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AG München, Endurteil v. 18.10.2024 – 338 C 15281/24
Titel:

Keine Haftung bei unzureichender Eigensicherung des gestürzten Businsassen

Normenketten:
BGB § 254
StVG § 7, § 9
Leitsatz:
Ein Businsasse, der sich mit einer Hand an einem Handlauf festhält und seine andere Hand auf den mitgeführten Einkaufstrolley stützt, hat sich nicht ausreichend festen Halt verschafft; bei einem Sturz entfallen daher Ansprüche wegen überwiegenden Mitverschuldens (Rn. 22 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Bus, Sturz, Trolley
Fundstellen:
BeckRS 2024, 30715
LSK 2024, 30715
NJW-RR 2025, 287

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten und der Streithelferin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten bzw. die Streithelferin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 2.000,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Der am 10.11.1946 geborene und gemäß Schwerbehindertenausweis (Anlage K1) Schwerbehinderte Kläger macht Schmerzensgeldansprüche aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 11.04.2023 in München geltend.
2
Er befand sich als Fahrgast in einem Busanhänger der Linie 53 in Richtung Aidenbachstraße, welcher an einen Bus angehängt war. Der Beklagte zu 1 wechselte mit einem Leih-Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen … haftpflichtversichert bei der Beklagten zu 2, gegen 18:30 Uhr auf der Straße Donnersbergerbrücke auf die Rechtsabbiegerspur, auf welche der Bus kurz darauf ebenfalls wechselte, und bremste sodann infolge der nunmehr Rotlicht zeigenden Ampel. Aufgrund der Vollbremsung des Busses stürzte der Kläger.
3
Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1 habe mit seinem Pkw so knapp vor dem Bus die Fahrspur gewechselt, dass der Busfahrer kurz vor der Kreuzung zur Landsberger Straße eine Vollbremsung habe machen müssen, um die drohende Kollision zu vermeiden. Der Beklagte zu 1 habe dazu beschleunigt, um sich noch vor den Bus zu setzen. Auch der Bus sei mit unangemessener Geschwindigkeit gefahren, da er noch über die grüne Ampel habe fahren wollen. Der Kläger behauptet weiter, er habe Prellungen im Bereich der Brustwirbelsäule und des Beckens erlitten. Bei dem Versuch sich abzustützen sei zudem das Daumensattelgelenk überdehnt worden. Er habe 4 Wochen unter Schmerzen und schmerzhaften Bewegungseinschränkungen gelitten. Bis heute sei er nicht beschwerdefrei.
4
Der Kläger hat mit Klageerhebung der … für welche der Busfahrer, der Zeuge …, arbeitete, den Streit verkündet. Diese ist dem Rechtsstreit beigetreten, allerdings auf Seiten der Beklagten.
5
Der Kläger beantragt:
I.
6
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, einen Betrag i. H. v. 2.000,00 € jedoch nicht unterschreiten sollte nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 12.10.2023 zu zahlen.
II.
7
Die Beklagten werden ferner samtverbindlich verurteilt, als Nebenforderung an den Kläger die noch zu erstattenden außergerichtlichen Anwaltskosten i. H. v. 280,60 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
8
Die Beklagten und die Streithelferin beantragen,
die Klage abzuweisen.
9
Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 1 habe den Fahrstreifenwechsel rechtzeitig angekündigt. Er sei mit dem Fahrzeug in ausreichendem Abstand vor dem Bus gewechselt und habe sein Fahrzeug an der roten Ampel abgebremst. Ebenfalls bestreiten sie, dass der Kläger sich ausreichend Halt verschafft habe, dass er zum Unfallzeitpunkt gestanden habe, kein weiterer Platz im Bus frei gewesen sei und er um einen freien Platz gebeten habe, ihm ein solcher aber nicht gewährt worden sei. Die Mithaftung des Klägers wegen Verstoßes gegen § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraft, 4 Abs. 3 BefBedV wäre im Übrigen so hoch, dass eine Haftung der Beklagtenseite ausscheide. Die Beklagte bestreitet zudem, dass die behaupteten Beschwerden aus dem Unfall resultieren. Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten ergäbe sich, dass der Kläger unter degenerativen Erkrankungen in diesem Bereich bereits vor dem Unfall gelitten habe. Es sei davon auszugehen, dass bereits vor dem behaupteten Sturzereignis die behaupteten Beschwerden in diesen Bereichen vorhanden gewesen seien und diese nicht unfallkausal seien.
10
Die Streithelferin behauptet ebenfalls, dass der Kläger sich zum Zeitpunkt der Bremsung keinen festen Halt verschafft habe, da er in der rechten Hand seinen Einkaufstrolley gehalten habe und den linken Arm und die linke Hand lediglich locker auf einem im Bus angebrachten Handlauf gelegt habe. So seien die anderen Fahrgäste nicht gestürzt. Schließlich sei das angesetzte Schmerzensgeld zu hoch.
11
Das Gericht hat den Kläger und den Beklagten zu 1 persönlich informatorisch angehört. Des Weiteren hat es den Zeugen … vernommen.
12
In der Verhandlung wurden zudem die Videos von der Unfallsituation der Businnenkamera, welche als CD-ROM vorliegt, sowie der Buscockpitkamera, welche auf die Straße gerichtet ist und als Anhang zum Schriftsatz des Klägervertreters vom 27.6.24 in ForumStar gespeichert ist, in Augenschein genommen.
13
Die Akte der VPI VA2 München … wurde des Weiteren zum Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gemacht.
14
Der Klägervertreter hat auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang, sowie die Vernehmung des Zeugen … verzichtet.
15
Hinsichtlich des weiteren Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Parteien, die Beiakte und insbesondere die Videoaufnahmen.

Entscheidungsgründe

16
Die zulässige Klage ist unbegründet.
17
Grundsätzlich kommt zwar eine Gefährdungshaftung der Beklagten gemäß §§ 7 Absatz 1, 18 I StVG, 1 PfVG, 115 VVG gegenüber dem Kläger in Betracht.
18
Bei einem berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat, vgl. BGH, Urteil vom 22.11.2016 – VI ZR 533/15).
19
Vorliegend trug die Fahrweise des Beklagten zum Sturz des Klägers bei.
20
Denn auf dem übermittelten und in der Verhandlung eingesehenen Video aus dem Businnenraum ist ersichtlich, dass der Beklagte zu 1 nicht bei Beginn der ohnehin kurzen Abbiegespur, sondern erst danach auf diese wechselte und auch diesen Spurwechsel erst mit dem Beginn des Spurwechsels durch Betätigung des Blinkers ankündigte. Hierdurch dürfte sich der Bremsweg für den Busfahrer, den Zeugen …., verkürzt haben. Dieser dürfte aufgrund des Spurwechsels mit einer heftigeren Bremsung als – aufgrund der roten Ampel ohnehin nötig – reagiert haben.
21
§ 7 Abs. 5 StVO legt demjenigen, der einen Fahrstreifen wechseln will oder ihn auch nur teilweise verlässt, ein Höchstmaß an Sorgfaltspflicht auf. Unerheblich ist insofern, ob der Fahrstreifenwechsel schon vollständig vollzogen war. Nach § 7 V StVO ist nicht nur jedes behindernde oder gefährdende Wechseln untersagt, sondern jedes, bei welchem fremde Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVO § 7 Rn. 21).
22
Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da den Kläger nach hiesiger Auffassung ein 100-prozenti- ges Mitverschulden im Sinne der §§ 9 StVG, 254 BGB trifft, wodurch die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zurücktritt.
23
So ist jeder Fahrgast verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen, vergleiche § 14 Abs. 3 Nummer 4 BOKraft.
24
Die Vorschrift dient dem Schutz der Fahrgäste. Sie will sie insbesondere davor bewahren, dass sie bei Gefahrenbremsungen zu Fall kommen und sich verletzen, hat aber haftungsrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung, vgl. Häberle in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Werkstand: 252. EL Juni 2024, Rn 16.
25
Hierbei kommt es bei jedem einzelnen Fahrgast wiederum auf die individuellen Besonderheiten und Gegebenheiten an, die im Zeitpunkt des vorgenommenen Bremsmanövers vorlagen (vgl. hierzu: OLG München, NZV 2006, 477).
26
Den Beklagten ist insoweit der Beweis gelungen, dass der Kläger vorliegend nicht in zumutbarer Weise für die eigene Sicherheit sorgte.
27
Die klägerseits eingenommene stehende Position war nicht geeignet, um bei einer Bremssituation gesichert zu sein.
28
Vorliegend zeigt das in der Verhandlung eingesehenen Video der Businnenkamera, dass der Kläger sich lediglich mit der linken Hand an dem Handlauf festhielt und seine rechte Hand auf dem mitgeführten Einkaufstrolley ruhte. Der Kläger bestätigte nach anfänglichem Bestreiten auch, dass das Video die Unfallsituation wiedergibt.
29
Bei der vom Kläger gewählten Position handelt es sich nicht um einen stabilen Stand, wie die Richterin in einem Selbstversuch ausprobierte. Die Stabilisierung mit der linken Hand ist zu schwach, um ruckartige Bremsungen auszugleichen. Der Trolley bietet keinen Halt, da er selbst bei der Vollbremsung herumgewirbelt wird, wie auf dem Video zu sehen ist. Der Trolley stellte eher eine Behinderung dar, weil der Kläger ihn auch während des Sturzes nicht losließ und sich daher auch mit der rechten Hand keinen festen Halt suchte.
30
Dies zeigt sich auch daran, dass keine anderen Passagiere im Rahmen der Vollbremsung stürzten, soweit auf den eingesehenen Videos der Businnenkamera zu sehen ist. Vielmehr hielt sich beispielsweise die ältere Dame, welche einen der Sitzplätze direkt hinter dem Kläger belegt hatte, an der dortigen Stange fest und rutschte (im Gegensatz zu ihrer Tasche) nicht von ihrem Sitz.
31
So ist dem Kläger – auch aufgrund seines Alters und des Mitführens des Trolleys – vorzuwerfen, dass er sich nicht hingesetzt hat.
32
Wie auf dem Video zu sehen ist, waren ausreichend Sitzplätze vorhanden, auch wenn der Kläger das Gegenteil behauptete. Direkt hinter dem Kläger war beispielsweise ein Sitzplatz frei, welcher überdies eine Haltestange zum Festhalten geboten hätte. Hier hätte der Kläger sich hinsetzen können und gleichfalls seinen Trolley neben oder vor sich positionieren können. So war der Kläger zum Unfallzeitpunkt 76 Jahre alt und schwerbehindert, vergleiche Anlage K1, wenn diese Schwerbehinderung auch – gemäß eigener Aussage – auf Asthma beruht.
33
Es handelt sich hier auch nicht um eine völlig überraschende – wenn auch heftige – Vollbremsung, da im Stadtverkehr regelmäßig mit heftigen Bremsungen gerechnet werden muss. Hinzu kommt, dass der Bus unstreitig bereits ca. 50 m vorher leicht gebremst hatte, wodurch der Kläger hätte feststellen können, dass seine Position ungenügenden Halt verschaffte.
34
Der Kläger wäre auch in der Lage gewesen, die Situation richtig einzuschätzen, da er geistig fit wirkte.
35
Der Klägervertreter verzichtete im Übrigen auf die Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens und die Vernehmung des Zeugen … Dieses war auch nicht von Amts wegen einzuholen.
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Das grob fahrlässige Verhalten des Klägers lässt die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zurücktreten.
37
Die Nebenforderungen teilen das Schicksal der Hauptforderung.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 101 ZPO; die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nummer 11, 711 ZPO.
39
Der Streitwert beruht auf der Hauptforderung.