Inhalt

VGH München, Beschluss v. 07.02.2024 – 11 CE 23.2313
Titel:

Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis im Wege der einstweiligen Anordnung

Normenketten:
FeV § 13 S. 1 Nr. 2 lit. c, § 20 Abs. 1
StVG § 3 Abs. 4
VwGO § 123 Abs. 1 S. 2
Leitsatz:
Auch wenn das Messergebnis des Geräts "Alco True P" im Ordnungswidrigkeits- und Strafverfahren nicht als "beweissicher“ angesehen wird, folgt daraus nicht zwingend, dass die Messung keine Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen vermag, sofern sich aus dem gemessenen Wert mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf eine Atemalkoholkonzentration von wenigstens 0,8 mg/l schließen lässt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, Neuerteilung einer Fahrerlaubnis, vorangegangene strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Trunkenheitsfahrt mit Handmessgerät ermittelter Atemalkoholwert von 0,99 mg/l, Blutalkoholkonzentration von 1,58 ‰ 35 Minuten nach der Fahrt, Ermittlung eines Tatzeitwerts von mehr als 1,6 ‰ durch Rückrechnung, Fahrerlaubnis, Wiedererteilung, Atemalkoholkonzentration, einstweilige Anordnung, Bindungswirkung, Rückrechnung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 01.12.2023 – Au 7 E 23.1946
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3113

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Erteilung einer Fahrerlaubnis im Wege einer einstweiligen Anordnung.
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Mit Schreiben vom 30. November 2022 teilte die Verkehrspolizeiinspektion K. der Antragsgegnerin mit, der Antragsteller sei am 5. November 2022 gegen 23:30 Uhr alkoholisiert mit einem Pkw gefahren. Der mit dem Gerät ‚Alco True P‘ durchgeführte Atemalkoholtest habe einen Wert von 0,99 mg/l und die Untersuchung der am 6. November 2022 um 00:05 Uhr entnommenen Blutprobe einen Mittelwert von 1,58 ‰ ergeben.
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Mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 12. Januar 2023 verurteilte das Amtsgericht Kempten den Antragsteller zu einer Geldstrafe und entzog ihm die Fahrerlaubnis unter Anordnung einer zehnmonatigen Sperrfrist für die Wiedererteilung.
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Am 9. Mai 2023 beantragte der Antragsteller die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis. Mit Schreiben vom 5. Juni 2023 forderte ihn die Antragsgegnerin zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bis zum 4. Dezember 2023 (mit Schreiben vom 15.11.2023 verlängert bis 5.2.2024) zur Klärung der Frage auf, ob nicht zu erwarten sei, dass das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht sicher getrennt werden könne.
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Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 22. November 2023 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Augsburg Klage auf Feststellung erheben, dass die Antragsgegnerin ihm die Fahrerlaubnis ohne medizinisch-psychologisches Gutachten zu erteilen habe, und diese darüber hinaus im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm die Fahrerlaubnis vorläufig zu erteilen. Der im Strafbefehl zugrunde gelegte Blutalkoholwert liege unter dem Grenzwert von 1,6 ‰.
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Mit Beschluss vom 1. Dezember 2023 hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Schluss auf die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen sei gerechtfertigt, nachdem er das zu Recht geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht beigebracht habe. Die Bindungswirkung des Strafbefehls, der einem Urteil gleichstehe, stehe der Beibringungsanordnung nicht entgegen, da er sich nicht zur Atemalkoholkonzentration verhalte. Auch wenn das hierfür verwendete Gerät im Ordnungswidrigkeits- und Strafverfahren nicht als beweissicher angesehen werde, folge daraus nicht zwingend, dass die Messung keine Beibringungsanordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV rechtfertige. Bei einer vom Hersteller angegebenen Messgenauigkeit von 4% ergebe sich mit 0,9504 mg/l immer noch ein Wert von deutlich mehr als 0,8 mg/l. Die ermittelte Atemalkoholkonzentration sei damit hinreichend aussagekräftig. Zudem sei die Blutalkoholkonzentration erst 35 Minuten nach der Messung des Atemalkoholwerts festgestellt worden.
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Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, lässt der Antragsteller ausführen, die rechtskräftige Verurteilung sei lediglich auf die Blutalkoholkonzentration von 1,58 ‰ gestützt und der Atemalkoholwert dabei nicht berücksichtigt worden. Die Antragsgegnerin könne nur die Tatsachen verwerten, die auch das Amtsgericht im Strafverfahren beurteilt und verwertet habe. Das von der Polizei verwendete Atemalkoholgerät sei auch nicht beweissicher. Herstellerangaben zur Messgenauigkeit hätten keinerlei Beweiswert. Es bestünden daher keine Eignungszweifel für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen wäre.
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1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um u.a. wesentliche Nachteile abzuwenden. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch glaubhaft macht. Eine Vorwegnahme der Hauptsache kommt allerdings nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, wenn das Abwarten der Hauptsacheentscheidung für den Antragsteller schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte (BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3.13 – NVwZ-RR 2014, 558 Rn. 5 m.w.N.). Die begehrte Regelung muss zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig sein und es muss ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache sprechen. Dies gilt im Fahrerlaubnisrecht angesichts der staatlichen Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer in besonderem Maße, da das Führen fahrerlaubnispflichtiger Fahrzeuge im Straßenverkehr mit erheblichen Gefahren für diese Rechtsgüter einhergeht, wenn der Betroffene nicht fahrgeeignet oder zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht befähigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.7.2018 – 11 CE 18.1170 – juris Rn. 15; B.v. 11.12.2014 – 11 CE 14.2358 – juris Rn. 18; ThürOVG, B.v. 15.1.2021 – 2 O 147/20 – Blutalkohol 58, 111 = juris Rn. 14; s. auch Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 20 FeV Rn. 6).
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2. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung auch tragend darauf gestützt, dass der Antragsteller keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht habe, und zutreffend ausgeführt, dass hierfür die von ihm geltend gemachten beruflichen Belange nicht ausreichen. Dem ist der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung nicht entgegengetreten. Bereits deshalb kann seine Beschwerde keinen Erfolg haben.
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3. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht auch zutreffend dargelegt, dass der Antragsteller nicht mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis ohne Vorlage eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens hat.
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a) Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 20. Juli 2023 (BGBl I Nr. 199), gelten im Verfahren auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung die Vorschriften über die Ersterteilung. Die Fahrerlaubnisbehörde hat zu ermitteln, ob Bedenken gegen die Eignung des Bewerbers zum Führen von Kraftfahrzeugen bestehen (§ 22 Abs. 2 Satz 1 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die solche Bedenken begründen, verfährt die Fahrerlaubnisbehörde nach den §§ 11 bis 14 FeV (§ 22 Abs. 2 Satz 5 FeV). Unter anderem ordnet die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens an, wenn der Betreffende ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder mehr oder bei einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg/l oder mehr geführt hat (§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV). Das Vorliegen der Fahreignung wird von § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310, 919), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. November 2023 (BGBl I Nr. 315), positiv als Voraussetzung für die Erteilung einer Fahrerlaubnis gefordert. Die Nichtfeststellbarkeit der Fahreignung geht daher zu Lasten des Bewerbers. Ein Anspruch auf Erteilung der Fahrerlaubnis besteht nicht, solange Eignungszweifel vorliegen, welche die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens rechtfertigen (vgl. VGH BW, U.v. 18.6.2012 – 10 S 452/10 – VerkMitt 2012 Nr. 68 = juris Rn. 31; U.v. 7.7.2015 – 10 S 116/15 – DAR 2015, 592 = juris Rn. 19).
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b) Die Antragsgegnerin hat ihre Eignungszweifel darauf gestützt, dass der Antragsteller ein Fahrzeug im Straßenverkehr mit einer Atemalkoholkonzentration von mehr als 0,8 mg/l geführt habe. Die Bindungswirkung des Strafbefehls vom 12. Januar 2023 steht dem nicht entgegen (zu einer vergleichbaren Fallkonstellation BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 11 CE 22.2487 – juris Rn. 20 ff.). Unabhängig davon, ob § 3 Abs. 4 StVG im (Neu-)Erteilungsverfahren überhaupt entsprechend anwendbar ist, verhält sich der Strafbefehl nicht zur Atemalkoholkonzentration, sondern stützt sich allein auf den festgestellten Blutalkoholwert. Eine direkte Konvertierung von Atem- und Blutalkoholwerten ist ausgeschlossen (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, § 316 StGB Rn. 52 und § 24a StVG Rn. 16).
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Auch wenn das Messergebnis des verwendeten Geräts ‚Alco True P‘ im Ordnungswidrigkeits- und Strafverfahren nicht als „beweissicher“ angesehen wird (vgl. dazu König in LK-StGB, 12. Aufl. 2008, § 316 Rn. 47 ff., 51; ders. in Hentschel/König/Dauer, § 316 StGB Rn. 52 und § 24a StVG Rn. 17), folgt daraus nicht zwingend, dass die Messung keine Beibringungsanordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV zu rechtfertigen vermag (hierzu BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 11 CE 22.2487 – juris Rn. 23 f.). Für den präventiven Bereich des Straßenverkehrsrechts kommt es allein darauf an, ob sich aus dem gemessenen Wert mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf eine Atemalkoholkonzentration von wenigstens 0,8 mg/l schließen lässt. Dabei erscheinen gewisse Einschränkungen in der Zuverlässigkeit der ermittelten Werte auch mit Blick darauf hinnehmbar, dass es im Rahmen von § 13 FeV noch nicht um die Entscheidung über die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis, sondern um eine vorbereitende Aufklärungsmaßnahme geht, für die sachlich fundierte Zweifel an der Fahreignung genügen (vgl. BVerwG, U.v. 17.3.2021 – 3 C 3.20 – BVerwGE 172, 18 Rn. 23). Für das hier verwendete Gerät gibt der Hersteller im Bereich zwischen 0,5 und 1,0 mg/l eine Genauigkeit von 4% des Messwerts an (vgl. AlcoTrue® P Prospekt, DE, Rev5-09/2017, abrufbar unter www.bluepoint-medical.com). Hiervon ausgehend ergibt sich – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt – immer noch ein Wert von deutlich mehr als 0,8 mg/l. Eine falsche Handhabung bzw. Missachtung der für jenes Gerät einschlägigen Bedienungshinweise, z.B. mit Blick auf etwaige Wartezeiten, kann nicht ohne Weiteres unterstellt werden.
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c) Abgesehen davon spricht viel dafür, dass eine Rückrechnung von der 35 Minuten nach der Fahrt ermittelten Blutalkoholkonzentration von 1,58 ‰ auf die Tatzeit einen Wert von mindestens 1,6 ‰ ergibt. Nach dem klaren Wortlaut des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV („oder“) genügt eine Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder eine Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg/l für die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens.
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Der Annahme eines Werts von mehr als 1,6 ‰ steht die Bindungswirkung des Strafbefehls nach § 3 Abs. 4 StVG bereits deshalb nicht entgegen, weil dieser zur für § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV allein maßgeblichen Blutalkoholkonzentration im Zeitpunkt der Fahrt (Dauer in Hentschel/König/Dauer, § 13 FeV Rn. 23b) keine Feststellungen getroffen hat. Im Strafrecht ist der Blutalkoholgehalt zur Tatzeit regelmäßig im Wege der Rückrechnung aus dem Blutalkoholwert im Zeitpunkt der Blutentnahme zu ermitteln. Mit Blick auf die sog. Resorptionsphase unterbleibt dabei allerdings grundsätzlich eine Hochrechnung für den Zeitraum von zwei Stunden nach Trinkende. Für die nachfolgende Zeit ist, wenn wie hier nicht die Schuldfähigkeit, sondern das Maß der Fahrunsicherheit inmitten steht, ein Abbauwert von 0,1 ‰ pro Stunde zu Grunde zu legen (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, § 316 StGB Rn. 38 ff.; ders. in LK-StGB, § 316 Rn. 28 ff.; Heger in Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl. 2023, § 315c Rn. 9). Im Fahrerlaubnisrecht als Gefahrenabwehrrecht (vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2019 – 3 C 14.17 – BVerwGE 165, 215 Rn. 35) muss eine solche Rück- bzw. Hochrechnung in der sog. Eliminationsphase umso mehr zulässig sein (vgl. dazu auch Koehl in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 13 FeV Rn. 20; BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 11 CE 22.2487 – juris Rn. 27 m.w.N.). Geht man hier von einem Abbauwert von 0,1 ‰ pro Stunde aus, lag die Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Fahrt bei mehr als 1,6 ‰ (1,58 ‰ + 0,0583 ‰ = 1,6383 ‰). Auch dies rechtfertigt somit die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).