Titel:
kein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung (Einzelfall - Türkei)
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Rückführungs-RL Art. 5, Art. 8
Leitsatz:
Eine nachträgliche Durchbrechung der Bestandskraft einer durch das BAMF in Form der Abschiebungsandrohung ausgesprochenen Rückkehrentscheidung mit der Folge der Notwendigkeit ihrer erneuten Überprüfung durch das BAMF ist unionsrechtlich nicht geboten. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungsschutz, Duldung aus familiären Gründe, beabsichtigter Aufbau einer Vater-Kind-Beziehung bei Neugeborenem, Berücksichtigung von Kindeswohlinteressen nach bestandskräftiger Rückkehrentscheidung, Türkei, Aussetzung der Abschiebung, Duldung aus familiären Gründen, Kindeswohlinteresse, bestandskräftige Rückkehrentscheidung, RL 2008/115/EG
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 30.01.2024 – Au 6 E 24.13
Fundstelle:
BeckRS 2024, 3110
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO, den Antragsgegner zu verpflichten, seine für den 2. Februar 2024 angesetzte Abschiebung auszusetzen, weiter.
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Die Beschwerde ist unbegründet. Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine Abänderung des angegriffenen Beschlusses.
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Der Antragsteller hat auch im Beschwerdeverfahren nicht dargelegt und glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass er einen Anordnungsanspruch auf eine Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG hat.
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Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, zwischen dem Antragsteller und seinem Kind bestehe keine tatsächliche familiäre Bindung, die einer Abschiebung rechtlich entgegenstehen könnte. Das Kind sei erst geboren worden, nachdem der Antragsteller bereits in Abschiebehaft genommen worden sei. Eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug könne vor einer Ausreise nicht erteilt werden. Zum Aufbau einer familiären Beziehung sei es dem Antragsteller zumutbar, in der Türkei ein Visum zum Familiennachzug zu beantragen.
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Der Antragsteller, der im Beschwerdeverfahren nunmehr eine Urkunde der Stadt H. vom 1. Februar 2024 über seine Anerkennung der Vaterschaft des am 1...2024 geborenen Kindes vorgelegt hat, trägt zur Begründung der Beschwerde vor, er sei Vater eines deutschen Kindes, zu dem jedenfalls „auf der Meta-Ebene“ eine Beziehung bestehe. Diese Bindung müsse berücksichtigt werden, was auch die Rückführungsrichtlinie für alle Phasen des Rückführungsverfahrens verlange. Dies sei bisher nicht ausreichend geschehen. Durch eine Abschiebung werde ihm auch die Möglichkeit genommen, im noch anhängigen Asylklageverfahren an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und dort persönlich vorzutragen. Mit der Abschiebung werde auch seine Asylklage „zu nichte gemacht“.
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Damit legt der Antragsteller jedoch keine Gründe dar, aus denen die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern wäre.
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Zwar kann eine Abschiebung nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK aus familiären Gründen rechtlich unmöglich sein, wenn die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, jedoch verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. z.B. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 22.1.2021 – 10 CE 20.3127 – Rn. 19).
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Im Falle des Antragstellers besteht eine solche Lebensgemeinschaft indes nicht. Der Antragsteller hat zwar die Vaterschaft für das am 1...2024 geborene Kind anerkannt, deren Wirksamkeit hängt jedoch noch von der Zustimmung der Mutter des Kindes ab (§ 1595 Abs. 1 BGB), sodass sich der Antragsteller derzeit allenfalls auf seine nunmehr nachgewiesene biologische Vaterschaft berufen kann (§ 1594 Abs. 1 BGB). Auch dass das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit innehabe, ist behauptet, aber nicht glaubhaft gemacht. Unabhängig davon besteht keine tatsächliche Nähebeziehung zwischen Vater und Kind. Der Antragsteller hat sein Kind jedenfalls außerhalb der Abschiebungshaft noch nie gesehen, der Vortrag zum täglichen Kontakt trotz der seit Geburt des Kindes ununterbrochenen Inhaftierung des Antragstellers und zur Beziehung auf der „Meta-Ebene“ bleibt vage und unsubstantiiert. Schließlich lassen die Umstände des Falles eine tatsächliche Übernahme der Elternverantwortung auch nicht hinreichend sicher erwarten (vgl. BayVGH, B.v. 28.11.2011 – 10 CE 11.2746 – juris Rn. 4). Angesichts des bisherigen Verhaltens des Antragstellers (kein fester Wohnsitz, mehrfaches Untertauchen, Ausreise ins Ausland, Polizeieinsatz aufgrund eines Streits mit der Mutter des Kindes, Vaterschaftsanerkennung erst angesichts der drohenden Abschiebung) reicht die bloße Bekundung, zu dem Kind eine Beziehung aufbauen zu wollen, dafür nicht aus.
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In Anbetracht dieser Umstände geht der Senat mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass es dem Antragsteller ggf. zumutbar wäre, ein Visumverfahren zum Familiennachzug nachzuholen. Eine damit verbundene Beeinträchtigung des Kindeswohls ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, zumal sowohl Mutter und Kind die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, was jedenfalls Besuchskontakte in der Türkei wesentlich erleichtern dürfte. Soweit der Antragsteller auch im vorliegenden Verfahren wiederholt geltend macht, ihm drohe in der Türkei langjährige Strafhaft, weswegen er sein Kind im Falle einer Abschiebung erst im Erwachsenenalter kennenlernen werde, ist darauf hinzuweisen, dass sein Vortrag zu einer strafrechtlichen Verfolgung sowohl im Asylverfahren als auch in den beiden Asylfolgeverfahren in wesentlichen Punkten für widersprüchlich und unglaubhaft erachtet wurde. Auf die Darstellung im Beschluss des Verwaltungsgerichts im Eilverfahren anlässlich des zweiten Asylfolgeverfahrens vom 30. Januar 2024 (Au 6 S 24.30079) wird insofern Bezug genommen. Die bloße (konkludente) Bezugnahme im ausländerrechtlichen Eilverfahren auf diese Asylverfahren genügt daher nicht, um eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens und damit einen Duldungsanspruch oder gar einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug glaubhaft zu machen.
10
Soweit sich der Antragsteller darauf beruft, im Rahmen der Rückkehrentscheidung sei nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auch das Kindeswohl zu berücksichtigen (vgl. EuGH, U.v. 11.3.2021 – C-112/20 – juris Rn. 43), hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass die Abschiebungsandrohung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Bescheid vom 23. April 2020, die nach nationalem Recht die Rückkehrentscheidung darstellt (BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41; B.v. 9.5.2019 – 1 C 14.19 – juris Rn. 30 u. 32; BayVGH, B.v. 6.2.2023 – 10 ZB 23.18 – juris Rn. 12; B.v. 28.9.2022 – 10 C 22.1648 – juris Rn. 8), seit dem Abschluss des ersten Asylverfahrens rechtskräftig bestätigt (VG Augsburg, U.v. 19.4.2021 – Au 4 K 20.30581) und damit bestandskräftig ist. Zum Zeitpunkt ihres Erlasses und bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens konnten Kindeswohlinteressen auch nicht berücksichtigt werden. Das Verwaltungsgericht hat hierzu unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH (U.v. 7.4.2022 – C-447/20 u.a. – Rn. 55 f.) ausgeführt, die Bestandskraft mache die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich, weswegen der Antragsteller auf die Bestandskraft der Abschiebungsandrohung verwiesen werden könne. Der Senat teilt im Eilverfahren die Auffassung, dass eine nachträgliche Durchbrechung der Bestandskraft der Rückkehrentscheidung mit der Folge der Notwendigkeit ihrer erneuten Überprüfung durch das BAMF unionsrechtlich nicht geboten ist. Den Vorgaben des Unionsrechts zur Berücksichtigung der Kindeswohlinteressen „beim Vollzug der Richtlinie“ (vgl. Art. 5 RL 2008/115/EG), der die Rückkehrentscheidung (Art. 6 RL 2008/115/EG), aber auch die eigentliche Abschiebung (Art. 8 RL 2008/115/EG) umfasst, ist genüge getan, wenn bei Erlass der Rückkehrentscheidung nicht berücksichtigungsfähige Belange des Kindeswohls – wie hier – im weiteren Verlauf des Vollzugs der Rückkehrentscheidung von der dann zuständigen (Ausländer-) Behörde berücksichtigt werden.
11
Auch die in der Hauptsache noch anhängige Klage im Asylfolgeverfahren gebietet es nicht, dem Kläger einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen. Der Gesetzgeber sieht im Asylfolgeverfahren ein Abschiebungsverbot lediglich bis zur Mitteilung des Bundesamts, dass ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt werde, vor (§ 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG). Vorliegend wurde der (zweite) Asylfolgeantrag des Antragstellers bereits als unzulässig abgelehnt und der dagegen gestellte Eilantrag vom Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. Januar 2024 abgelehnt. Ein weiterer Duldungsanspruch des Antragstellers zur Verfolgung seines Asylfolgeverfahren besteht aufgrund dieser ausdrücklichen gesetzlichen Regelung nicht mehr.
12
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
13
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
14
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).