Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.02.2024 – 6 ZB 24.179
Titel:

Verfristet eingelegte Berufung (hier: Übermittlung an unzuständiges Gericht)

Normenketten:
VwGO § 57 Abs. 2, § 60 Abs. 2 S. 4, § 124a Abs. 4 S. 4, § 173 S. 1
ZPO § 85 Abs. 2, § 222 Abs. 1
BGB § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2, § 193
Leitsätze:
1. Ein Rechtsanwalt muss bei der Unterzeichnung seiner Rechtsmittelschrift oder seiner Rechtsmittelbegründungsschrift persönlich prüfen, ob sie an das zuständige Gericht adressiert ist (stRspr VGH München BeckRS 2021, 20941); diese Prüfung kann nicht dem Büropersonal überlassen werden, sodass auch ein "Büroversehen" als potentielle Ursache der Fehladressierung den Rechtsanwalt nicht entlasten kann (ebenso VGH München BeckRS 2013, 52273). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren und der darauf beruhenden Fürsorgepflicht des Gerichts für die Prozessparteien muss der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf (dafür) unzuständige Gerichte verlagert werden (ebenso VGH München BeckRS 2013, 52770). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Adressiert ein Kläger bzw. sein Bevollmächtigter den Rechtsmittelbegründungsschriftsatz an ein unzuständiges Gericht, das zuvor mit dem Verfahren befasst war, kann er nur erwarten, dass sein fristgebundener Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weitergeleitet wird; eine vordringliche Behandlung etwa durch die unmittelbare Weiterleitung per EGVP eines am Tag des Fristablaufs beim Verwaltungsgericht eingegangenen Begründungsschriftsatzes an das Rechtsmittelgericht gehört nicht mehr zum ordentlichen Geschäftsgang (ebenso BVerfG BeckRS 2006, 21434; VGH München BeckRS 2013, 52770). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Soldatenrecht, Versäumung der Zulassungsbegründungsfrist, Verschulden des Prozessbevollmächtigten, Adressierung des Begründungsschriftsatzes an das Verwaltungsgericht, Weiterleitung am folgenden Tag, Ordnungsgemäßer Geschäftsgang, Adressierung des Begründungsschriftsatzes, ordnungsgemäßer Geschäftsgang, Wiedereinsetzung von Amts wegen, Büropersonal, Poststelle, Geschäftsstelle
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 07.11.2023 – M 21a K 23.1869
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3142

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 7. November 2023 – M 21a K 23.1869 – wird verworfen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 15.042,40 € festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung der mit Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2021 verfügten fristlosen Entlassung aus dem Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit weiterverfolgt, ist unzulässig. Denn er ist nicht fristgerecht begründet worden.
2
Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist, soweit sie – wie hier – nicht bereits mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgelegt worden ist, nach § 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO beim Verwaltungsgerichtshof einzureichen. Eine Begründung des Zulassungsantrags ist jedoch beim Verwaltungsgerichtshof nicht innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eingegangen.
3
Das vollständige, mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 7. November 2023 ist den Bevollmächtigten des Klägers ausweislich des bei den Akten befindlichen Empfangsbekenntnisses (VG-Akte Bl. 178) sowie nach deren Angaben im Zulassungsantrag vom 21. Dezember 2023 am 27. November 2023 zugestellt worden. Die Frist von zwei Monaten zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) endete daher nach § 57 Abs. 2 VwGO I.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO und §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 1. Alt., 193 BGB mit Ablauf des 29. Januar 2024 (Montag).
4
Der an das Bayerische Verwaltungsgericht München adressierte Begründungsschriftsatz der Klägerbevollmächtigten vom 29. Januar 2024, der ausweislich des vorliegenden Prüfvermerks dort auf elektronischem Weg per beA am 29. Januar 2024 um 15:11 Uhr eingegangen ist, wurde durch das Verwaltungsgericht am Morgen des 30. Januar 2024 per EGVP an den Verwaltungsgerichtshof übersandt. Die Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO war zu diesem Zeitpunkt aber bereits abgelaufen. Die Einreichung der Zulassungsbegründung beim Verwaltungsgericht wahrte die Frist nicht. Eine Reaktion des Klägers auf den entsprechenden Hinweis des Senats erfolgte nicht.
5
Dem Kläger ist keine Wiedereinsetzung von Amts wegen (§ 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO) in die versäumte Frist für die Begründung des Zulassungsantrags zu gewähren. Denn der Kläger bzw. seine Bevollmächtigten, deren Verschulden sich der Kläger zurechnen lassen muss (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO), sind an der Wahrung dieser gesetzlichen Frist nicht ohne Verschulden im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO gehindert gewesen. In der Rechtsmittelbelehrungder angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts wurde zutreffend (der Regelung des § 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO entsprechend) darauf hingewiesen, dass die Begründung des Zulassungsantrags beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof einzureichen ist, soweit sie – wie hier – nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist. Entgegen dieser Belehrung wurde der vom Klägerbevollmächtigten unterzeichnete Zulassungsbegründungsschriftsatz vom 29. Januar 2024 an das Bayerische Verwaltungsgericht München adressiert. Ein Rechtsanwalt muss bei der Unterzeichnung seiner Rechtsmittelschrift oder seiner Rechtsmittelbegründungsschrift aber persönlich prüfen, ob sie an das zuständige Gericht adressiert ist (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 13.7.2021 – 23 ZB 21.1632 – juris Rn. 5; B.v. 23.1.2006 – 22 ZB 05.2865 – juris Rn. 5 m.w.N.). Diese Prüfung kann nicht dem Büropersonal überlassen werden, so dass auch ein „Büroversehen“ als potentielle Ursache der Fehladressierung die Klägerbevollmächtigte nicht entlasten kann (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2013 – 10 ZB 13.559 – juris Rn. 7).
6
Die dem Kläger somit zuzurechnende Fehladressierung der Zulassungsbegründungsschrift war für die Fristversäumung auch ursächlich. Das Verschulden des Klägers ist nicht etwa mangels Kausalität unbeachtlich, weil das Verwaltungsgericht den fristgebundenen Schriftsatz nicht am selben Tag, sondern erst am darauf folgenden Tag an den Verwaltungsgerichtshof weitergeleitet hat. Denn auch unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und der darauf beruhenden Fürsorgepflicht des Gerichts für die Prozessparteien muss der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf (dafür) unzuständige Gerichte verlagert werden. Dieser Fürsorgepflicht des erstinstanzlichen Gerichts für die Prozessparteien entspricht es, einen fehlerhaft adressierten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht (hier den Verwaltungsgerichtshof) weiterzuleiten (vgl. BVerfG, B.v. 17.1.2006 – 1 BvR 2558/05 – NJW 2006, 1579; BVerwG, B.v. 15.7.2003 – 4 B 83.02 – NVwZ-RR 2003, 901; BayVGH, B.v. 1.7.2013 – 5 ZB 13.1106 – juris Rn. 7; NdsOVG, B.v. 8.1.2014 – 11 LA 229/13 – juris Rn. 5); eine vordringliche Behandlung etwa durch unmittelbare Weiterleitung des Schriftsatzes per EGVP an das Rechtsmittelgericht ist nicht geboten, zumal diese bei fristgebundenen Schriftsätzen eine vorherige Fristprüfung bzw. das Wissen um den unmittelbar bevorstehenden Fristablauf voraussetzen würde.
7
Adressiert ein Kläger bzw. sein Bevollmächtigter den Rechtsmittelbegründungsschriftsatz an ein unzuständiges Gericht, das zuvor mit dem Verfahren befasst war, kann er nur erwarten, dass sein fristgebundener Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das Rechtsmittelgericht weitergeleitet wird; die unmittelbare Weiterleitung per EGVP eines am Tag des Fristablaufs um 15:11 Uhr beim Verwaltungsgericht eingegangenen Begründungsschriftsatzes gehört nicht mehr zum ordentlichen Geschäftsgang (vgl. BVerfG, B.v. 17.1.2006 – 1 BvR 2558/05 – NJW 2006, 1579; BVerwG, B.v. 15.7.2003 – 4 B 83.02 – NVwZ-RR 2003, 901; BGH, B.v. 24.6.2010 – V ZB 170/09 – juris; BayVGH, B.v. 1.7.2013 – 5 ZB 13.1106 – juris Rn. 7; NdsOVG, B.v. 8.1.2014 – 11 LA 229/13 – juris Rn. 5). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht bereits die Mitarbeiter der Poststelle oder der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts erkennen konnten oder mussten, dass der ausdrücklich an das Verwaltungsgericht adressierte Schriftsatz eine Verfahrenshandlung enthielt, für deren fristwahrende Entgegennahme nach den einschlägigen prozessrechtlichen Bestimmungen nur der Verwaltungsgerichtshof zuständig war. Die Weiterleitung des Zulassungsbegründungsschriftsatzes durch das Verwaltungsgericht einen Tag nach dem dortigen Eingang erfolgte im ordnungsgemäßen Geschäftsgang ohne schuldhaftes Zögern.
8
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG.
9
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).