Titel:
Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung bei einer Ausweisungsverfügung wegen Straftaten
Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 4 S. 4
AufenthG § 53 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung verlangt, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (stRspr. vgl. VGH München BeckRS 2019, 7300; BeckRS 2019, 2224; BeckRS 2016, 40758 mwN). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist durch ständige ober- und höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung in der (letzten) Tatsacheninstanz ist. Somit sind grundsätzlich alle bis zu diesem Zeitpunkt eintretenden Veränderungen der Sach- oder Rechtslage in die gerichtliche Überprüfung der Ausweisungsverfügung einzubeziehen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der von den Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eigenständig zu treffenden Prognose zur Wiederholungsgefahr sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbes. die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr vgl. zB VGH München BeckRS 2016, 44267 mwN). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Grundsätzliche Bedeutung, Darlegung, Ausweisung, Gefahrenprognose, grundsätzliche Bedeutung, spezialpräventive Ausweisungsentscheidung, Prognose der Wiederholungsgefahr
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 27.10.2023 – W 7 K 23.176
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3128
Tenor
I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 27. Oktober 2023 – W 7 K 23.176 – wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
IV. Der Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfebewilligung und Anwaltsbeiordnung wird abgelehnt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
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Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2023, soweit dieses die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 5. Januar 2023 abgewiesen hat (bezüglich der in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht aufgehobenen Ziffer 2 Satz 1 des Bescheids wurde das Verfahren nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen eingestellt). Mit dem angefochtenen Bescheid hat der Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1 des Bescheids), gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und dieses auf die Dauer von sechs Jahren ab dem Zeitpunkt der Ausreise aus dem Bundesgebiet befristet (Ziffer 2 Satz 1), zugleich die Inlandswirkungen der Ausweisung auf sechs Jahre nach Bestandskraft des Bescheids befristet (Ziffer 2 Satz 2) sowie unter der Ziffer 3 verfügt, dass der Bescheid kostenfrei ergeht.
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1. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Die von dem Kläger geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist schon nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Art und Weise dargelegt.
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1.1 Offenbleiben kann, ob die von dem Kläger als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage,
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ob der Straflosigkeit eines Ausländers während des Ausweisungsverfahrens kein besonderes Gewicht im Rahmen der nach §§ 53 ff. AufenthG zu treffenden Gefahrenprognose beigemessen werden darf,
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hinreichend bestimmt ist. Auch bei Berücksichtigung der nachfolgenden Begründung des Klägers, das Verwaltungsgericht habe pauschal darauf abgestellt, dass der Straflosigkeit des Klägers seit Entlassung aus der Haft und damit seit September 2020 kein besonderes Gewicht beigemessen werden dürfe, da bereits seit Oktober 2021 das Ausweisungsverfahren laufe (m.V.a. UA S. 9), kann nicht mit Bestimmtheit entnommen werden, ob der Kläger lediglich auf den Zeitraum ab der Einleitung des auf die Ausweisung als Verwaltungsakt gerichteten Verwaltungsverfahrens im Sinne des Art. 9 BayVwVfG bis zu dessen Abschluss mit Erlass der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung abstellen oder den sich daran anschließenden Zeitraum des (noch anhängigen) verwaltungsgerichtlichen Verfahrens hinzurechnen will.
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Jedenfalls ist die von dem Kläger behauptete Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage nicht entsprechend den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt.
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Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (stRspr., vgl. BayVGH, B.v. 12.4.2019 – 10 ZB 19.275 – juris Rn. 7; B.v. 8.9.2019 – 10 ZB 18.1768 – Rn. 11; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 16 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72). Klärungsbedürftig sind solche Rechts- oder Tatsachenfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend ober- und höchstrichterlich geklärt sind (vgl. BVerfG, B.v. 28.4.2011 – 1 BvR 3007/07 – juris Rn. 21; Roth in Posser/Wolff, BeckOK, VwGO, Stand 1.1.2019, § 124 Rn. 55 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 38). Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (stRspr., BVerwG, B.v. 9.4.2014 – 2 B 107.13 – juris Rn. 9 m.w.N.; BVerfG, B.v. 29.7.2010 – 1 BvR 1634/04 – juris Rn. 64). Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts, die verdeutlicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts dem Klärungsbedarf nicht gerecht wird (Happ, a.a.O. § 124a Rn. 72 m.w.N.).
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Insoweit ist durch ständige ober- und höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung in der (letzten) Tatsacheninstanz ist (BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45.06 – juris Rn. 12 ff.). Somit sind grundsätzlich alle bis zu diesem Zeitpunkt eintretenden Veränderungen der Sach- oder Rechtslage in die gerichtliche Überprüfung der Ausweisungsverfügung einzubeziehen. Das Verwaltungsgericht war sich ausweislich der Ausführungen auf Seite 7 des angefochtenen Urteils des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes bewusst und hat das Verhalten des Klägers nach seiner erstmaligen Verurteilung (durch das Landgericht B. vom 7. November 2019 wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten ohne Bewährung) ausweislich der Ausführungen auf Seite 9 des Urteils berücksichtigt (bereits das der Verurteilung des Klägers vom 7.11.2019 zugrundeliegende Verhalten gebe ausreichenden Anlass, um von einer Wiederholungsgefahr auszugehen, da der Kläger bereits kurz nach seiner Einreise und noch während eines laufenden Asylverfahrens erheblich straffällig geworden sei – wobei er nicht davor zurückgeschreckt sei, seine Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte zu richten –, hiernach habe der Kläger sich bis September 2020 in Haft befunden und ab Oktober 2021 sei zudem das Ausweisungsverfahren gelaufen, sodass der Kläger hierdurch gewarnt gewesen sein dürfte, sodass seiner weiteren Straflosigkeit kein besonderes Gewicht beizumessen sei), wenngleich nicht mit dem vom Kläger gewünschten Ergebnis.
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1.2 Des Weiteren rügt der Kläger im Stile einer Geltendmachung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), das Verwaltungsgericht unterstelle, dass eine Straflosigkeit nach mehrjähriger Haft im Rahmen eines Ausweisungsverfahrens, welches sich nach Haftentlassung anschließe, generell auf die Wirkung des Ausweisungsverfahrens zurückzuführen sei und jeder vom Ausweisungsverfahren betroffene Ausländer vorsätzlich und berechnend keine Straftaten begehen würde, um die Chancen im Ausweisungsverfahren zu verbessern, danach aber wieder straffällig würde. Nicht nur, dass das Gericht damit pauschal davon ausgehe, dass jeder Straftäter, der sich in Haft befunden habe, zwingend wieder straffällig werde, wenn das Ausweisungsverfahren erst einmal zu seinen Gunsten entschieden sei, erteile das Verwaltungsgericht mit dieser Auffassung gleichzeitig der positiven Spezialprävention, die grundlegend für den Strafausspruch der Strafgerichtsbarkeit sei, eine grundsätzliche Absage, da sodann nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen werde, dass der straffällig gewordene Ausländer sich die abgeleistete Strafe nicht zur Lehre habe gedeihen lassen und zukünftig ein straffreies Leben führen werde. Das Strafrechtssystem legitimiere sich als solches aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit zur Wiederherstellung und Sicherung der sozialen Ordnung, gerechtfertigt werde die Strafe über den sozial nützlichen Zweck, der mit der Strafe verfolgt werde, nämlich weiteren Normbrüchen entgegenzuwirken, hierzu zähle nach herrschender Lehre aber nicht nur die negative Generalprävention, sondern auch die positive Spezialprävention als die sichernde, weitere Straftaten durch unmittelbaren Zwang verhindernde, Einwirkung auf den Täter, die auf die sozialpädagogische Befähigung zu einem Leben ohne Straftaten abziele (m.V.a. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S.-Verlag, 2. Auflage 2006, Teil 2, 2.1 und 3.2.1). Die Pauschalisierung des Verwaltungsgerichts lasse die Möglichkeit für den Ausländer, sich als rehabilitiert nach verbüßter Haftstrafe zu zeigen und sich zu beweisen, erst gar nicht zu, wenn das Gericht pauschal darauf abstelle, dass die Straflosigkeit aus dem laufenden Ausweisungsverfahren resultiere. Zu befürchten sei, dass sich hier eine Rechtsmeinung für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle herausbilde, da das Gericht generell davon spreche, dass Straflosigkeit wegen der Einleitung des Ausweisungsverfahrens keine besondere Bedeutung zukomme, demnach betreffe diese Rechtsauffassung alle diejenigen Ausländer, die straffällig geworden seien, ihre Strafe verbüßt hätten, dann straflos geblieben seien, [gegen die] aber turnusgemäß ein Ausweisungsverfahren geprüft worden sei. Diese Rechtsauffassung lasse keinem der Betroffenen mehr die Möglichkeit, die Rechtstreue gegenüber dem Staat zu beweisen, lediglich weil ein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden sei. Die aufgeworfene Frage sei klärungsbedürftig, da sie noch nicht letztinstanzlich entschieden worden sei, diese Frage habe auch über den Einzelfall hinaus Bedeutung, da zu ihrer Beantwortung gerade nicht erforderlich sei, den individuellen Hintergrund des Einzelnen zu beleuchten, sondern eine allgemeine Beantwortung unter den vorgegebenen Parametern möglich sei.
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Dieser Vortrag lässt bereits die zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung erforderliche Durchdringung der Materie anhand der einschlägigen Rechtsprechung insbesondere des Senats, des Bundesverwaltungsgerichts sowie des Bundesverfassungsgerichts zur Gefahrenprognose im Rahmen der Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG durch den Kläger vermissen (vgl. zur erforderlichen Durchdringung der Materie Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72).
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Bei der von den Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eigenständig zu treffenden Prognose zur Wiederholungsgefahr sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (st.Rspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 11 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, B.v. 3.3.2016 a.a.O.; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
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Des Weiteren ist in der ständigen ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass dem Strafrecht und dem Ausländerrecht unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde liegen (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris Rn. 36). In seinem Beschluss vom 2. Mai 2017 (19 CS 16.2466 – juris, insbesondere Rn. 8 ff.; KommunalPraxis BY 2017, 275 – Leitsatz, NVwZ 2017, 1637/1638 – Leitsatz – und ZAR 2017, 339 – Leitsatz) hat sich der Senat detailliert mit der Unterschiedlichkeit der Prognosen bei Strafrestaussetzungen und Ausweisungsentscheidungen befasst. Er hat dargelegt, dass die Rechtsordnung insoweit (hinsichtlich des Prognoserahmens) aus guten Gründen nicht einheitlich ist. Nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen ist zu berücksichtigen, dass die in diesen beiden Rechtsbereichen zu erstellenden Prognosen auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften in einem jeweils eigenen Regelungskontext gründen und deshalb an unterschiedlichen Maßstäben zu orientieren sind (systematische Auslegung, vgl. etwa Zippelius, Juristische Methodenlehre, JuS-Schriftenreihe 93, 11. Aufl. 2012, § 8 S. 36).
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Aus diesen Grundsätzen folgt, dass im Rahmen einer spezialpräventiven Ausweisung stets eine eigenständige, einzelfallbezogene Prognose der konkreten Wiederholungsgefahr anzustellen ist, welche einer Verallgemeinerung nicht zugänglich ist. Die Frage, ob von dem betroffenen Ausländer aufgrund seines persönlichen Verhaltens eine solche Wiederholungsgefahr ausgeht, kann damit nicht in einer über den konkreten Einzelfall hinausgehenden, grundsätzlichen Art und Weise geklärt werden. Der Kläger legt nicht dar, dass das Verwaltungsgericht diese Grundsätze in der angefochtenen Entscheidung nicht beachtet habe. Soweit der Kläger rügt, dass das Verwaltungsgericht (vgl. UA S. 9) die Gefahrenprognose stützend auf den durch die Ausweisungsverfügung des Beklagten erzeugten Legalbewährungsdruck abgestellt hat, ergibt sich daraus kein Widerspruch zu den dargestellten Grundsätzen. Auch eine nicht bestandskräftige Ausweisungsverfügung erzeugt – schon aufgrund der damit unmittelbar verbundenen, nicht von der Bestandskraft abhängenden Wirkungen wie insbesondere des Verlustes des Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) – eine Unsicherheit des weiteren Aufenthaltes des Ausländers im Bundesgebiet, welche verhaltenslenkend wirkt, d.h. den betroffenen Ausländer zu einem rechtskonformen Verhalten anhalten kann, ohne dass aufgrund dieses Verhaltens die der Ausweisung zugrunde liegende Gefahrenprognose in Frage gestellt werden könnte. Hinzu kommt – worauf der Beklagte zu Recht hinweist –, dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren u.a. tatsächliche Entwicklungen nach dem Wirksamwerden der Ausweisungsverfügung (mit ihrer Bekanntgabe) bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung in der Tatsacheninstanz zu berücksichtigen sind (BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45.06 – juris Rn. 12 ff.). Ein Wohlverhalten des ausgewiesenen Ausländers bis zum maßgeblichen Zeitpunkt kann mithin auch dem Umstand geschuldet sein, dass es zu seinen Gunsten berücksichtigt werden kann. Einem solchen Verhalten kommt somit nur eine begrenzte Aussagekraft für die auf einen längeren Zeitraum bezogene Gefahrenprognose im Rahmen der spezialpräventiven Ausweisung zu. So hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass etwa ein Wohlverhalten in der Haft noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen lässt, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 – 19 ZB 21.2053 – juris Rn. 19; B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; B.v. 19.5.2015 – 10 ZB 15.331 – juris Rn. 7 m.w.N.).
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Einen Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen diese Grundsätze legt der Kläger gerade nicht dar. Den von dem Kläger behaupteten Rechtssatz, dass „eine Straflosigkeit nach mehrjähriger Haft im Rahmen eines Ausweisungsverfahrens, welches sich nach Haftentlassung anschließe, generell auf die Wirkung des Ausweisungsverfahrens zurückzuführen sei und jeder vom Ausweisungsverfahren betroffene Ausländer vorsätzlich und berechnend keine Straftaten begehen würde, um die Chancen im Ausweisungsverfahren zu verbessern, danach aber wieder straffällig würde“, hat das Verwaltungsgericht hingegen nicht aufgestellt. Vielmehr hat es seine Gefahrenprognose anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles begründet und diese ausdrücklich auf den Umstand gestützt, dass der Kläger bereits kurz nach seiner Einreise und noch während eines laufenden Asylverfahrens erheblich straffällig geworden ist, dabei nicht davor zurückgeschreckt ist, seine Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte zu richten, und sich hiernach (aufgrund der Verurteilung durch das Landgericht B. vom 7.11.2019 wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten ohne Bewährung) bis September 2020 in Haft befand, während es der „weiteren Straflosigkeit“ des Klägers kein besonderes Gewicht beigemessen hat, da der Kläger durch das ab Oktober 2021 laufende Ausweisungsverfahren gewarnt gewesen sein dürfte.
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1.3 Des Weiteren fehlt es auch an der erforderlichen Klärungsfähigkeit, mithin der Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage in einem Berufungsverfahren, weil sich der Kläger nicht mit den – selbständig tragenden – Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzt (UA S. 10), dass die Ausweisung auch aus generalpräventiven Erwägungen gerechtfertigt sei. Ist ein Urteil entscheidungstragend auf mehrere selbständige Begründungen gestützt (kumulative Mehrfachbegründung), kann die Berufung aber nur dann zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede der Urteilsbegründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht ist und vorliegt, da anderenfalls das Urteil mit der nicht in zulassungsbegründender Weise angefochtenen Begründung Bestand haben könnte (BayVGH, B.v. 21.9.2022 – 15 ZB 22.1621 – juris Rn. 18 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 61).
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1.4 Überdies ließe sich die Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage auch deshalb bezweifeln, weil der gegen den Kläger ergangene Strafbefehl des Amtsgerichts K. (Az. Cs 962 Js 16373/23), der nach den Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung (vgl. S. 4 des Sitzungsprotokolls des Verwaltungsgerichts vom 27.10.2023, Az. W 7 K 23.176) rechtskräftig geworden ist und durch den der Kläger wegen (u.a.) fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt wurde, sowie die Einlassungen des Klägers hierzu deutliche Zweifel an seiner Rechtstreue aufkommen lassen. Der Kläger hat sich in der mündlichen Verhandlung, auf den Strafbefehl angesprochen, dahingehend eingelassen, er verfüge über einen von seinem Heimatstaat ausgestellten Führerschein, dessen Umschreibung er bereits vor eineinhalb Jahren beantragt habe, er habe lange Zeit keine Reaktion auf seinen Antrag erhalten, mittlerweile aber die Mitteilung bekommen, dass er noch eine theoretische Prüfung ablegen müsse, deren Termin ihm noch nicht bekannt sei, für ihn sei die lange Dauer dieses Verfahrens ein Problem, weil er den Weg zur Arbeit von über 30 Minuten mit dem Fahrrad zurücklegen müsse. Mit diesen Ausführungen versucht der erneut straffällig gewordene Kläger sein strafwürdiges Verhalten gleichsam zu rechtfertigen und lässt damit eine deutliche Tendenz erkennen, praktische Schwierigkeiten auch durch Rechtsbruch zu überwinden. Damit stützt der Kläger selbst die Gefahrenprognose des Beklagten und des Verwaltungsgerichts und damit die spezialpräventive Ausweisung, ohne dass es auf die aufgeworfene Rechtsfrage ankäme, wie das Verwaltungsgericht ein rechtskonformes Verhalten nach der Haftentlassung zu bewerten gehabt hätte.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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3. Der Antrag auf Prozesskostenhilfebewilligung und Anwaltsbeiordnung war abzulehnen, da die Rechtsverfolgung nach den vorstehenden Ausführungen keine hinreichenden Erfolgsaussichten im Sinne des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO bietet.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).