Titel:
Zur Reichweite einer Ersatzzustellung eines Gerichtsbescheids durch Einlegen in den Briefkasten
Normenketten:
VwGO § 60, § 70 Abs. 1, § 86 Abs. 3
VwZVG BY Art. 2 Abs. 3 S. 1, Art. 3 Abs. 2 S. 1
ZPO § 178 Abs. 1, § 180 S. 2, § 182 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Soweit eine Zustellung nach § 180 S. 2 ZPO durch Einlegung in den Briefkasten erfolgt, tritt diese Fiktion selbst dann ein, wenn ein Dritter das Schriftstück aus dem Briefkasten entnimmt und dem Adressaten nicht übergibt, weil allein dieser das Risiko für den Erhalt des zugestellten Schriftstücks an ihn trägt. (Rn. 4 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Verwaltungsgericht ist weder vorab nach § 86 Abs. 3 VwGO noch aufgrund seiner Fürsorgepflicht gegenüber einem Verfahrensbeteiligten verpflichtet, diesen darauf hinzuweisen, dass die Begründung für seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist nicht ausreicht. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ersatzzustellung eines Bescheids durch Einlegen in den Briefkasten, Unzulässigkeit der Klage bei verspätet eingelegtem Widerspruch, Für eine Wiedereinsetzung unzureichende Behauptungen, Ersatzzustellung, Gerichtsbescheid, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Zulassung der Berufung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 17.10.2023 – RN 8 K 23.1175
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3114
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens (§ 154 Abs. 2 VwGO).
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung ergibt sich nicht, dass die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Gerichtsbescheids (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen wäre, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
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1. a) Die Begründung des Zulassungsantrags zur Geltendmachung ernstlicher Zweifel beschränkt sich in weiten Teilen auf Zitate der erstinstanzlichen Entscheidungsgründe und anschließende wörtliche Wiederholung von Passagen aus der Klagebegründung. Insoweit wird sie den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht gerecht. Die Landesanwaltschaft ... weist in ihrer Antragserwiderung zu Recht darauf hin, dass es für die gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO gebotene Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Ausgangsentscheidung nicht genügt, erstinstanzliches Vorbringen lediglich zu wiederholen (stRspr, vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 13.9.2023 – 8 ZB 23.54 – juris Rn. 6 m.w.N.).
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b) Im Übrigen bestehen auch unter Berücksichtigung des Vorbringens keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Gerichtsbescheids. Dem Kläger ist der korrekt adressierte Bescheid vom 11. März 2022, mit dem ihm das Landratsamt L. die Fahrerlaubnis wegen des feststehenden Kokainkonsums entzogen hat, am 15. März 2022 durch Einlegen in den Briefkasten wirksam zugestellt worden. Die hierdurch in Gang gesetzte Monatsfrist für die Einlegung eines Widerspruchs (§ 70 Abs. 1 VwGO) oder Erhebung der Klage lief am 15. April 2022 ab. Der erst am 7. September 2022 vom Klägerbevollmächtigten eingelegte Widerspruch war verspätet. Gründe für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist (§ 70 Abs. 2 i.V.m. § 60 VwGO) liegen nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat die Klage daher zu Recht als unzulässig (vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 29.11.2023 – 6 C 3.22 – juris Rn. 15 f.) abgewiesen.
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aa) Das Landratsamt hat sich nach Art. 2 Abs. 3 Satz 1 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG) für die förmliche Zustellung des Bescheids durch die Post mit Zustellungsurkunde entschieden, für deren Ausführung die §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend gelten (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG). Hiernach kann das zuzustellende Schriftstück in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt werden, wenn der Zusteller den Zustellungsempfänger am Zustellungsort im Sinne von § 178 Abs. 1 ZPO nicht persönlich antrifft und keine Ersatzzustellung gemäß § 178 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO vornehmen kann (§ 180 Satz 1 ZPO). Nach § 180 Satz 2 ZPO gilt das Schriftstück mit der Einlegung in den Briefkasten an dem vom Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks vermerkten Datum (§ 180 Satz 3 ZPO), hier also am 15. März 2022, als zugestellt. Zum Nachweis der Zustellung dient eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular (§ 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO), sofern sie – wie hier – die nach § 182 Abs. 2 Nr. 1, 4, 6 bis 8 ZPO erforderlichen Angaben enthält. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diese Regelungen über das Zustellungsverfahren hier verletzt worden wären. Dass (auch) der Kläger unter der Anschrift gewohnt und den Briefkasten genutzt hat, hat er nicht bestritten.
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Ob der Kläger – wie er durch seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 1. November 2022 erstmals behaupten lässt – den Bescheid erhalten hat oder nicht, da weitere Nutzer des Briefkastens der deutschen Sprache nicht mächtig seien und nicht ausgeschlossen werden könne, dass dem Kläger die für ihn bestimmte Post versehentlich nicht ausgehändigt worden sei, ist insoweit ohne Bedeutung. Da die Zustellung durch Einlegung in den Briefkasten fingiert wird, kommt es – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt – nicht darauf an, ob der Kläger den Bescheid tatsächlich zeitnah erhalten und zur Kenntnis genommen hat. Die Fiktion tritt selbst dann ein, wenn ein Dritter das Schriftstück aus dem Briefkasten entnimmt und dem Adressaten nicht übergibt. Im Falle einer ordnungsgemäßen Ersatzzustellung gemäß § 180 Satz 2 ZPO trägt derjenige, dem die Empfangsvorrichtung zuzuordnen ist und zu dessen Machtbereich sie gehört, das Risiko für den Erhalt des zugestellten Schriftstücks (vgl. Häublein/Müller, Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 180 Rn. 7; BGH, U.v. 10.11.2005 – III ZR 104/05 – NJW 2006, 150/151; BayLSG, U.v. 7.4.2022 – L 7 AS 664/19 – juris Rn. 27; U.v. 16.10.2014 – L 13 R 69/14 – juris Rn. 26).
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bb) Hinreichende Gründe für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist (§ 70 Abs. 2 i.V.m. § 60 VwGO) hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, sie sind auch nicht ersichtlich. Hierzu reicht die bloße Vermutung, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein anderer Nutzer des Briefkastens die Sendung entnommen und dem Kläger nicht ausgehändigt habe, keinesfalls aus. Der Kläger hat auch die Namen der weiteren Nutzer und Mitbewohner nicht angegeben, so dass eine Überprüfung seiner Behauptung nicht möglich war. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass der Kläger den Widerspruch erst am 7. September 2022 eingelegt und damit die versäumte Rechtshandlung erst nach Ablauf der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO nachgeholt hat. Auch deshalb konnte ihm keine Wiedereinsetzung gewährt werden.
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2. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
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Insbesondere liegt keine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör vor. Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten hatte das Verwaltungsgericht keine Veranlassung, den Kläger vorab gemäß § 86 Abs. 3 VwGO oder aufgrund seiner Fürsorgepflicht gegenüber den Verfahrensbeteiligten darauf hinzuweisen, dass seine Begründung für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist nicht ausreicht. Es war auch nicht verpflichtet, den spekulativen Behauptungen und Vermutungen des Klägers nachzugehen, möglicherweise habe ein Mitnutzer des Briefkastens den Bescheid an sich genommen und ihm nicht ausgehändigt. Wie bereits ausgeführt kam es darauf für die Wirksamkeit der Zustellung nicht an. Die rechtliche Würdigung der geltend gemachten Wiedereinsetzungsgründe blieb der abschließenden Entscheidung des Ausgangsgerichts vorbehalten, das nicht verpflichtet oder gehalten war, seine Rechtsauffassung gegenüber den Beteiligten vorab kundzutun. Auch eine Beweiserhebung, die der Klägerbevollmächtigte weder angeregt noch beantragt hat, war nicht angezeigt. Welchen Beweis das Verwaltungsgericht hätte erheben sollen, legt die Antragsbegründung auch nicht dar. Ob der Kläger den Bescheid erhalten hat oder nicht, ist – wie ausgeführt – für die Wirksamkeit der (Ersatz-)Zustellung gemäß § 180 Satz 2 ZPO ohne Bedeutung. Zeugen für seine allenfalls im Rahmen der Wiedereinsetzung relevante Behauptung oder Vermutung, andere Personen, die ebenfalls Zugriff auf den Briefkasten gehabt hätten, hätten den zugestellten Bescheid an sich genommen und nicht an ihn weitergeleitet, hat der Kläger nicht namentlich benannt.
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3. Schließlich sind auch die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache nicht dargelegt. Die hier entscheidungserheblichen Tatsachen- und Rechtsfragen sind einfach gelagert, die rechtlichen Voraussetzungen und Folgen einer Ersatzzustellung gesetzlich klar geregelt und in der Rechtsprechung geklärt. Darüber hinausgehenden Klärungsbedarf oder besondere Auslegungsschwierigkeiten zeigt die Begründung des Zulassungsantrags nicht auf.
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4. Als unterlegener Rechtsmittelführer hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO).
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5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i.V.m. Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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6. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).