Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.02.2024 – 3 ZB 23.2144
Titel:

Voraussetzungen eines "tätlichen Angriffs"

Normenketten:
BayBG Art. 97 Abs. 1 S. 1
StGB § 164
BGB § 253 Abs. 2
Leitsätze:
1. Art. 97 BayBG verpflichtet den Dienstherrn – vor dem Hintergrund der ihm aus § 45 BeamtStG obliegenden Fürsorgepflicht – im Rahmen eines auf schwerwiegende Übergriffe beschränkten Ausnahmetatbestands, einen in dienstlichem Zusammenhang erlangten (uneinbringlichen und rechtskräftig festgestellten) Schmerzensgeldanspruch seines Beamten in Fällen zu übernehmen, in denen der Beamte ein erhebliches Sonderopfer für die Allgemeinheit erbracht hat. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die durch Blut- und Haarprobenentnahme hervorgerufenen Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens sind von nur kurzfristiger Dauer und in ihrer Auswirkung zu marginal, um einen über die gezielte Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie die psychischen Belastungen hinausgehenden "tätlichen Angriff" in einer dem Normzweck gerecht werdenden Weise begründen zu können. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erfüllungsübernahme rechtskräftig festgestellter, uneinbringlicher Schmerzensgeldanspruch, Begriff des „tätlichen Angriffs“, tätlicher Angriff, Schmerzensgeld, Erfüllungsübernahme, Vollendung, Gesundheitsschädigung, Beleidigung, Bedrohung, Gesamtschau, Ermittlungsbeamte
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 24.10.2023 – W 1 K 23.816
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3135

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 2.000 Euro festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Der allein geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
2
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht. Solche sind nur zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und die Zweifel an der Richtigkeit dieser Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
3
Das Verwaltungsgericht, auf dessen Sachverhaltsdarstellung im Tatbestand des angegriffenen Urteils Bezug genommen wird, hat die Klage des Klägers auf Verpflichtung des Beklagten, über seinen Antrag auf Erfüllungsübernahme des ihm durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Haßfurt vom 20. November 2019 zugesprochenen Schmerzensgeldanspruchs (§ 253 Abs. 2 BGB) in Höhe von 2.000,- Euro unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden und den ablehnenden Bescheid des Landesamts für Finanzen vom 30. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2023 aufzuheben, zu Recht abgewiesen. Hiergegen ist auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens nichts zu erinnern. Das Verwaltungsgericht hat den geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Erfüllungsübernahme aus der hierfür allein in Betracht kommenden Norm des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG zurecht verneint, da es am Tatbestandsmerkmal des tätlichen Angriffs fehlt. Vielmehr liegt der Schwerpunkt des Sachverhalts, aus dem das Amtsgericht den Schmerzensgeldanspruch abgeleitet hat, im Bereich einer falschen Verdächtigung (§ 164 StGB), nicht dagegen einer Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit (§§ 223 f. StGB).
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1.1 Der unbestimmte Rechtsbegriff des „tätlichen rechtswidrigen Angriffs“ bestimmt als Eingangsmerkmal des Art. 97 BayBG die geschützten Rechtsgüter, zu denen in erster Linie die körperliche Unversehrtheit des Beamten zählt (Buchard in BeckOK, Beamtenrecht Bayern, Brinktrine/Voitl, Stand 1.9.2022, Art. 97 BayBG Rn. 12, 13.3). Mit der zum 1. Januar 2015 eingeführten Vorschrift wollte der Gesetzgeber – vor dem Hintergrund der ihm aus § 45 BeamtStG obliegenden Fürsorgepflicht – im Rahmen eines auf schwerwiegende Übergriffe beschränkten Ausnahmetatbestands den jeweiligen Dienstherrn verpflichten, einen in dienstlichem Zusammenhang erlangten (uneinbringlichen und rechtskräftig festgestellten) Schmerzensgeldanspruch seines Beamten in Fällen zu übernehmen, in denen der Beamte ein erhebliches Sonderopfer für die Allgemeinheit erbracht hat (Begründung des Gesetzentwurfs, LT-Drs. 17/2871, S. 48; Brandl-Michel in Weiß/Niedermaier/Summer/Zängl, Beamtenrecht in Bayern, Stand: September 2023, Art. 97 BayBG Rn. 3).
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Unter einem „Angriff“ im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG ist die von einem Menschen ausgehende vorsätzliche Verletzung der Rechtsgüter Leben und körperliche Integrität zu verstehen. Der Angriff erfordert eine objektive unmittelbare räumlich-zeitliche Gefährdung (objektives Element) aufgrund einer zielgerichteten Verletzungshandlung (subjektives Element; vgl. Begründung des Gesetzentwurfs, a.a.O., S. 48). „Tätlich“ ist ein Angriff, wenn er auf einen physischen Schaden gerichtet ist; damit werden grundsätzlich nur vollendete körperliche Beeinträchtigungen oder Gesundheitsschädigungen erfasst. Nicht erfasst werden hingegen bloße verbale Beleidigungen und Bedrohungen, die zu keinen körperlichen oder nur zu psychischen Folgen führen (Begründung des Gesetzentwurfs, a.a.O., S. 48; Buchard in BeckOK, a.a.O. Rn. 13; BayVGH, B.v. 18.1.2021 – 3 ZB 20.591 – juris Rn. 4, 5; zum gleichen Begriff in § 80a Abs. 1 LBG-BW: VGH BW, B.v. 18.12.2020 – 4 S 3260/20 – juris Rn. 6 f.). Auch nach dem allgemeinen Wortverständnis sind die Begriffe „tätlich“ und „verbal“ als Gegensatzpaar zu verstehen. Auch wenn – wie hier – verbale Angriffe auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder die Ehre (unterhalb der Schwelle einer Tätlichkeit) einen zivilrechtlichen Schmerzensgeldanspruch begründen können, wird allein damit nicht schon ein Übernahmeanspruch ausgelöst.
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1.2 Im vorliegenden Fall ist für die Frage, welches Rechtsgut des Klägers in einer das zugesprochene Schmerzensgeld begründenden Art und Weise verletzt wurde, der das Urteil vom 20. November 2019 tragende Sachverhalt in den Blick zu nehmen, wie dies im angefochtenen Urteil (UA S. 11 ff.) zu Recht geschieht. Danach beruht der zuerkannte Schmerzensgeldanspruch auf einer erheblichen psychischen Belastung sowie „Unannehmlichkeiten“ (Strafurteil S. 7) in Gestalt umfangreicher Ermittlungsmaßnahmen (behördliche Durchsuchungen, Sicherstellung und Auswertung des Mobiltelefons, Entnahme einer Urin-, Blut- und Haarprobe), die der Kläger infolge des eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts des Betäubungsmittelkonsums erlitten hat. Durch die falsche Verdächtigung des Klägers wollte die Schädigerin R. nach den Feststellungen des Amtsgerichts ihre eigene Person dadurch in den Mittelpunkt rücken, dass sie als Zeugin in dem daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahren eine wichtige Rolle spielen würde.
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1.3 Demnach liegt dem Schmerzensgeldanspruch kein tätlicher Angriff im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG zugrunde. Es fehlt an einer zielgerichteten und unmittelbar auf eine Körperverletzung ausgerichteten Handlung, da weder die Maßnahmen der behördlichen Ermittlungspersonen noch das Verhalten der Schädigerin auf die Herbeiführung eines körperlichen Schadens beim Kläger gerichtet waren. Im Rahmen einer (einheitlichen) Gesamtschau des Geschehensablaufs ergibt sich, dass das Verhalten der Schädigerin seinen Beweggrund in der gezielten Aufwertung ihrer eigenen Person und der Schädigung des beruflichen und privaten Ansehens des Klägers hatte, ohne eine darüberhinausgehende Beeinträchtigung dessen körperlicher Unversehrtheit zu beabsichtigen. Den Ermittlungsbeamten dienten die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit allein zur Feststellung eines etwaigen Betäubungsmittelkonsums. Zielgerichtete, direkt auf die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität des Klägers gerichtete Maßnahmen wurden weder von den Ermittlungsbeamten noch von der Schädigerin zu irgendeinem Zeitpunkt ausgeführt.
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Unabhängig hiervon fehlt es hinsichtlich der in die körperliche Integrität des Klägers eingreifenden Maßnahmen der Blut- und Haarprobenentnahme auch an dem für die Annahme eines Angriffs erforderlichen unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zurechnungszusammenhang zum Verhalten der Schädigerin. Selbst wenn man mit dem Zulassungsvorbringen unterstellt, dass die Schädigerin vorhergesehen und in Kauf genommen hat, dass es im Rahmen der Ermittlungsmaßnahmen gegen den Kläger auch zu in dessen körperliche Unversehrtheit eingreifenden Untersuchungsmaßnahmen wie Blut- und Haarprobenentnahme kommen würde, lag zwischen den durch die Schädigerin gegenüber der Polizei geäußerten falschen Verdächtigungen und den körperlichen Untersuchungsmaßnahmen eine zeitliche Zäsur und beruhen diese Ermittlungsmaßnahmen in erster Linie auf einem eigenen Willensentschluss der Behörde aufgrund ihres gesetzlichen Ermittlungsauftrags. Die körperlichen Einwirkungen wurden zwar – im Sinne der Theorie der conditio sine qua non – kausal durch die falsche Verdächtigung der Schädigerin verursacht, lagen aber nicht mehr in ihrem Kontrollbereich und sind ihr daher nicht mehr unmittelbar räumlich-zeitlich als eigene „Angriffshandlungen“ zurechenbar (vgl. zu einem sog. Verfolgerfall: BayVGH, B.v. 3.12.2021 – 3 ZB 21.216 – juris Rn. 11 ff.).
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Der Einwand der Klägerseite, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine Unterbrechung des Kausalverlaufs und des Zurechnungszusammenhangs angenommen, womit es sich in Widerspruch zum Urteil des Amtsgerichts setze, das einen Anspruch aus § 823 BGB gegen die Schädigerin bejaht habe, weil sich in den behördlichen Anordnungen von Ermittlungsmaßnahmen gerade der von der Schädigerin in Gang gesetzte Kausalverlauf fortgesetzt habe, ist vor diesem Hintergrund nicht entscheidungserheblich. Der Terminus des Angriffs ist insoweit bereits nach dem allgemeinen Sprachgebrauch enger als derjenige der zivilrechtlichen unerlaubten Handlung gemäß § 823 Abs. 1 und Abs. 2 BGB, indem er eine unmittelbare räumlich-zeitliche Gefährdung durch eine auf die körperliche Integrität gerichtete Verletzungshandlung erfordert. Allein die deliktsrechtliche Kausalität und objektive Zurechenbarkeit eines Verletzungserfolgs zu einem nicht auf die Verletzung der körperlichen Integrität gerichteten Verhalten reichen daher nicht aus.
10
Abgesehen hiervon waren die durch die Maßnahmen der Blut- und Haarprobenentnahme hervorgerufenen Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens von nur kurzfristiger Dauer und in ihrer Auswirkung zu marginal, um einen über die gezielte Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie die psychischen Belastungen hinausgehenden „tätlichen Angriff“ in einer dem Normzweck gerecht werdenden Weise begründen zu können (vgl. BayVGH, B.v. 18.1.2021 – 3 ZB 20.591 – juris Rn. 7).
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1.4 Vor diesem Hintergrund vermag das Zulassungsvorbringen auch im Übrigen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass das Vorliegen des Ausnahmetatbestands des Art. 97 BayBG zu verneinen ist, weil der Kläger nicht Opfer eines körperlichen Übergriffs geworden ist, mit dem er ein erhebliches Sonderopfer für die Allgemeinheit erbracht hat, aufzuwerfen.
12
Die Ausführungen in der Zulassungsbegründung zum Schutzgut des § 164 StGB sind nach dem oben Dargelegten nicht entscheidungserheblich. Soweit die Klägerseite geltend macht, dass der Schmerzensgeldanspruch grundsätzlich in Gänze von Art. 97 BayBG abgedeckt sei, wenn die Verbindung zwischen tätlichem Angriff, Körperschaden und psychischer Erkrankung auf einem zusammenhängenden Lebenssachverhalt beruhe, verkennt sie, dass es nach dem Ausgeführten gerade an dem anspruchsbegründenden tätlichen Angriff fehlt.
13
Schließlich kann der Auffassung des Klägers, die Verneinung eines tätlichen Angriffs durch das Verwaltungsgericht stehe im Widerspruch zum Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, weil eine Auslegung dieses Terminus im Sinne des Verwaltungsgerichts dazu führen würde, dass Fallgruppen wie die vorliegende nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 97 Abs. 1 BayBG fallen würden und Beamte in solchen Fällen nicht die Möglichkeit hätten, titulierte Schmerzensgeldansprüche bei Uneinbringbarkeit vom Dienstherrn zu erhalten, nicht gefolgt werden. Der Kläger verlangt damit letztlich die Übernahme seines Schmerzensgeldanspruchs unabhängig vom Vorliegen eines tätlichen Angriffs. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, wäre es ohne weiteres möglich gewesen, in Art. 97 BayBG auf das einschränkende Tatbestandsmerkmal zu verzichten und eine strikte Parallelität eines „dienstlich“ bedingten Schmerzensgeldanspruchs mit einem beamtenrechtlichen Übernahmeanspruch vorzusehen. Nach geltendem Recht stellt Art. 97 BayBG jedoch gerade kein (unselbstständiges) beamtenrechtliches Abbild des zivilrechtlichen Schmerzensgeldanspruchs dar (BayVGH, B.v. 3.12.2021 – 3 ZB 21.216 – juris Rn. 16; Buchard in BeckOK, a.a.O. Rn. 11.3).
14
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).