Titel:
Vorlage an den EuGH zur Rechtsnatur eines orphan drugs-Marktexklusivitätsrechts
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 1, § 1004
VO (EG) Nr. 141/2000 Art. 8
AEUV Art. 267
GrCh Art. 47
Leitsätze:
1. Gewährt Art. 8 der VO (EG) Nr. 141/2000 zugunsten des Inhabers einer oder mehrerer indikationsspezifischer Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden eine subjektive zivilrechtliche Rechtsposition in Form eines Marktexklusivitätsrechts, die der Inhaber der Marktexklusivität zivilgerichtlich gegenüber Dritten geltend machen kann, wenn diese in die Rechtsposition eingreifen?
2. Falls Frage 1 mit Nein zu beantworten ist: Gewährt die VO (EG) Nr. 141/2000 nach ihrer Gesamtzielrichtung – wie sie sich insbesondere in Erwägungsgrund 8 der Verordnung niederschlägt – zugunsten des Inhabers einer oder mehrerer indikationsspezifischer Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden über das in Art. 8 der Verordnung statuierte behördliche Bearbeitungs- und Zulassungsverbot hinaus eine subjektive zivilrechtliche Rechtsposition in Form eines Marktexklusivitätsrechts, die der Inhaber der Marktexklusivität zivilgerichtlich gegenüber Dritten geltend machen kann, wenn diese in die Rechtsposition eingreifen?
3. Falls Frage 1 oder 2 mit Ja zu beantworten ist: Ergeben sich die Ansprüche des Inhabers eines solchen subjektiven zivilrechtlichen Marktexklusivitätsrechts bei einem Eingriff Dritter in diese Rechtsposition unmittelbar aus Europarecht oder richtet sich deren Umfang und Ausgestaltung nach nationalem Recht?
Schlagwort:
Arzneimittel
Fundstellen:
MittdtPatA 2024, 569
GRUR-RS 2024, 31059
LSK 2024, 31059
PharmR 2025, 53
Tenor
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. L 18 vom 22.1.2000, S. 1 ff.) vorgelegt:
1. Gewährt Art. 8 der VO (EG) Nr. 141/2000 zugunsten des Inhabers einer oder mehrerer indikationsspezifischer Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden eine subjektive zivilrechtliche Rechtsposition in Form eines Marktexklusivitätsrechts, die der Inhaber der Marktexklusivität zivilgerichtlich gegenüber Dritten geltend machen kann, wenn diese in die Rechtsposition eingreifen?
2. Falls Frage 1 mit Nein zu beantworten ist: Gewährt die VO (EG) Nr. 141/2000 nach ihrer Gesamtzielrichtung – wie sie sich insbesondere in Erwägungsgrund 8 der Verordnung niederschlägt – zugunsten des Inhabers einer oder mehrerer indikationsspezifischer Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden über das in Art. 8 der Verordnung statuierte behördliche Bearbeitungs- und Zulassungsverbot hinaus eine subjektive zivilrechtliche Rechtsposition in Form eines Marktexklusivitätsrechts, die der Inhaber der Marktexklusivität zivilgerichtlich gegenüber Dritten geltend machen kann, wenn diese in die Rechtsposition eingreifen?
3. Falls Frage 1 oder 2 mit Ja zu beantworten ist: Ergeben sich die Ansprüche des Inhabers eines solchen subjektiven zivilrechtlichen Marktexklusivitätsrechts bei einem Eingriff Dritter in diese Rechtsposition unmittelbar aus Europarecht oder richtet sich deren Umfang und Ausgestaltung nach nationalem Recht?
Entscheidungsgründe
1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage, dass den Beklagten u.a. das Anbieten, Inverkehrbringen, Gebrauchen oder zu diesen Zwecken Einführen oder Besitzen von Arzneimittel, das Eculizumab enthält, in der Bundesrepublik Deutschland untersagt wird, wenn die Beklagten nicht gewisse Schutzmaßnahmen dafür ergreifen, dass es nicht zu einer indikationsübergreifenden Verwendung des Arzneimittels („off“- bzw. „cross-label-use“) für für die Klägerin geschützte Indikationen kommt.
2
Die Erwägungsgründe der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden lauten auszugsweise wie folgt:
„(1) Bestimmte Leiden treten so selten auf, daß die Kosten für die Entwicklung und das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des Leidens durch den zu erwartenden Umsatz des Mittels nicht gedeckt werden würden. Die pharmazeutische Industrie wäre deshalb nicht bereit, das Arzneimittel unter normalen Marktbedingungen zu entwickeln. […]
(2) Patienten mit seltenen Leiden müssen dasselbe Recht auf gute Behandlung haben wie andere Patienten. Daher müssen Erforschung, Entwicklung und Inverkehrbringen geeigneter Arzneimittel durch die pharmazeutische Industrie gefördert werden. Anreize für die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Leiden bestehen in den USA seit 1983 und in Japan seit 1993.
(3) In der Europäischen Union gab es auf einzelstaatlicher oder gemeinschaftlicher Ebene bisher nur vereinzelte Maßnahmen, um die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Leiden zu fördern. Solche Maßnahmen sollten vorzugsweise auf Gemeinschaftsebene getroffen werden, um für diese Erzeugnisse einen möglichst großen Markt zu erschließen und eine Aufsplitterung der begrenzten Mittel zu vermeiden. Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene sind unkoordinierten Maßnahmen der Mitgliedstaaten vorzuziehen, die zu Wettbewerbsverzerrungen und Hemmnissen im innergemeinschaftlichen Handel führen können.
(8) Die Erfahrungen in den Vereinigten Staaten und Japan haben gezeigt, daß für die Industrie der stärkste Anreiz zu Investitionen in die Entwicklung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln für seltene Leiden die Aussicht auf ein mehrjähriges Marktexklusivitätsrecht ist, wodurch sich die Investitionen möglicherweise teilweise decken lassen. Der Datenschutz gemäß Artikel 4 Nummer 8 Buchstabe a) Ziffer iii) der RL 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneimittel (1) reicht diesbezüglich als Anreiz nicht aus. Die Mitgliedstaaten können von sich aus eine entsprechende Maßnahme nicht ohne gemeinschaftliche Dimension einführen, da dies im Widerspruch zu der RL 65/65/EWG stünde. Würden die Mitgliedstaaten derartige Maßnahmen ohne Koordinierung ergreifen, so hätte dies Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel zur Folge, die ihrerseits Wettbewerbsverzerrungen nach sich zögen und dem Binnenmarkt entgegenstünden. Das Marktexklusivitätsrecht sollte jedoch lediglich das therapeutische Anwendungsgebiet betreffen, für das ein Arzneimittel als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen wurde, und sollte bereits bestehende Rechte an geistigem Eigentum nicht berühren. Im Interesse der Patienten sollte das für Arzneimittel für seltene Leiden gewährte Marktexklusivitätsrecht nicht ausschließen, daß ein ähnliches Arzneimittel in Verkehr gebracht werden kann, das den von dem Leiden Betroffenen erheblichen Nutzen bringen könnte.“
3
Die Verordnung (EG) Nr. 141/2000 bestimmt:
(1) Wurde nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden erteilt oder haben alle Mitgliedstaaten eine Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Arzneimittels nach den in den Artikeln 7 und 7a der RL 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der RL 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenen Verfahren für die gegenseitige Anerkennung – unbeschadet der Vorschriften über geistiges Eigentum oder anderer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts – erteilt, so werden die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten während der nächsten zehn Jahre weder einen anderen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen eines ähnlichen Arzneimittels für dasselbe therapeutische Anwendungsgebiet annehmen noch eine entsprechende Genehmigung erteilen noch einem Antrag auf Erweiterung einer bestehenden Genehmigung stattgeben.
(2) Dieser Zeitraum kann jedoch auf sechs Jahre verkürzt werden, wenn am Ende des fünften Jahres in bezug auf das betreffende Arzneimittel feststeht, daß die in Artikel 3 festgelegten Kriterien nicht mehr erfüllt sind, wenn nämlich unter anderem anhand der vorliegenden Daten nachgewiesen wird, daß die Rentabilität so ausreichend ist, daß die Aufrechterhaltung des Marktexklusivitätsrechts nicht gerechtfertigt ist. […]
(3) Abweichend von Absatz 1 und unbeschadet der Vorschriften über geistiges Eigentum oder anderer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts kann für ein ähnliches Arzneimittel mit demselben therapeutischen Anwendungsgebiet eine Genehmigung für das Inverkehrbringen gewährt werden, wenn a) der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen des zuerst als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittels dem zweiten Antragsteller seine Zustimmung gegeben hat oder b) der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen des zuerst als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittels das Arzneimittel nicht in ausreichender Menge liefern kann oder c) der zweite Antragsteller in seinem Antrag nachweisen kann, daß das zweite Arzneimittel, obwohl es dem bereits zugelassenen und als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittel ähnlich ist, sicherer, wirksamer oder unter anderen Aspekten klinisch überlegen ist.
(5) Die Kommission erstellt in Konsultation mit den Mitgliedstaaten, der Agentur und den interessierten Parteien ausführliche Leitlinien für die Anwendung dieses Artikels.
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§ 823 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der geltenden Fassung lautet wie folgt:
„(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein."
5
§ 1004 BGB in der geltenden Fassung lautet wie folgt:
„(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.
(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist."
2. Umstände des Ausgangsverfahrens
6
a) Die Parteien des Ausgangsverfahrens sind Wettbewerberinnen. Die Klägerin vertreibt in der Bundesrepublik Deutschland das Arzneimittel S® (Referenzprodukt). Dieses ist als sog. „Orphan Drug“ für die Behandlung von vier seltenen Leiden (Krankheiten) arzneimittelrechtlich zugelassen:
- die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (nachfolgend „PNH“),
- das atypische Hämolytisch-Urämische Syndrom (nachfolgend „aHUS“),
- die refraktäre generalisierte Myasthenia Gravis (nachfolgend „gMG“) und – Neuromyelitis-Optica-Spektrum-Erkrankungen (nachfolgend „NMOSD“).“
7
Für S® bestehen derzeit noch folgende indikationsbezogene Marktexklusivitätsrechte für seltene Leiden im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 141/2000:
- für gMG unter der Nummer durch Entscheidung der Kommission vom 29.07.2014 mit Ablaufdatum am 17.08.2027;
- für NMOSD unter der Nummer durch Entscheidung der Kommission vom 05.08.2013 mit Ablaufdatum am 28.08.2029.
8
Für die Erkrankungen PNH und aHUS bestanden ursprünglich ebenfalls jeweils „Orphan Drug“ Marktexklusivitätsrechte, die aber mittlerweile abgelaufen sind. Das Marktexklusivitätsrecht für aHUS ist am 29.11.2023 abgelaufen.
9
Die Beklagte zu 1 ist seit 19.04.2023 Inhaberin der europäischen Marktzulassung für das Produkt B ®. B ® ist ein sog. Biosimilar. Das Referenzprodukt und B® verwenden beide als Wirkstoff den Antikörper Eculizumab. Die arzneimittelrechtliche Zulassung für B ® beschränkt sich auf die Verwendung zur Behandlung von PNH und mittlerweile auch aHUS. Die Beklagte zu 2 vertreibt B® in der Bundesrepublik Deutschland.
10
Die Unternehmensgruppe der Klägerin machte die Beklagten vorgerichtlich mehrfach auf eine mögliche Rechtsverletzung durch einen indikationsübergreifenden Einsatz des Medikaments aufmerksam. Mit Schreiben vom 28.04.2023 teilte die Unternehmensgruppe der Beklagten gegenüber der Gruppe der Klägerin mit, sie werde B® in der Bundesrepublik Deutschland auf den Markt bringen. In dem Schreiben unterstrich die Unternehmensgruppe der Beklagten, sie habe in einem Schreiben an verschreibende Ärzte den nachfolgenden Hinweis übersandt und werde ihn auch an Apotheker versenden:
"Gemäß Abschnitt 4.1. der Fachinformation ist B.® nir zur Behandlung von Erwachsnenen, Kindern und Jugendlichen mit Paroxysmaler Nächlicher Hämoglobinurie (PNH) zugelassen, anders als das Referenzprodukt, das für PNH und zusätzliche Indikationen zugelassen sind. Wir empflehlen B. nich in Indikationen einzusetzen, für die es zur Zeit nicht zugelassen ist"
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B.® wurde für die Unternehmungsgruppe der Beklagten am 15.05.2023 in der Lauer-Taxe gelistet. Die Lauer-Taxe enthält Listen aller Fertigarzneimittel, Medizinprodukte und apothekenüblichen Waren, die in Deutschland für den Handel zugelassen sind. Erst mit Listung in der Taxe kann ein Arzneimittel in Deutschland von Ärzten und Apothekern bezogen werden.
12
b) Die Klägerin erfuhr von der bevorstehenden Listung von B® in der Lauer-Taxe und beantragte kurz danach mit Schriftsatz vom 17.05.2023 beim hiesigen Gericht den Erlass einer einstweiligen Verfügung mit im wesentlichen gleicher Zielrichtung wie in der hiesigen Klage (im Folgenden: „das Verfügungsverfahren“). Sie trug vor, dass die ihr nach Art. 8 der VO (EG) Nr. 141/2000 zustehende Marktexklusivität durch ein Anbieten von B® ohne die in ihrem Antrag genannten Maßnahmen beeinträchtigt würde. Denn Ärzte und Apotheker könnten sich veranlasst sehen, B® auch für die nicht zugelassenen Anwendungsgebiete zu verwenden (sog. „off“- bzw. „cross-label use“).
13
Die Kammer erließ die beantragte einstweilige Verfügung mit Beschluss vom 22.05.2023 überwiegend wie von der Klägerin beantragt, und bestätigte sie mit Urteil vom 04.08.2023 im Wesentlichen. Dabei stützte sie die Entscheidung auf die Erwägung, dass die VO (EG) Nr. 141/2000 dem jeweiligen Berechtigten zwar mit Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 141/2000 zunächst nur ein Recht gegenüber den Zulassungsbehörden gewähre. Erwägungsgrund 8 der VO (EG) Nr. 141/2000 zeige aber, dass dieses Zulassungsverbot nur ein Ausdruck des als solchen umfassenden Marktexklusivitätsrechts bei „Orphan Drugs“ sei. Entsprechend sei dieses Recht auch von Dritten zu beachten und könne gegen diese bei einer Beeinträchtigung zivilrechtlich geltend gemacht werden. Dabei ordnete die Kammer das Marktexklusivitätsrecht als „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ein. Entsprechend stehe der Klägerin bei einer Beeinträchtigung des Rechts durch Dritte gemäß §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB analog ein Anspruch auf Unterlassung der Beeinträchtigung zu. Eine Gefahr für die Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts nahm die Kammer im vorliegenden Fall an, weil Apotheker und Ärzte B® für eine von seiner Zulassung nicht erfasste therapeutische Indikation („off“- bzw. „cross label“) verwenden könnten, die ihrerseits noch Marktexklusivitätsschutz genießt. Zwar dürften die Beklagten das Medikament B® für die Indikation PNH in den Verkehr bringen. Allerdings hätten sie durch die an Ärzte und Apotheker gesandte Empfehlung, „B® nicht bei Indikationen einzusetzen, für die es zur Zeit nicht zugelassen ist“, gerade die Vorstellung hervorgerufen, dass das Medikament „off“- bzw. „cross-label“ auch für die (noch) nicht zugelassenen Indikationen verwendet werden könne. Die vom Gesetzgeber mit dem Marktexklusivitätsschutz verfolgte Anreizwirkung werde verfehlt, wenn in einem derartig gelagerten Fall kein zivilrechtlicher Abwehranspruch bestehe. Im Sinne des unionsrechtlichen effet utile sei daher eine zivilrechtliche Durchsetzung des Marktexklusivitätsrechts geboten.
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c) Die Beklagten gingen hiergegen in Berufung zum Oberlandesgericht München (im Folgenden: „das Berufungsverfahren“).
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Mit Urteil vom 01.02.2024 hob das Berufungsgericht die einstweilige Verfügung auf und wies den auf ihren Erlass gerichteten Antrag zurück. Dabei nahm es maßgeblich an, das Marktexklusivitätsrecht nach der VO (EG) Nr. 141/2000 sei nur ein behördliches Bearbeitungs- und Zulassungsverbot, das lediglich mittelbar eine Erwerbsaussicht begründe. Es räume den Berechtigten keine zivilrechtliche Rechtsposition ein, die diese gegenüber Dritten bei einer Beeinträchtigung durchsetzen könnten. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht im Wesentlichen aus:
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Zum einen vermittele die Marktexklusivität dem Berechtigten kein positives Nutzungsrecht. Es fehle der für ein absolutes Recht (nach deutschem Verständnis) erforderliche Zuweisungsgehalt. Vielmehr sei die Marktexklusivität dadurch gewährleistet, dass während ihres Bestehens keinem Dritten eine Zulassung für sein Arzneimittel für dieselbe Indikation gewährt werden könne. Vertreibe ein Dritter sein Arzneimittel dennoch ohne die entsprechende Zulassung, könne u.a. der Berechtigte über die Vorschriften des Wettbewerbs- und Arzneimittelrechts, namentlich § 8 Abs. 1, §§ 3, 3a des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), § 21 Abs. 1 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln (AMG) gegen den Dritten vorgehen. Auch aus der Bezeichnung der durch die VO (EG) Nr. 141/2000 gewährten Rechtsposition als „Marktexklusivitätsrecht“ sei nichts anderes abzuleiten. Denn nur in der deutschen Sprachfassung finde sich diese Formulierung. Andere Sprachfassungen betonten stattdessen den Charakter der dem Inhaber zugewiesenen Marktexklusivität (französische Sprachfassung: „Exclusivité commerciale“; englische Sprachfassung: „Market exclusivity“; spanische Sprachfassung: „Exclusividad comercial“).
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Zum anderen fehle es dem Marktexklusivitätsrecht an einer Ausschlussfunktion. Das Recht gelte nicht gegenüber jedermann, z.B. nicht gegenüber Ärzten und Apothekern. Denn diesen stehe es im Rahmen ihrer Therapiefreiheit offen, B® „off-label“ auch für die zugunsten der Klägerin geschützten Indikationen zu verordnen. Ferner zeichne sich das unionsrechtliche Regelungsinstrumentarium zur Förderung von Forschung und Entwicklung im Bereich von Arzneimitteln im Allgemeinen und solcher zur Behandlung seltener Leiden im Besonderen durch eine Vielzahl aufeinander abgestimmter Schutzinstitute aus, namentlich u.a. den Regelungen über Patentschutz und ergänzende Schutzzertifikate sowie den Unterlagen- und Vermarktungsschutzmaßnahmen im Rahmen der Zulassung generischer Arzneimittel sowie der Marktexklusivität betreffend die Zulassung von „Orphan“Medikamenten. Diese spezialgesetzlichen Wertungen würden unterlaufen, wenn man das Marktexklusivitätsrecht ähnlich einem Patent- oder sonstigem Immaterialgüterrecht als absolut geschützte und damit auch gegenüber Wettbewerbern unmittelbar durchsetzbare Rechtsposition anerkennen würde. Auch gebiete der effet utile nicht die Annahme eines auch gegen Mitbewerber durchsetzbaren Rechts.
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d) Dieses Urteil des Oberlandesgerichts München im einstweiligen Verfügungsverfahren ist nach deutschem Recht nicht mehr mit Rechtsmitteln angreifbar.
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e) Im Rahmen der hiesigen Hauptsacheklage verfolgt die Klägerin ihr Ziel aus dem Verfügungsverfahren weitestgehend weiter. Dabei geht sie weiterhin davon aus, dass die Marktexklusivität nach der VO (EG) Nr. 141/2000 dem jeweils Berechtigten ein subjektives absolutes Recht einräume, dass dieser auch gegenüber Dritten zivilrechtlich geltend machen könne. Zur Begründung der Haftung der Beklagten im konkreten Fall trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, dass deren auf-den-Markt-Treten mit ihrem Produkt B® ohne flankierende Schutzmaßnahmen aufgrund der Ausgestaltung des deutschen Gesundheitssystems automatisch zu einem „off-label“- bzw. „cross-label-use“ des Arzneimittels der Beklagten auch für die weiterhin für die Klägerin geschützten Indikationen gMG und NMOSD führe. Jedenfalls hätten die Beklagten mit dem oben unter Ziffer 2.a) auszugsweise zitierten Schreiben an Ärzte und Apotheker eine Bedingung gesetzt, dass es zu solch einer Verwendung von B® komme bzw. kommen könne. Diese hätten die Beklagten bislang nicht wieder beseitigt.
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Hilfsweise beantragt die Klägerin, die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dabei schlägt sie folgende Fragen vor:
1. Ist Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 v. 16.12.2009 dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/23 bzw. nach dem in den Artikeln 7 und 7a der RL 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der RL 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenem Verfahren für die gegenseitige Anerkennung eine zivilrechtlich durchsetzbare, ausschließliche Rechtsposition zuweist, die dem Inhaber die alleinige Nutzung des Arzneimittels für ein bestimmtes therapeutisches Anwendungsgebiet zuweist und Dritte von dieser Nutzung ausschließt?
Ist Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 v. 16.12.2009 dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/23 bzw. nach dem in den Artikeln 7 und 7a der RL 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der RL 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenem Verfahren für die gegenseitige Anerkennung für dieses Arzneimittel in Kombination mit diesem therapeutischen Anwendungsgebiet eine subjektive, vertriebsbezogene Rechtsposition mit entsprechender Zuordnungs- und Ausschließlichkeitsfunktion betreffend Vertriebshandlungen Dritter verschafft, die jedermann dazu verpflichtet, diese Rechtsposition des Inhabers zu respektieren und sie nicht zu verletzen?
Ist Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 v. 16.12.2009 dahingehend auszulegen, dass das so betitelte „Marktexklusivitätsrecht“ neben einer verfahrensbezogenen Sonderregelung des Zulassungsregimes für Arzneimittel dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/23 bzw. nach dem in den Artikeln 7 und 7a der RL 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der RL 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenem Verfahren für die gegenseitige Anerkennung einen zivilrechtlich durchsetzbaren, ausschließlichen Vermarktungsschutz (bzw. eine zivilrechtlich durchsetzbare, ausschließliche Vermarktungsexklusivität) zuweist, der dem Inhaber die alleinige Nutzung des Arzneimittels für ein bestimmtes therapeutisches Anwendungsgebiet zuweist und Dritte von dieser Nutzung ausschließt?
2. Ist Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 v. 16.12.2009 dahingehend auszulegen, dass das so betitelte „Marktexklusivitätsrecht“ neben einer verfahrensbezogenen Sonderregelung des Zulassungsregimes für Arzneimittel eine den individuellen Schutz bezweckende Regelung des Inhabers einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/23 bzw. nach dem in den Artikeln 7 und 7a der RL 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der RL 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenem Verfahren für die gegenseitige Anerkennung enthält?
3. Ist Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 v. 16.12.2009 dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift zugunsten eines Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/23 bzw. nach dem in den Artikeln 7 und 7a der RL 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der RL 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenem Verfahren für die gegenseitige Anerkennung eine abschließende Regulierung besonderer Investitionsanreize in Gestalt einer Modifikation des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens enthält, die einer weitergehenden Gewährung zivilrechtlicher Rechtsbehelfe durch die der Mitgliedsstaaten entgegensteht?
Enthält Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 v. 16.12.2009 durch Adressierung der arzneimittelrechtlichen Behörden eine abschließende, vollharmonisierende Regulierung des Marktexklusivitätsrechts des Inhabers einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/23 bzw. nach dem in den Artikeln 7 und 7a der RL 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der RL 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenem Verfahren für die gegenseitige Anerkennung?
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Die Beklagten meinen im Wesentlichen, dass die VO (EG) Nr. 141/2000 dem Inhaber einer Zulassung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden keine eigenständigen absoluten Rechte gegenüber Wettbewerbern vermittele, sondern nur Rechte im Verhältnis zu Arzneimittelbehörden bei der Erteilung von Zulassungen. Eine Gefahr für eine Beeinträchtigung der Rechte bestünde ohnehin nicht. B® werde ausschließlich zur Behandlung der nicht mehr geschützten Indikationen verwendet. Im Übrigen meinen sie, dass sie für eine solche Verwendung ohnehin nicht haftbar seien.
22
Hilfsweise schlagen die Beklagten vor, dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 8 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 v. 16.12.2009 dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift für den Inhaber einer oder mehrerer indikationsspezifischer Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für bestimmte seltene Leiden i.S.d. Vorschrift (Orphan-Arzneimittel) ein subjektives, zivilrechtlich im Wege von Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen durchsetzbares absolutes Recht beinhaltet, das Inverkehrbringen eines ähnlichen Arzneimittels (also insbesondere eines Biosimilars) durch Dritte (gegenüber „Jedermann“) zu untersagen oder einzuschränken, selbst wenn diese Dritten ihrerseits über eine rechtmäßig erteilte arzneimittelrechtliche Genehmigung für das Inverkehrbringen des ähnlichen Arzneimittels zum Zweck der rechtmäßigen Verwendung für eine oder mehrere Indikationen verfügen, für die die Marktexklusivität des Art. 8 VO (EG) Nr. 141/2000 bereits abgelaufen ist?
3. Relevanz für die hiesige Entscheidung
23
Die Entscheidung über die hiesige Klage hängt maßgeblich von der Beantwortung der Fragen 1 und 2 ab, nämlich ob die VO (EG) Nr. 141/2000 dem Inhaber einer oder mehrerer indikationsspezifischer Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden eine zivilrechtliche Rechtsposition einräumt, die dieser gegen Dritte geltend machen kann, wenn diese in die geschützte Rechtsposition eingreifen.
24
Aus der Anerkennung einer solchen, die Marktexklusivität schützenden zivilrechtlich durchsetzbaren Rechtsposition sowie der entsprechenden Ausgestaltung des Anspruchs (siehe Frage 3) ergäbe sich, welches Verhalten überhaupt zu einer vorwerfbaren Verletzung der Rechtsposition führen kann.
4. Bisherige Einschätzung in Literatur und Rechtsprechung
25
Abgesehen von vereinzelten Entscheidungen europäischer und deutscher Gerichte (hierzu sogleich unter a)) und einzelnen Stimmen in der Literatur (hierzu sogleich unter b)) ist bislang, soweit die Kammer den Streitstand überblickt, nicht abschließend geklärt, welche Rechtsschutzmöglichkeiten der Inhaber einer Erstzulassung für ein „Orphan Drug“ in Bezug auf die Marktexklusivität hat.
26
a) Soweit ersichtlich beschäftigen sich bislang nur vereinzelte Entscheidungen der europäischen (hierzu sogleich unter aa)) und deutschen Gerichte (hierzu sogleich unter bb)) mit dem Marktexklusivitätsrecht.
27
aa) Gegenstand europäischer Gerichtsentscheidungen war der zulassungsrechtliche Aspekt des Marktexklusivitätsrechts nach der VO (EG) Nr. 141/2000:
28
Der Unionsgerichtshof bestätigte in der Entscheidung Teva Pharma und Teva Pharmaceuticals Europe / European Medicines Agency (EMA) (vgl. Urt. v. 03.03.2016 – C-138/15, ECLI:ECLI:EU:C:2016:136), die Entscheidung des EuG (vgl. Urt. v. 22.01.2015 – T-140/12, ECLI:ECLI:EU:T:2015:41), wonach die Zulassungsbehörde keine Genehmigung erteilen dürfe für das Inverkehrbringen eines zweiten ähnlichen Produkts mit denselben therapeutischen Anwendungsgebieten wie denjenigen eines Arzneimittels für seltene Leiden, dem eine Genehmigung für das Inverkehrbringen für zehn Jahre gewährt wurde. Dies gelte unabhängig von den Auswirkungen auf ein früheres Produkt, für das der Zeitraum der Marktexklusivität abgelaufen ist.
29
In der Entscheidung Laboratoires CTRS v. Kommission urteilte das Gericht der Europäischen Union, der Inhaber einer Marktexklusivität für ein „Orphan Drug“ könne gegen die Zulassungsbehörden gerichtlich vorgehen, wenn diese andere Medikamente zuließen, deren Zulassungsunterlagen Formulierungen enthielten, die eine indikationsübergreifende Verwendung und damit eine Umgehung des Marktexklusivitätsrechts nahelegten (vgl. Urt. v. 11.06.2015 – T-452/14, Rn. 78 ff., ECLI:ECLI:EU:T:2015:373).
30
bb) Auf nationaler Ebene erwähnte das Bundesverwaltungsgericht am Rande das Marktexklusivitätsrecht für „Orphan Drugs“ in einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 zum Unterlagenschutz nach Art. 13 Abs. 4 VO (EWG) Nr. 2309/93 (Urt. v. 10.12.2015 – 3 C 18/14, ECLI:DE:BVerwECLI:G:2015:101215U3C18.14.0, NVwZ-RR 2016, 504, Rz. 32). Dabei führt es im Rahmen eines Vergleichs zum Unterlagenschutz aus, dass „die Parallelregelung in Art. 8 I („Marktexklusivitätsrecht“) der VO (EG) Nr. 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. L 18, 1) den Organen der Mitgliedstaaten [in ähnlicher Weise] ausdrücklich [verbietet], einen Antrag anzunehmen oder eine Genehmigung zu erteilen“.
31
Die hiesige Kammer war (wohl) das erste Gericht, das im deutschen Recht über den zivilrechtlichen Schutz des Marktexklusivätsrechts für „Orphan Drugs“ entschieden hat (s.o., Endurt. v. 4.8.2023 – 21 O 6235/23, ECLI:DE:LGMUEN1:2023:0804.21O6235.23.00, GRUR 2023, 1439 – Eculizumab; besprochen u.a. von Traumann/Holtorf, GRUR-Prax 2023, 658). Das Oberlandesgericht München lehnte wie oben unter 2.b) beschrieben im Berufungsverfahren die Existenz eines positiven Nutzungsrechts des Berechtigten nach der VO (EG) Nr. 141/2000 dagegen ab (Urt. v. 1.2.2024 – 6 U 3303/23e, GRUR 2024, 1212 – Eculizumab; besprochen u.a. von Utzerath, GRUR-Prax 2024, 592).
32
In einem Urteil vom Februar 2024 schloss sich das Landgericht Düsseldorf der Auffassung der hiesigen Kammer an und zog eine Parallele zum Marktexklusivitätsrecht im Bereich des Unterlagenschutzes (Urt. v. 01.02.2024 – 14d O 29/23, ECLI:DE:LGD:2024:0201.14D.O29.23.00, PharmR 2024, 386, 388). So führte es aus: „Das Marktexklusivitätsrecht der VO (EG) 726/2004 ist ein absolutes subjektives Recht und damit ein „sonstiges Recht“ im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB. Eine Beeinträchtigung dieses Rechts kann einen zivilrechtlich einklagbaren Unterlassungsanspruch nach § 1004 BGB begründen (vgl. zum Marktexklusivitätsrecht nach der VO (EG) 141/2000: LG München I, GRUR 2023, 1439, 1440, Rn. 44 ff. – beck-online)“.
33
b) Die deutsche rechtswissenschaftliche Literatur hat sich ebenfalls mit der Frage beschäftigt, ob die Marktexklusivität für „Orphan Drugs“ eine subjektive zivilrechtliche Rechtsposition gewährt.
34
Wohl zuerst 2018 befassten sich Autoren mit der auch für den Schutz von „Orphan Drugs“ relevanten Frage, ob die arzneimittelrechtliche Vermarktungsexklusivität im Rahmen des Unterlagenschutzes nach Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 der RL 2001/83/EG bzw. der nationalen Umsetzungsvorschrift des § 24b Abs. 1 S. 2 AMG eine zivilrechtliche Rechtsposition vermittele, vergleichbar einem Patent- oder Gebrauchsmuster (Nack/Kühne, GRUR Int. 2018, 1152). Die Autoren bejahten dies und stellten vor allem darauf ab, dass u.a. die Systematik der Vorschriften darauf hindeute, dass die Vermarktungsexklusivität dem Voranmelder ein absolutes Recht vermittele, das dieser auf dem ordentlichen Rechtsweg gegen Dritte geltend machen könne, die ein genehmigtes Generikum in Verkehr bringen wollen.
35
Mit Blick auf die grundsätzlich vergleichbare Frage beim Marktexklusivitätsrecht für „Orphan Drugs“ spricht sich ein Beitrag von 2023 gegen eine zivilrechtlich schützende Dimension des Marktexklusivitätsrechts nach der VO (EG) Nr. 141/2000 aus (Leistner, PharmR 2023, 619). Die Regelung in Art. 8 Abs. 1 der VO begründe kein eigenständiges absolutes subjektives Recht, gegen bestimmte genehmigte Vertriebshandlungen Dritter unmittelbar vorzugehen. Eine andere Auffassung berge u.a. die Gefahr einer ausufernden Haftung. So könne keine einheitliche Lösung für den Binnenmarkt gefunden, kein angemessener Ausgleich der (im Hinblick auf den Vertrieb für unterschiedliche Indikationen jeweils legitimen) Interessen der Parteien mit der notwendigen Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit gewährleistet werden. Daher schlägt der Autor vor, dass die zuständigen Behörden die Möglichkeit und gegebenenfalls die Verpflichtung haben sollten, durch geeignete und verhältnismäßige Auflagen bei Erteilung von Genehmigungen zum Inverkehrbringen für Newcomer, bei denen aufgrund der äußeren Rahmenbedingungen das Inverkehrbringen auch zu einem Therapieeinsatz für die seltene Indikation seitens der Ärzte und Kliniken führt, einen gerechten Ausgleich zwischen deren Interessen, den Interessen das nach der VO Berechtigten und den Interessen der Allgemeinheit herzustellen. Eine solche Möglichkeit müsse ggf. de lege ferenda geschaffen werden.
36
Der gleichen Ansicht hinsichtlich der Rechtsnatur des Marktexklusivitätsrechts ist der Verfasser zweier Beiträge von 2024 (Stief, GRUR 2024, 1176 und GRUR 2024, 723). Der Autor begrüßt die Entscheidung des Oberlandesgerichts München im Berufungsverfahren, da diese für den Bereich der „Orphan Drugs“ eine nachvollziehbare Argumentation zur Ablehnung eines zivilrechtlich durchsetzbaren, absoluten subjektiven Rechts biete. Ebenso arbeite die Entscheidung den gesetzgeberischen Willen des Art. 8 VO (EG) Nr. 141/2000 mit Blick auf die Abwägung der innovationsökonomischen Aspekte sehr gut heraus. Im Übrigen sei die angegriffene Verwendung eines Arzneimittels außerhalb der zugelassenen Indikation – also „off-label“ – die Ausnahme und lediglich unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen zulässig.
37
Die Verfasser eines weiteren Aufsatzes von 2024 (v. Czettritz/Huber, PharmR 2024, 598) vertreten gleichfalls die Ansicht, dass die in Art. 8 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 141/2000 geregelte Marktexklusivität kein zivilrechtlich gegen Dritte durchsetzbares Recht gewähre. Die Regelungen zur Marktexklusivität richteten sich ausschließlich an die Zulassungsbehörden. Sie argumentieren dabei mit dem Wortlaut des Art. 8 der VO. So lasse sich keine entsprechende Rechtsposition daraus ableiten, dass in der deutschen und schwedischen Sprachfassung der VO die Rede vom Marktexklusivitätsrecht sei. Die anderen 21 Sprachfassungen verwendeten den Begriff „Recht“ nicht. Insoweit sei davon auszugehen, dass es sich bei den beiden Abweichungen um sprachliche Ausreißer bzw. Besonderheiten in der deutschen und schwedischen Sprachfassung handele, die nicht zu berücksichtigen seien. Selbst wenn dies anders gesehen würde – beispielsweise, weil die Bezeichnung als „Recht“ („Alleinvertriebsrecht“) bereits in der deutschen und schwedischen Sprachfassung des Vorschlags zur Verordnung enthalten war –, könne aus der bloßen Bezeichnung als „Recht“ jedenfalls keine Aussage zu einer etwaigen Schutzrichtung des „Rechts“ hergeleitet werden, wie ebenso wenig dazu, ob es wettbewerbsrechtlich durchgesetzt werden könne. Auch im Übrigen enthalte der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 141/2000 nur ein Bearbeitungs- und Zulassungsverbot, das sich nur an Behörden richte und diese verpflichte; er enthalte jedoch keine Aussage zu den Wettbewerbern oder deren Vertriebshandlungen. Das treffe auch auf den übrigen Wortlaut der Verordnung und ihre Erwägungsgründe zu. Darüber hinaus sehe die Marktexklusivität keine Ausschlussfunktion vor. Dem stehe u.a. bereits entgegen, dass Ärzte und Apotheker aufgrund ihrer Therapiefreiheit nicht an die Marktexklusivität gebunden seien. Im Übrigen solle der Investitionsschutz nach der VO (EG) Nr. 141/2000 gerade nicht grenzenlos gewährleistet sein, insbesondere in Ansehung des Interesses der Allgemeinheit und der Patienten am Zugang zu wirksamen und kostengünstigen Arzneimitteln. Dies zeige sich dadurch, dass die Gewährung des „Orphan Drug“- Status an strikte Kriterien bzw. Verfahren nach Art. 3, 5 der VO (EG) Nr. 141/2000 gebunden sei und Ein- bzw. Beschränkungen nach Art. 8 Abs. 2 und 3 der VO (EG) Nr. 141/2000 vorgesehen seien. Diese Interessen seien in Einklang mit dem intendierten Innovationsschutz zu bringen. Durch Einräumung eines Marktexklusivitätsrechts mit Ausschlussfunktion gegenüber Dritten werde dieser Interessenausgleich aber unzulässig zugunsten eines Vorrangs des Innovationsschutzes verschoben. Im Übrigen spreche hierfür auch ein Vergleich mit den Regelungen des Unterlagenschutzes nach § 24b Abs. 1 AMG (vgl. Art. 10 Abs. 1 der RL 2001/83/EG). Denn diese sähen den Schutz der Unterlagen (Datenexklusivität) einerseits und den Vermarktungsschutz andererseits vor. Ersterer richte sich nur an die Zulassungsbehörden und sei dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Der Vermarktungsschutz richte sich hingegen an Generikahersteller und könne daher zivil- bzw. wettbewerbsrechtlich durchgesetzt werden. Die Regelungen der Marktexklusivität nach Art. 8 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 141/2000 richteten sich hingegen ausschließlich an die Zulassungsbehörden.
38
a) Die erste Vorlagefrage zielt darauf, ob Art. 8 VO (EG) Nr. 141/2000 dahingehend auszulegen ist, dass die Vorschrift unmittelbar eine subjektive, zivilrechtliche Rechtsposition gewährt.
39
Unabhängig von der Diskussion über die Benennung der Vorschrift als Marktexklusivitätsrecht in den unterschiedlichen Sprachfassungen erscheint eine solche Annahme aus Sicht der Kammer nicht zwingend. So spricht bereits der Wortlaut von Art. 8 VO (EG) Nr. 141/2000 dagegen, allein aus der Vorschrift eine entsprechende zivilrechtliche Rechtsposition abzuleiten. Insbesondere Absatz 1 der Vorschrift richtet sich nur an die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten als Normadressaten, nicht aber an Mitbewerber oder sonstige Dritte.
40
b) Die zweite Vorlagefrage nimmt über die Regelung des Art. 8 VO (EG) Nr. 141/2000 hinausgehend die gesamte Zielrichtung der Verordnung in den Blick. Anders als bei der reinen Betrachtung des Art. 8 der VO sprechen hier aus Sicht der Kammer Gründe dafür, die VO (EG) Nr. 141/2000 so auszulegen, dass sie dem Inhaber einer oder mehrerer indikationsspezifischer Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden eine zivilrechtliche Rechtsposition einräumt, die dieser gegen einen rechtswidrigen Eingriff Dritter in dieses Recht geltend machen kann.
41
aa) Dass die Verordnung grundsätzlich eine subjektive, einklagbare Rechtsposition vermittelt, ist jedenfalls mit Blick auf die Zulassungssituation in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte bereits etabliert. So hat das Gericht der Europäischen Union in der oben angeführten Entscheidung Laboratoires CTRS v. Kommission entschieden, dass der Inhaber eines Marktexklusivitätsrechts für ein „Orphan Drug“ gerichtlich gegen die Zulassungsbehörden vorgehen kann, wenn durch Umstände in der Zulassungssituation eine Beeinträchtigung seiner Marktexklusivität droht (s.o.).
42
Soweit für die hiesige Kammer ersichtlich hat der Gerichtshof der Europäischen Union noch nicht entschieden, ob die Marktexklusivität bei „Orphan Drugs“ im Rahmen des Zulassungsverfahrens ein subjektives Recht vermittelt. In diesem Kontext dürfte die ähnlich gelagerte Olainfarm-Entscheidung des Gerichtshofs zum Unterlagenschutz relevant sein (Urt. v. 23.10.2014, C-104/13, ECLI:ECLI:EU:C:2014:2316 – Olainfarm/Ministerium für Gesundheit der Republik Lettland). Dort nahm der Gerichtshof an, dass angesichts des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) jeder Person, die in einem durch das Unionsrecht garantierten Recht verletzt worden sei, das Recht zur Einlegung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelfs zustehe. Im konkreten Fall wurde entschieden, dass dem Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels, welches im Rahmen eines aufgrund von Art. 10 RL 2001/83/EG eingereichten Antrags auf Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen als Referenzarzneimittel verwendet wird, nach jener Vorschrift i. V. mit Art. 47 GrCh ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz in Bezug auf die Beachtung dieser Rechte offenstehen müsse. Er sei daher berechtigt, gegen die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums durch die zuständige Behörde mit einem Rechtsbehelf vorzugehen.
43
bb) Bei einer Gesamtschau der VO (EG) Nr. 141/2000 wird nach Auffassung der hiesigen Kammer deutlich, dass der Verordnungsgeber mit dem Marktexklusivitätsrecht bei „Orphan Drugs“ eine über die bloße Zulassungssituation hinausgehende Rechtsposition schaffen wollte. Insbesondere Erwägungsgrund 8 der Verordnung zeigt, dass das Marktexklusivitätsrecht maßgeblicher Anreiz für Investitionen im Bereich der „Orphan Drugs“ sein soll. Es soll eines der Elemente sein, mit denen die Verordnung die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Leiden dadurch fördern will, dass sich die in ihre Entwicklung getätigten Investitionen auch amortisieren lassen.
44
Gerade Fälle wie der vorliegende zeigen, dass diese Anreizwirkung durch Investitionsschutz nur gelingen kann, wenn (über die regulatorische Zulassungssituation hinaus) dem Inhaber des Rechts auch individueller Rechtsschutz gegen Beeinträchtigungen der Marktexklusivität durch Dritte eingeräumt wird. Denn eine Beeinträchtigung des Exklusivrechts kann sich auch durch Handlungen Dritter außerhalb der Zulassungssituation ergeben. Dabei sind nicht wenige Fallkonstellationen denkbar, in denen der Berechtigte auch nicht nach anderen Vorschriften gegen die Beeinträchtigung vorgehen könnte (hierzu sogleich sub (1)). Ohne Bejahung einer zivilrechtlichen Dimension des Marktexklusivitätsrechts wäre er dann de facto rechtlos gestellt. Dies widerspricht grundlegenden europarechtlichen Prinzipien wie dem effet utile sowie der Gewährleistung des Art. 47 GrCh (hierzu sogleich sub (2)) Auch weitere Erwägungen sprechen für die Einräumung einer subjektiven, zivilrechtlichen Rechtsposition (hierzu sogleich sub (3)).
45
(1) Die „Orphan Drug“ Markexklusivität bezieht sich nicht auf den eigentlichen Wirkstoff, sondern auf das jeweils zugelassene therapeutische Anwendungsgebiet des Wirkstoffs, also dessen Indikation. Werden daher für ein Arzneimittel nach und nach mehrere Anwendungsgebiete zugelassen, die unterschiedliche seltene Krankheiten betreffen, so wird jede dieser Indikationen separat durch den 10-jährigen Exklusivzeitraum geschützt. Für die Durchsetzung dieses Marktexklusivitätsrechts sind zunächst die europäischen und nationalen Arzneimittelbehörden zuständig: Ihnen ist es verboten, Zulassungsanträge für ähnliche Arzneimittel für dasselbe therapeutische Anwendungsgebiet des Referenzprodukts anzunehmen oder eine entsprechende Zulassung zu erteilen.
46
Dieses Schutzsystem weist aber dort Lücken auf, wo ein Dritter eine Zulassung für sein Arzneimittel für eine nicht geschützte Indikation erlangt, das Arzneimittel dann aber aufgrund von Umständen, die außerhalb des Zulassungsverfahrens liegen, ebenfalls für eine (eigentlich) geschützte Indikation verwendet wird oder werden kann. Der vorliegende Fall veranschaulicht, dass diese Gefahr vor allem dann droht, wenn ein Wirkstoff aus medizinischer Sicht besonders effektiv ist, weil er für mehrere verschiedene Indikationen gegen seltene Erkrankungen zugelassen ist. Läuft hier der „Orphan-Drug“-Schutz für eine oder mehrere dieser Indikationen aus, können Mitbewerber mit eigenen (generischen oder biosimilaren) Arzneimitteln für diese Indikationen auf den Markt treten. Hierbei ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Arzneimittel (beim Hinzutreten weiterer Umstände wie einem entsprechenden Verhalten des Mitbewerbers) auch indikationsübergreifend, also „off“- bzw. „cross-label“ (zum Begriff vgl. Hufnagel, GRUR 2014, 123) für die noch geschützten Indikationen genutzt werden können.
47
In diesem Szenario hätte der Inhaber der Marktexklusivitätsrechte für die noch geschützten Indikationen aber keine rechtliche Handhabe gegen diese Beeinträchtigung: Da die Ursache für die Beeinträchtigung seines Exklusivitätsrechts nicht durch eine fehlerhafte Zulassung des Produkts des Mitbewerbers gesetzt wird, kann er nicht gegen die Zulassungsbehörden vorgehen. Ein Vorgehen gegen den Mitbewerber nach zulassungsrechtlichen Vorschriften ist ebenfalls nicht erfolgreich, da dessen Produkt ordnungsgemäß zugelassen ist. Auch ein Vorgehen gegen den Mitbewerber nach heilmittelwerberechtlichen Vorschriften ist – je nach dem konkret vorwerfbaren Verhalten des Mitbewerbers – jedenfalls nicht in sämtlichen Konstellationen erfolgversprechend.
48
(2) Diese Schutzlücke in Kauf zu nehmen, würde den europarechtlichen Vorgaben insbesondere des effet utile sowie dem in Art. 47 GrCh normierten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuwiderlaufen.
49
Der Utilisationseffekt dient dazu, die (größtmögliche) praktische Wirksamkeit von EURechtsakten sicherzustellen. Europäische Vorschriften sollen ihren Sinn und Zweck vollständig entfalten können. Vorrang verdient danach bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten diejenige, die mit dem erkennbaren Vertragszweck harmoniert und am meisten zu seiner Erreichung beiträgt, also am ehesten der vollen Sinnentfaltung der Vorschrift dient (EuGH, Urt. v. 16.05.2002, C-63/00, ECLI:ECLI:EU:C:2002:296, BeckRS 2004, 77639, Rn. 24 – Land Baden-Württemberg v Günther Schilling and Bezirksregierung Lüneburg v Hans-Otto Nehring; Urt. v. 14.10.1999, C-223/98, ECLI:ECLI:EU:C:1999:500, NJW 2000, 2337, Rn. 24 – Adidas AG, jeweils m.w.N.). Art. 47 GrCh statuiert, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Art. 47 GrCh dient damit zum einen dem Schutz des Trägers von Rechten, die durch das Unionsrecht gewährt werden. Zum anderen dient er der Gewährleistung der Durchsetzung des Unionsrechts. Nur ein effektiver Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte kann die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherstellen (vgl. EuGH, Urt. v. 05.05.1996, C-46/93, ECLI:ECLI:EU:C:1996:79, Slg.1996, I-1029 Rn.72 – Brasserie du Pêcheur).
50
Entsprechend ist der von der VO (EG) Nr. 141/2000 ausweislich des Erwägungsgrunds 8 intendierte Investitionsschutz zu gewährleisten, besonders in Umgehungskonstellationen. Daher muss dem Inhaber eines Marktexklusivitätsrechts die Möglichkeit eröffnet sein, etwaige Beeinträchtigungen und Verletzungen des Rechts auch außerhalb der Zulassungssituation gerichtlich überprüfen zu lassen und gegen diese vorzugehen. Eine Charakterisierung des Marktexklusivitätsrechts als rein zulassungsrechtlich mit Wirkung lediglich im Verhältnis zwischen Inhaber und Zulassungsbehörden würde Umgehungen wie die oben dargestellte ermöglichen. Dies widerspräche dem Prinzip des effet utile und dem in Art. 47 GrCh statuierten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.
51
So ließe sich im Übrigen auch ein ausgewogener Ausgleich zwischen den Interessen des Berechtigten an seinem Investitionsschutz, dem Interesse seiner Mitbewerber an einem freien Wettbewerb sowie dem Interesse der Allgemeinheit an der Verfügbarkeit von kostengünstigen und effektiven Arzneimitteln sicherstellen. Dieses Spannungsverhältnis hatte der Verordnungsgeber bei Schaffung der „Orphan-Drug“-Verordnung bereits im Blick. So wird den Interessen der Mitbewerber und der Allgemeinheit vor allem mit den Beschränkungen der Marktexklusivität nach Art. 8 Abs. 2, 3 VO (EG) Nr. 141/2000 Rechnung getragen. Würde darüber hinaus in Sachverhaltskonstellationen wie der vorliegenden das 10-jährige Marktexklusivitätsrecht nicht hinreichend gewährt, hätte dies eine Verschiebung der interessengerecht austarierten Lösung der Verordnung einseitig zu Ungunsten Inhabers des Marktexklusivitätsrechts zur Folge. Das Marktexklusivitätsrecht stünde bloß auf dem Papier, es wäre eine Hülle ohne Inhalt. Dies würde jedoch das Regelungsziel der Verordnung gefährden.
52
(3) Für eine Annahme einer zivilrechtlich durchsetzbaren Rechtsposition aufgrund des Marktexklusivitätsrechts sprechen auch weitere Erwägungen.
53
Insbesondere ist sie nicht durch ein abschließendes System der Zulassung von Arzneimitteln auf EU-Ebene ausgeschlossen. Da die VO (EG) Nr. 141/2000 das System der Rechtsschutzmöglichkeiten nicht adressiert, verbietet sie zivilrechtlichen Rechtsschutz nicht.
54
Vielmehr spricht das in Erwägungsgrund 8 angesprochene Zusammenspiel mit den Regelungen über den Datenschutz nach Art. 4 Nr. 8, lit a) Ziff. iii) der RL 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneimittel ebenfalls für eine weitergehende Wirkung des Marktexklusivitätsrechts. Dem Verordnungsgesetzgeber war aufgrund der Erfahrungen in den USA und in Japan an der Einrichtung eines Marktexklusivitätsrechts gelegen, das über die bereits bestehenden Schutzmechanismen, namentlich den Unterlagenschutz, hinausging. Dieser sah zum Zeitpunkt des Erlasses der VO (EG) Nr. 141/2000 kein privatrechtlich durchsetzbares Recht vor. Der Unterlagenschutz wurde erst nach Erlass der VO (EG) Nr. 141/2000 erweitert, insbesondere indem ein Vermarktungsschutz aufgenommen wurde. Entsprechend zeigt die Bezugnahme im Erwägungsgrund 8 der VO (EG) Nr. 141/2000, dass dem Verordnungsgesetzgeber daran gelegen war, die Marktexklusivität weitreichender auszugestalten als den damaligen Unterlagenschutz. Dem entspricht es, dass die VO (EG) Nr. 141/2000 auch zivilrechtliche Rechtspositionen vorsehen sollte, um gegen Umgehungen des Marktexklusivitätsrechts vorzugehen.
55
Auch die Europäische Kommission versteht die Marktexklusivität nach der VO (EG) Nr. 141/2000 in diesem Kontext (Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Durchsetzung des Wettbewerbsrechts im Arzneimittelsektor (2009-2017), COM (2019) 17 final, S. 25):
„Marktexklusivität bedeutet, dass Generika frühestens zehn Jahre ab dem Tag der Zulassung des Originalpräparats in Verkehr gebracht werden und mit diesem konkurrieren dürfen. Bei OrphanArzneimitteln (d. h. Arzneimitteln für seltene Leiden) erstreckt sich das zehnjährige Marktexklusivitätsrecht auch auf das Inverkehrbringen ähnlicher Arzneimittel zur Behandlung derselben Erkrankung (d. h. sowohl auf Generika als auch auf Originalpräparate)“.
56
Etwas anderes folgt nicht aus den Vorgaben der RL 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, deren Regelungen zumindest zum Teil als vollharmonisierende Maßnahmen anzusehen sind (vgl. EuGH, Urt. v. 08.11.2007 – C 143/06, Slg 2007, I-9517-9568 – Gintec) und die im Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens (HWG) in nationales Recht umgesetzt wurde. Insoweit ist insbesondere das Werbeverbot für ungenehmigte Arzneien nach § 3a HWG / Art. 87 Abs. 1 der RL 2001/83/EG zu beachten. Es ist indes anerkannt, dass das Werbeverbot des § 3a HWG der Abwendung ernsthafter und schwerwiegender Gefahren für die öffentliche Gesundheit dient (Fritzsche in: Spickhoff, Medizinrecht, 4. Aufl. 2022, § 3a HWG Rn. 1 m.w.N.). Diese Fragen adressiert das Marktexklusivitätsrecht nicht, so dass der Anwendungsbereich der Richtlinie das oben genannte Verständnis des Marktexklusivitätsrechts und eine entsprechende Anwendung der „Orphan-Drug“-VO nicht ausschließt. In einer Situation, in der ein Werbeverbot nach den heilmittelwerberechtlichen Vorgaben tatbestandlich nicht erfüllt ist, kann es den Inhalt oder den Anwendungsbereich des Marktexklusivitätsrechts nicht begrenzen. Vielmehr gebietet der oben genannte effet utile, dass das Marktexklusivitätsrecht auch in dieser Situation eine Rechtsschutzmöglichkeit bieten können muss. Alles andere dürfte mit den Zielen des Marktexklusivitätsrechts nicht vereinbar sein. Entsprechend hat das Gericht der Europäischen Union in Sachen Laboratoires CTRS v. Kommission eine Umgehung des Marktexklusivitätsrecht auch bereits in einem Fall angenommen, in dem Art. 87 Abs. 2 der RL 2001/83/EG tatbestandlich nicht erfüllt war (s.o.).
57
c) Mit der dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die VO (EG) Nr. 141/2000 dahingehend auszulegen ist, dass sie die konkrete Ausgestaltung einer zivilrechtlichen Geltendmachung des Marktexklusivitätsrechts dem jeweiligen nationalen Recht überlässt.
58
Sollte der Gerichtshof zu der Einschätzung gelangen, dass sich die Rechtsfolgen bei einem Eingriff in das Marktexklusivitätsrecht aus dem nationalen Recht ergäben, könnten sich die Ansprüche des Inhabers im deutschen Recht beispielsweise nach den §§ 823 Abs. 1 und 1004 (analog) BGB richten. Diesen Ansatz hat die Kammer im Rahmen des Verfügungsverfahrens (s.o.) gewählt und stellt sich daran anschließend die Frage, ob die VO (EG) Nr. 141/2000 dahingehend auszulegen ist, dass sie bei einem rechtswidrigen Eingriff in das Marktexklusivitätsrecht dessen Inhaber einen Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB (analog) auf Beseitigung oder Unterlassung dieses Eingriffs gewährt. Dafür müsste in der Rechtsposition ein positives Nutzungsrecht enthalten sein, das dem Inhaber der Marktexklusivität zugewiesen ist und das er unter Ausschluss Dritter nutzen darf.
59
Die Regelung des § 823 Abs. 1 BGB ist Teil des Deliktsrechts. Sie regelt den Ausgleich für Schäden, die eine Person einer anderen widerrechtlich zufügt. Die Anwendbarkeit der Vorschrift setzt zunächst voraus, dass jemand eines der in der Vorschrift genannten Rechtsgüter eines anderen durch sein Handeln adäquat kausal und zurechenbar verletzt hat. § 823 Abs. 1 BGB schützt die Rechtsgüter Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum sowie sonstige Rechte. Die Vorschrift schützt nicht vor reinen Vermögensschäden. Um diese aus dem Anwendungsbereich auszuklammern, sollen „sonstige Rechte“ nur subjektive, absolute Rechte sein, also solche, die einen Zuweisungsgehalt und eine Ausschlussfunktion haben. Anerkannt ist dies z.B. für Immaterialgüterrechte wie das Patentrecht, das Markenrecht oder das Urheberrecht. Liegt eine Verletzung eines der durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgüter vor, ist insbesondere festzustellen, ob diese rechtswidrig ist.
60
Der verschuldensunabhängige Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch in § 1004 BGB findet unmittelbar nur bei einer Beeinträchtigung des Rechtsgutes Eigentum Anwendung. Es ist in der deutschen Rechtsprechung anerkannt, dass die Vorschrift analoge Anwendung findet für alle (auch über § 823 Abs. 1 BGB geschützten) absoluten Rechte und Rechtsgüter. Wird ein solches Recht widerrechtlich beeinträchtigt, bietet § 1004 BGB (analog) bei Wiederholung- oder Erstbegehungsgefahr einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch.
61
Der Kammer ist nicht bekannt, ob Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten Regelungen vorsehen, die §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB entsprechen. Entsprechend kann es sein, dass die zivilrechtliche Durchsetzbarkeit eines gegen Dritte schützenden Marktexklusivitätsrechts in den Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten auch anders ausgestaltet sein kann.
6. Vorlage zum jetzigen Zeitpunkt
62
Der Kammer ist bewusst, dass für sie keine Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Bei Ausübung ihres Ermessens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV hat sie jedoch insbesondere in den Blick genommen, dass nicht nur die Existenz, sondern auch die Ausgestaltung und Reichweite einer eventuellen zivilrechtlichen Rechtsposition Gegenstand der Vorlagefrage sind. Diese zu klären hat unmittelbaren Einfluss darauf, inwiefern und wie die Klägerin des hiesigen Rechtsstreits zu einer Verletzung des Rechts vortragen muss und wie sie ihre Klageanträge ausgestalten könnte und müsste. Da die Kammer gem. § 139 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) darauf hinwirken muss, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären und vor allem sachdienliche Anträge stellen, bedarf es der Klärung dieser Vorlagefragen bereits jetzt im Verfahren.