisen, auf einer Länge von 6,82 m würden die beiden Gebäude aneinandergebaut. Das geplante Gebäude wird nach den Plänen eine Firsthöhe von 14,42 m, eine Traufhöhe von 11,62 m und eine Dachneigung von 30 Prozent aufweisen. Die Gebäudelänge soll ab dem ersten Obergeschoss 17,69 m in Blickrichtung Nord-Süd betragen, im Erdgeschoss 12,69 m. Nach der im Beschwerdeverfahren vom Beigeladenen vorgelegten „Ansicht Nord“ beträgt die gegenwärtige Firsthöhe des Wohnhauses der Antragstellerinnen – ausgehend vom natürlichen Geländeverlauf – 10,42 m zuzüglich eines Dachaufbaus von etwa 30 cm, die Traufhöhe beträgt danach 6,70 m. Die Darstellung weicht von den genehmigten Plänen aus dem Jahr 1971 ab, wonach die Firsthöhe nach Vortrag der Antragstellerinnen auf der Ostseite 12,60 m und auf der Westseite von 11,75 m beträgt. Das Dach des Gebäudes der Antragstellerinnen weist eine Neigung von 38 Grad auf, die Gebäudelänge beträgt in Blickrichtung Nord-Süd 11,95 m.
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Mit Bescheid vom 11. Mai 2023 erteilte die Antragsgegnerin die beantragte Baugenehmigung unter gleichzeitiger Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von den Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplans Nr. … wegen Überschreitung der Baugrenzen nach Westen durch die Terrasse, wegen Überschreitung der Baugrenzen nach Westen durch die Balkone, wegen Überschreitung der Baugrenzen nach Osten durch das Vordach.
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3. Die Antragstellerinnen haben gegen die Baugenehmigung mit Schriftsatz vom 20. Juni 2023 Anfechtungsklage erhoben (AN 9 K 23.1257), über die noch nicht entschieden ist, und zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Mit Beschluss vom 12. Oktober 2023 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Zur Begründung führt es aus, dass es dahinstehen könne, ob der Bebauungsplan eine wirksame Festsetzung über die Zahl der zulässigen Vollgeschosse von E+3 aufweise oder ob sich die Bebaubarkeit zumindest insofern etwa nach § 34 BauGB richte, da die streitgegenständliche Baugenehmigung jedenfalls die nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalte. Der Charakter des Doppelhauses sei nicht (mehr) gewahrt, so dass Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht zur Anwendung komme.
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4. Mit seiner am 25. Oktober 2023 erhobenen Beschwerde richtet sich der Beigeladene gegen diesen Beschluss des Verwaltungsgerichts. Er trägt vor, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sei grundsätzlich von der Wirksamkeit des Bebauungsplans als Rechtsnorm auszugehen. Dieser enthalte keine Festsetzung nach § 22 Abs. 2 Satz 2 BauNVO, der für die streitgegenständlichen Grundstücke eine Bebauung mit einem Doppelhaus zwingend vorgeben würde, weshalb innerhalb des durch die Baugrenzen definierten Baufensters in offener Bauweise Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet werden könnten. Es liege kein Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht vor, da Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO anzuwenden sei, wonach eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden sei, die an Grundstücksgrenzen errichtet würden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden müsse oder dürfe. Als Teil eines bauplanungsrechtlich zulässigen Doppelhauses oder einer Hausgruppe dürfe hier nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden. Die Doppelhaushälfte auf dem Grundstück der Antragstellerinnen überschreite die im Bebauungsplan festgesetzte Baugrenze deutlich, weshalb sich die Antragstellerinnen nicht auf den Nachbarschutz aus der vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Doppelhausrechtsprechung berufen könnten.
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Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 12.10.2023, Az. AN 9 S 23.1256, wird abgeändert. Der Antrag wird abgelehnt.
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Die Antragstellerinnen stellen den Antrag,
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die Beschwerde kostenpflichtig zurückzuweisen.
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Der Bebauungsplan Nr. … sei nicht rechtsverbindlich. Die Genehmigung der beiden Doppelhaushälften sei gezielt als ein Doppelhaus erfolgt. Neben dem Verstoß gegen Abstandsflächen verstoße das geplante Vorhaben auch gegen das Rücksichtnahmegebot, da der Charakter eines Doppelhauses aufgehoben werde.
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Die Antragsgegnerin hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung des erkennenden Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht die aufschiebende Wirkung der gegen die streitgegenständliche Baugenehmigung gerichteten Klage angeordnet.
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Zunächst ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO davon auszugehen, dass sich Dritte gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen können, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtwidrig ist und diese Rechtswidrigkeit auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Davon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen, indem es darauf abgestellt hat, dass das Bauvorhaben des Beigeladenen entgegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält.
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Wenn man von der Wirksamkeit des Bebauungsplans ausgeht, ist keine andere Entscheidung zu treffen, denn auch im Falle der Wirksamkeit der Festsetzung einer Bebauung mit einem Erdgeschoss und drei Vollgeschossen als Höchstgrenze verletzt das geplante Vorhaben die drittschützenden Anforderungen des bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenrechts aus Art. 6 BayBO gegenüber den Antragstellerinnen.
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1. Das Bauvorhaben des Beigeladenen erscheint bei summarischer Prüfung an Hand der Baupläne als nicht genehmigungsfähig, da es mit der im Bebauungsplan Nr. … festgelegten offenen Bauweise nicht vereinbar ist, wonach gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO (1962) Gebäude als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen mit einer Länge von höchstens 50 m zulässig sind. Ein Doppelhaus in diesem Sinne ist der Sache nach eine Modifikation der offenen Bauweise (Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: August 2023, § 22 BauNVO Rn. 26; Ziegler in Kohlhammer, Baugesetzbuch, Stand Oktober 2018, § 22 Rn. 5). Es handelt sich um zwei an einer seitlichen Nachbargrenze zu einer baulichen Einheit aneinandergebauten, im Übrigen jedoch freistehende Gebäude. Die Errichtung eines solchen Doppelhauses ist dabei nur möglich, wenn sich die betroffenen Grundstückseigentümer über eine solche Bebauung einigen, andernfalls sind die Bauräume nur unter Einhaltung eines seitlichen Grenzabstandes ausnutzbar (BVerwG, U. v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 21; B.v. 1.2.2016 – 4 BN 26/15 – juris Rn. 3 m.w.N).
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Für die Frage, ob grenzständige Gebäude ein Doppelhaus bilden, kommt es auf die wechselseitige Verträglichkeit dieser Gebäude an. Ein Doppelhaus liegt dann vor, wenn es den Gesamteindruck einer offenen, aufgelockerten Bebauung nicht stört, eben weil es als ein Gebäude erscheint (BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – juris Rn. 19). Dabei ist eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls vorzunehmen, wobei qualitative und quantitative Kriterien nicht isoliert betrachtet werden dürfen, denn es ist ebenso denkbar, dass größere quantitative Abweichungen bei deutlich einheitlicher Gestaltung hingenommen werden können, wie es vorstellbar ist, dass eine deutlich abweichende Gestaltung in ihrer Wirkung gemildert wird, weil die Gebäudeteile in quantitativer Hinsicht sehr übereinstimmen. Eine isolierte Betrachtung vernachlässigt auch, dass Fälle denkbar sind, in denen erst das Zusammenwirken quantitativer und qualitativer Kriterien den Charakter eines Doppelhauses entfallen lassen (BVerwG, U.v. 19.3.2015 a.a.O. Rn. 21). Dabei darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass eine gemeinsame Gebäudehöhe für das Maß der Übereinstimmung beider Gebäude von besonderer Bedeutung ist, weil dieses nach außen besonders sichtbar wird (BVerwG, U.v. 19.3.2015 a.a.O. Rn. 17).
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Gemessen an diesen Grundsätzen liegt nach Errichtung des vom Beigeladenen geplanten Mehrfamilienhauses kein einheitlicher Baukörper mehr vor, vielmehr ergibt eine wertende Gesamtbetrachtung, dass voraussichtlich zwei selbständige Gebäudeteile entstehen werden. So ist das künftige Gebäude des Beigeladenen gegenüber dem der Antragstellerinnen erhöht, die Dachneigungen stimmen nicht überein und die Gebäudelängen weichen – ab dem ersten Obergeschoss – um 5,75 m voneinander ab. Auch hinsichtlich der Geschossigkeit unterscheiden sich die Gebäude stark. Hinzu tritt der Versatz der Gebäude zueinander. In seiner Gesamtwürdigung sprechen diese quantitativen und qualitativen Unterschiede sehr dafür, dass das Mehrfamilienhaus gegenüber dem Haus der Antragstellerinnen als eigenständiges Gebäude in Erscheinung treten wird.
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2. Die Doppelhausfestsetzung der offenen Bauweise gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO (1962) ist nachbarschützend (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12/98 – juris). Die Antragstellerinnen können sich insoweit auf die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung berufen. Dies gilt unabhängig davon, ob die im ursprünglichen Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen noch wirksam sind.
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Die vom Beigeladenen zitierte Entscheidung des 15. Senats vom 15. Februar 2018 (15 CS 17.2549), aus der er herleitet, dass sich die Antragstellerinnen nicht auf den aus der „Doppelhaus-Rechtsprechung“ entwickelten Nachbarschutz berufen könnten, da sie durch den Bau des Wohngebäudes mit ca. ¼ der Grundfläche außerhalb der festgesetzten Baugrenze lägen und dementsprechend selbst gegen das wechselseitige Austauschverhältnis verstoßen hätten, kann mangels vergleichbaren Sachverhalts auf den hiesigen Fall nicht übertragen werden. In der vom Beigeladenen zitierten Entscheidung wurden die – vom Bebauungsplan abweichenden – Fakten einseitig von der Antragstellerseite vorgegeben, das geplante Vorhaben des Beigeladenen sollte hingegen vollständig innerhalb der festgesetzten Baugrenzen liegen. Im hiesigen Verfahren jedoch haben die Antragstellerinnen weder die ursprüngliche Bebauung einseitig vorgegeben, vielmehr wurde die Bebauung beider Grundstückshälften untereinander abgestimmt, noch soll das geplante Bauvorhaben vollständig innerhalb der Baugrenzen errichtet werden. Es spricht daher vieles dafür, dass sich die Antragstellerinnen auf die nachbarschützende Wirkung der Doppelhausfestsetzung berufen können.
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3. Der Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 9.7.1, 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung von 2013; sie folgt der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).