Titel:
Dublin-Verfahren (Zuständigkeit nach abgeschlossenem Asylverfahren in Italien)
Normenketten:
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, UAbs. 3, Art. 18 Abs. 1 lit. d, Abs. 2 UAbs. 3, Art. 19
Asylverfahrens-RL Art. 40 Abs. 1, Abs. 7, Art. 41
Aufnahme-RL Art. 20
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsätze:
1. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO ist nicht anwendbar, wenn der Drittstaatsangehörige gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO von dem Mitgliedstaat wieder aufgenommen werden muss, der seinen ersten Asylantrag inhaltlich geprüft und abgelehnt hat. (Rn. 21 – 25)
2. In diesem Fall hat das Bundesamt bei der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nur im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG zu prüfen, ob sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention oder der Grundrechte-Charta ergibt, dass die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den zuständigen Mitgliedstaat unzulässig ist. (Rn. 25)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Abgeschlossenes Asylerstverfahren in Italien, Prüfungsmaßstab, Abschiebungsverbote., unzulässiger Asylantrag, Folgeantrag, Übergang der Zuständigkeit, "forum shopping", Selbsteintritt, Abschiebungsverbot, Abschiebungsanordnung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 18.12.2023 – RO 15 K 23.50792
Fundstellen:
InfAuslR 2025, 218
BeckRS 2024, 30439
LSK 2024, 30439
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten hin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 18. Dezember 2023 – RO 15 K 23.50792 – in seinen Nummern II und III aufgehoben und in seiner Nummer I dahingehend abgeändert, dass der Bescheid der Beklagten vom 15. November 2023 in seinen Nummern 3 und 4 aufgehoben wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt 2/3 und die Beklagte 1/3 der Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) seinen Asylantrag als unzulässig abgelehnt hat, da die Italienische Republik (im Folgenden: Italien) für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens zuständig sei.
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Er ist tunesischer Staatsangehöriger, reiste am 16. Juni 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.
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Eine Eurodac-Abfrage ergab einen Treffer für Italien (IT1TP* … für Trapani vom 14.2.2023). Daraufhin stellte das Bundesamt am 9. August 2023 ein Übernahmeersuchen an Italien, das die italienischen Behörden nicht beantworteten.
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Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt zur Klärung der Zulässigkeit des Asylantrags gab der Kläger an, dass er vier Monate in Italien und dort sowohl auf dem Bau als auch in der Landwirtschaft illegal beschäftigt gewesen sei. Sein Asylantrag sei dort abgelehnt worden. Er habe keine Arbeit und wolle in Deutschland bleiben.
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Nachdem der Kläger zwischenzeitlich untergetaucht war, lehnte das Bundesamt seinen Antrag mit Bescheid vom 15. November 2023 als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Nr. 2) und ordnet die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). In Nummer 4 wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zugleich teilte das Bundesamt den italienischen Behörden mit, dass die Überstellungsfrist wegen Untertauchens des Klägers bis 24. Februar 2025 verlängert sei.
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Dem gegen den Bescheid erhobenen Eilantrag gab das Verwaltungsgericht Regensburg mit Beschluss vom 30. November 2023 statt. Auf die Klage hin hob das Verwaltungsgericht den Bescheid vom 15. November 2023 mit Urteil vom 18. Dezember 2023 vollumfänglich auf. Die Bundesrepublik Deutschland sei für die Bearbeitung des Asylantrags nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO zuständig geworden. Italien nehme gemäß den Verlautbarungen vom Dezember 2022 bis heute keine Asylbewerber im Dublin-Verfahren zurück. Dies stelle eine unmenschliche Behandlung dar, da der Kläger dadurch zum Spielball politischer Interessen werde. Zum anderen sei die Zuständigkeit nach Art. 17 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik übergegangen, denn eine Rückführung sei auf unabsehbare Zeit nicht möglich. Aus dem Beschleunigungsgrundsatz der Dublin-Vorschriften ergebe sich eine Pflicht zum Selbsteintritt.
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Mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, der Bescheid sei rechtmäßig. Es drohten keine unmenschlichen Zustände. Das Bundesverwaltungsgericht habe festgestellt, dass kein Zuständigkeitsübergang erfolge, wenn der zuständige Mitgliedstaat sich weigere, die betreffenden Personen zurückzunehmen, sondern es müsse dann untersucht werden, welche Lebensbedingungen bei einer hypothetischen Rückkehr drohten. Es bestehe auch keine Pflicht zum Selbsteintritt.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der im Berufungsverfahren nicht anwaltlich vertretene Kläger hat persönlich geltend gemacht, dass er in Deutschland bleiben wolle.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Instanzen sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Die Nummern 1 und 2 des Bescheids vom 15. November 2023 sind in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes – AsylG – i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54), für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Asylantrag des Klägers ist zu Recht als unzulässig abgelehnt worden (I.). Auch Abschiebungsverbote hinsichtlich Italiens bestehen nicht (II.). Folglich war die Berufung insoweit zurückzuweisen. Jedoch ist die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids und infolgedessen auch das in Nummer 4 verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtswidrig (IV.). Insoweit war der Bescheid aufzuheben.
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Die Beklagte hat den Asylantrag in Nummer 1 des Bescheids zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG abgelehnt, denn Italien ist für die Wiederaufnahme und die Prüfung möglicher weiterer Asylanträge des Klägers zuständig.
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1. Die Zuständigkeit Italiens für die Wiederaufnahme ergibt sich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl Nr. L 180 S. 31) – Dublin III-VO. Hiernach (vorliegend i.V.m. Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO) ist der Mitgliedstaat, der den ersten Asylantrag abgelehnt hat, verpflichtet, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen wiederaufzunehmen, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder sich dort ohne Aufenthaltstitel aufhält. Nach Art. 40 Abs. 7 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl Nr. L 180 S. 60) – Verfahrensrichtlinie prüft der nach der Dublin III-Verordnung zuständige Mitgliedstaat auch weitere Angaben oder Folgeanträge. Einer Prüfung der Zuständigkeitskriterien, insbesondere der Kriterien nach Kapitel III der Dublin III-VO bedarf es im Falle eines Wiederaufnahmeverfahrens nicht (vgl. Hruschka in Dörig/Hocks, Münchener Anwaltshandbuch Migrations- und Integrationsrecht, 3. Aufl. 2024, § 18 Rn. 73 mit Hinweis auf EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – juris Rn. 58 ff.).
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2. Die Zuständigkeit Italiens ist nicht nach Art. 19 Dublin III-VO entfallen, denn weder hat ein anderer Mitgliedstaat dem Kläger einen Aufenthaltstitel erteilt (Art. 19 Abs. 1 Dublin III-VO) noch hat der Kläger das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verlassen (Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 und Abs. 3 UAbs. 1 Dublin III-VO). Ebenso ist die Bundesrepublik Deutschland nicht gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden, da das Wiederaufnahmegesuch innerhalb der Frist des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO gestellt worden ist. Auch ein Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO ist nicht erfolgt, denn die Überstellungsfrist ist noch nicht abgelaufen, da das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. November 2023 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 15. November 2023 angeordnet hat und zu diesem Zeitpunkt noch keine sechs Monate seit der (fiktiven) Annahme des Wiederaufnahmegesuchs nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO abgelaufen waren.
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3. Die Zuständigkeit für die Durchführung eines (weiteren) Asylverfahrens für den Kläger ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Weder liegen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 1 Dublin III-VO (unten a)) noch die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO (unten b)).
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a) Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 1 Dublin III-VO findet vorliegend bereits deshalb keine Anwendung, da von der Beklagten kein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staats i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO nach den Kriterien des Kapitel III durchgeführt werden musste (vgl. EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – juris Rn. 67; so wohl auch Schlussanträge des Generalanwalts v. 27.6.2024 im Verfahren C-123/23 – juris Rn. 44, wo ein Zuständigkeitsübergang nach dieser Vorschrift nicht erwähnt wird).
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Art. 3 Dublin III-VO regelt im Zusammenspiel mit Art. 20 ff. Dublin III-VO das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Nach Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO wird ein solches Verfahren eingeleitet sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Dieser Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Italien) hat gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO anhand der Kriterien des Kapitels III den zuständigen Staat zu bestimmen. Dieser Vorgang führte offensichtlich dazu, dass Italien sich als zuständig angesehen, das Asylverfahren für den Kläger durchgeführt und über seinen Antrag endgültig abschlägig entschieden hat.
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Ein weiteres Verfahren – nun durch die Beklagte – zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats i.S.d. Art. 3 Dublin III-VO nach Kapitel III der Dublin III-VO ist daher nicht einzuleiten, denn es steht fest, dass Italien den Kläger gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO zurücknehmen muss, selbst wenn er keinen weiteren Asylantrag stellt (vgl. EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – juris Rn. 58 ff.; vgl. Hruschka a.a.O.; Vogt/Nestler, NVwZ 2019, 859).
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b) Die Beklagte ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO zuständig geworden, denn der Asylantrag des Klägers ist in Italien nicht mehr anhängig, sondern nach seinen Angaben endgültig abgelehnt worden und der Kläger hat in Italien auch keinen Folgeantrag gestellt.
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Voraussetzung für die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO ist, dass es sich bei dem Betreffenden um einen Antragsteller i.S.d. Art. 2 Buchst. c Dublin III-VO handelt über dessen Antrag auf internationalen Schutz i.S.d. Art. 2 Buchst. b Dublin III-VO i.V.m. Art. 2 Buchst. h Anerkennungsrichtlinie der erste Mitgliedstaat noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, denn sonst ist kein Asylverfahren anhängig, dessen systemische Schwachstellen und Mängel geprüft werden können. Ob Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO anwendbar ist, wenn über den ersten Asylantrag noch keine inhaltliche Entscheidung, sondern nur eine Unzulässigkeitsentscheidung i.S.d. Art. 33 Verfahrensrichtlinie getroffen worden ist (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts v. 13.6.2024, C-134/23 – juris Rn. 70 mit Hinweis darauf, dass nach Art. 2 Buchst. e Verfahrensrichtlinie eine bestandskräftige Entscheidung nur eine Entscheidung in der Sache ist) oder wenn der Betreffende schon einen Folgeantrag in dem zuständigen Mitgliedstaat gestellt hat, kann hier offen bleiben, denn ein solcher Fall liegt nicht vor.
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aa) Nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn wegen Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO keine Überstellung in den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann. Dies setzt nicht nur voraus, dass in dem ersten Mitgliedstaat ein Antrag gestellt wurde, sondern auch, dass der Antrag noch anhängig ist und damit in diesem Mitgliedstaat ein Asylverfahren durchzuführen ist, das auf Schwachstellen und systemische Mängel geprüft werden kann. Ein Antrag, wie er in Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO genannt wird, liegt schon sprachlich nur solange vor, wie er noch nicht endgültig entschieden ist. Außerdem setzt ein Antrag einen Antragsteller voraus. Ist das erste Asylverfahren endgültig abgeschlossen, ist der Kläger jedenfalls in Bezug auf Italien nach Art. 2 Buchst. c letzter Halbsatz Dublin III-VO kein Antragsteller mehr, für dessen Antrag i.S.v. Art. 2 Buchst. b Dublin III-VO nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO ein anderer Mitgliedstaat zuständig werden könnte. Dies wird auch durch die Formulierung in Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO erkennbar, die – anders als Art. 18 Abs. 1 Buchst. a und b Dublin III-VO – nicht von einem Antragsteller spricht, sondern von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde. Ein Bezug zu möglichen Folgeanträgen nach Art. 2 Buchst. q Verfahrensrichtlinie wird in Art. 3 Dublin III-VO nicht hergestellt, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Vorschrift auch auf Personen anwendbar ist, die potentiell einen Folgeantrag stellen könnten.
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bb) Auch aus der Gesetzessystematik ergibt sich, dass die Prüfung von systemischen Mängeln im Fall des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO nicht vorgesehen ist, wenn das Antragsverfahren im ersten Mitgliedstaat bereits negativ abgeschlossen.
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Die Besonderheiten zum Erlöschen der Pflicht zur Wiederaufnahme nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO und damit einhergehender Übertragung der Zuständigkeit auf einen anderen Mitgliedstaat sind ausdrücklich in Art. 19 Dublin III-VO geregelt. Damit wird deutlich, dass eine Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO anderen Regularien unterliegt als die Zuständigkeitsprüfung nach den Kriterien des Kapitels III oder der allgemeinen Kriterien in Art. 3 Dublin III-VO für ein erstes Asylverfahren. Nach Art. 19 Abs. 1 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf einen Mitgliedstaat über, der dem Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel erteilt und es wird ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ausgelöst, wenn der Betreffende gemäß Art. 19 Abs. 2 und 3 Dublin III-VO das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat. Dass ein solcher Zuständigkeitsübergang auch erfolgen soll, wenn in dem nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. c und d Dublin III-VO für die Wiederaufnahme zuständigen Staat, in dem der Drittstaatsangehörige noch gar keinen weiteren Asylantrag gestellt hat, systemische Mängel des potentiellen Folgeverfahrens oder eine Verletzung der in Art. 18 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO genannten Pflichten drohen, ist dort nicht angelegt.
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cc) Auch Sinn und Zweck der Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO spricht dafür, ihn nicht auf den Fall des Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO anzuwenden. Mit dieser Vorschrift soll sichergestellt werden, dass die Asylantragsteller möglichst rasch die Möglichkeit eines ordnungsgemäß durchzuführenden Asylverfahrens erhalten (Erwägungsgrund 5 und 21 zur Dublin III-VO). Das ist in einem Mitgliedstaat, dessen Asylverfahren oder Aufnahmebedingungen i.S.d. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO an systemischen Mängeln leiden, nicht gewährleistet ist. Ein Bezug zu Folgeantragsverfahren i.S.v. Art. 2 Buchst. q, Art. 40 Abs. 1 und Abs. 7 Verfahrensrichtlinie wird in Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aber nicht hergestellt und im Falle eines schon endgültig abgeschlossenen ersten Asylverfahrens, ist dieser Belang auch nicht mehr von so großem Gewicht. Der abgelehnte Asylbewerber ist nach dem negativen Abschluss des Asylverfahrens grundsätzlich ausreisepflichtig und muss in sein Heimatland zurückkehren. Im zuständigen Mitgliedstaat kommt er nach Ablehnung seines Erstantrags regelmäßig nicht mehr in den Genuss der Aufnahmebedingungen gemäß der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl Nr. L 180 S. 96) – Aufnahmerichtlinie. Diese gilt nach ihrem Art. 3 Abs. 1 nur, solange Drittstaatsangehörige und Staatenlose als Antragsteller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbleiben dürfen. Entzieht sich der Betreffende nach dem negativen Abschluss des ersten Asylverfahrens der Abschiebung in sein Heimatland, indem er in einen anderen Mitgliedstaat ausreist und dort einen weiteren Asylantrag stellt, ist er nicht in gleichem Maße schutzbedürftig, wie ein Asylantragsteller, der zwar ebenfalls in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, aber bei dem das erste Asylverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist. Ein solches Weiterreisen in andere Mitgliedstaaten und Einreichen weiterer Asyl(folge) anträge stellen ein unerwünschtes „forum shopping“ dar (vgl. EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17 und C-583/17 – juris Rn. 77; s.a. BayVGH, U.v. 9.1.2024 – 24 B 23.30372 – juris Rn. 24). Im Falle eines weiteren Asylantrags in einem anderen als dem für die Prüfung des Erstantrags zuständigen Mitgliedstaat ist es daher ausreichend, allein bei der stets erforderlichen Prüfung, ob dem Betreffenden im Zielstaat der Abschiebung eine Verletzung von Art. 4 GRCh droht (vgl. EuGH, U.v. 30.11.2023 – C-254/21 – Rn. 138; U.v. 16.2.2017 – C-578/16 – Rn. 90 ff.), bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder dem Erlass der Abschiebungsanordnung zu prüfen, ob eine Rückkehr für den individuell Betroffenen zumutbar ist oder ob eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRCh droht.
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Es besteht auch nicht die Gefahr, dass der Betreffende zu einem sogenannten „refugee in orbit“ wird, denn der Zuständigkeitsübergang wegen Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO findet auch auf den vorliegenden Fall Anwendung. Damit ist sichergestellt, dass der in Deutschland gestellte Asylantrag bei einem Scheitern der Überstellung nach Italien gleichwohl einer Prüfung zugeführt wird. Ob dann § 71a AsylG Anwendung finden kann oder ein neues Asylverfahren durchgeführt werden muss, kann dabei offenbleiben (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts v. 27.6.2024 im Verfahren C-123/23 – juris Rn. 76 unter Hinweis auf die Auffassung der Europäischen Kommission).
27
4. Die Beklagte ist entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nicht nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden. Ungeachtet der Frage, ob bzw. unter welchen Umständen die Beklagte zum Selbsteintritt verpflichtet sein kann (dazu siehe unten Rn. 31 ff.), ist die Zuständigkeit mangels einer Erklärung des Selbsteintritts durch die Beklagte nicht auf diese übergegangen.
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a) Das Selbsteintrittsrecht des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ermöglicht jedem Mitgliedstaat, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen. Auf diese Weise sollen die Mitgliedstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien abweichen können (17. Erwägungsgrund zur Dublin III-VO). Der EuGH geht davon aus, dass jeder Dublin-Staat sehr frei ist, gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO den Selbsteintritt zu erklären, und dies aus solidarischen, politischen, humanitären oder praktischen Gesichtspunkten erfolgen kann (EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-56/17 – juris Rn. 53).
29
b) Der Übergang der Zuständigkeit gemäß Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-VO setzt nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO einen Beschluss des Mitgliedsstaats voraus, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz selbst zu prüfen. Eine solche Entscheidung des Mitgliedstaats ist zwar nicht formgebunden und muss auch nicht ausdrücklich ergehen (vgl. EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-56/17 – juris Rn. 51 zu Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO; das dürfte auf Art. 17 Dublin III-VO übertragbar sein; s.a. Vollrath in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.7.2024, Art. 17 Dublin III-VO Rn. 2). Notwendig ist aber zumindest ein konkludentes Verhalten, das als eine solche Entscheidung ausgelegt werden kann. Maßgeblich ist insoweit das Verhalten der nach nationalem Recht zuständigen Behörde.
30
In der Bundesrepublik Deutschland ist die zuständige Behörde das Bundesamt. Dies ist zwar nicht ausdrücklich geregelt, ist aber Folge des in § 5 AsylG zum Ausdruck kommenden umfassenden Entscheidungsmonopols des Bundesamts für Asylanträge (vgl. hierzu Pelzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht § 5 AsylG Rn. 5 ff.; s.a. VG Düsseldorf, B. v. 29.5.2017 – 12 L 1477/17 – juris Rn. 17; Barden in Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021, Rn. 452; zur „Gesamtzuständigkeit“ des Bundesamts im Dublin-Verfahren HessVGH, B.v. 4.9.2023 – 3 D 1144/23 – juris Rn. 10). Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass das Bundesamt ausdrücklich oder auch nur konkludent eine Entscheidung zum Selbsteintritt getroffen hat.
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5. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil das Bundesamt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-VO verpflichtet und deshalb am Erlass bzw. an der Aufrechterhaltung einer hiermit unvereinbaren Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gehindert wäre.
32
a) Ungeachtet der Frage, ob sich ein Anspruch des Klägers auf einen Selbsteintritt mit Blick auf den Zweck des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO und das dort eingeräumte weite Ermessen (vgl. EuGH Urt. v. 30.11.2023 – C-228/21 u.a., juris Rn. 146) überhaupt unmittelbar aus dieser Norm oder erst im Zusammenwirken mit entsprechenden Handlungspflichten der Mitgliedstaaten auf Basis ihrer nationalen Rechtsordnungen ergeben kann (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2023 – C-745/21 – juris Rn. 54), würde ein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf Selbsteintritt das Vorliegen besonders gravierender und atypischer Umstände des Einzelfalls voraussetzen, die sich überhaupt erst zu einem Anspruch verdichten könnten.
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Dass ein solcher Anspruch nur in ganz speziellen Ausnahmefällen in Betracht kommen kann, verdeutlicht nicht nur Erwägungsgrund 17 zur Dublin III-Verordnung, der zwar Härtefälle als Grund für eine Eintrittsmöglichkeit beschreibt, aber selbst hierfür keine Pflicht zum Selbsteintritt erkennen lässt. Auch nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) ist es Sache des betreffenden Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis, die durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung eingeräumt wird, Gebrauch machen möchte (EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 59). Die Bandbreite der insoweit zulässigen Gründe ist groß: Neben politischen, humanitären oder auch praktischen Erwägungen (vgl. EuGH Urt. v. 30.11.2023 – C-228/21 u.a., juris Rn. 146; EuGH, U.v. 16.2.2023 – C-745/21 – juris Rn. 50; EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 58) kann auch eine Überlastung des Asylsystems aufgrund von Massenfluchtsituationen in einem Mitgliedstaat Grund für einen Selbsteintritt anderer Mitgliedstaaten sein (vgl. EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-646/16 – juris Rn. 100; Hruschka in Dörig/Hocks, Münchener Anwaltshandbuch Migrations- und Integrationsrecht, 3. Aufl. 2024, § 18 Rn. 183, 186). Spiegelbildlich zum sehr weiten Ermessen kann daher dessen Verdichtung auf nur eine einzige Entscheidungsmöglichkeit hin – den Selbsteintritt – allenfalls nur unter außergewöhnlichen und schwerwiegenden Umständen eintreten. Dieser Wertung entspricht es wiederum, wenn der Gerichtshof annimmt, dass (bloße) Erwägungen des Kindeswohls einen Mitgliedstaat nicht dazu verpflichten können, von dieser Befugnis zum Selbsteintritt Gebrauch zu machen und einen Antrag, für den er nicht zuständig ist, selbst zu prüfen (EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 71).
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b) Derartige besondere und atypische Umstände sind vorliegend für den Kläger nicht ersichtlich und wurden auch nicht vorgetragen. Seine Situation ist letztlich typische Folge der Anwendung der bestehenden Vorschriften der Dublin III-Verordnung und weist keine Besonderheiten auf. Es ist bereits nicht erkennbar, dass noch vor dem Anlaufen oder Ablaufen der Überstellungsfristen eine Verletzung von Rechten des Klägers zu befürchten wäre, die in ihrer Gesamtgewichtung ein Anknüpfungspunkt für eine Selbsteintrittspflicht sein könnten. Insbesondere stellt die Verweigerung der Aufnahme des Klägers durch Italien keine Verletzung des Art. 4 GRCh dar (vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – zur Veröffentlichung vorgesehen Rn. 22 ff.). Darüber hinaus ist gerade nicht erkennbar, dass eine – hier ohnehin nicht vorliegende – Verletzung von Rechten des Klägers allein durch eine Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Bundesgebiet vermieden werden könnte. Dies wäre aber ebenfalls eine notwendige Voraussetzung, um in Betracht ziehen zu können, dass die Beklagte zur Ausübung des Selbsteintritts (und nicht eines anderen Mittels, etwa lediglich das Unterlassen einer Überstellung) verpflichtet sein könnte (vgl. Kabis in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 29 AsylG Rn. 12). Insgesamt sind im vorliegenden Fall keine Umstände erkennbar, die es dem Kläger unzumutbar machen würden, den Ablauf der Überstellungsfrist abzuwarten.
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Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen ebenso wenig wie ein individuelles Überstellungsverbot nach Art. 4 GRCh, das ungeachtet des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO zu prüfen ist (vgl. EuGH Urt. v. 30.11.2023 – C-254/21 – Rn. 138; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 – Rn. 90 ff.).
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1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Diese Vorschrift erfasst Abschiebungsverbote, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen, soweit sie ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Mit Blick auf den Zweck der Konvention (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 8) kommt als ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot meist nur die Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in Betracht. Bei der Prüfung, ob eine Art. 3 EMRK bzw, Art. 4 GRCh widersprechende Behandlung als Folge schlechter Lebens- und Rückkehrbedingungen droht, kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die Aufnahmebedingungen im Lichte der jeweils individuellen Umstände und persönliche Besonderheiten der konkreten Klagepartei im Falle seiner Rückkehr auswirken werden (vgl. näher BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 46 ff. und BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 41 ff.).
37
Vorliegend ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist weder ersichtlich noch wurde vorgetragen, dass besondere individuelle Umstände vorliegen, die in seinem konkreten Fall dazu führen, dass im Falle seiner Rückkehr nach Italien eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinreichend wahrscheinlich erscheint und die Feststellung eines Abschiebungshindernisses erfordert.
38
Schwachstellen während der Durchführung von Folgeverfahren in Italien sind den herangezogenen Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen. Wahrscheinlich droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Italien die Anordnung zur Außerlandesbringung und Schubhaft in einem Abschiebezentrum (sog. CPR – Centro di Permanenza per il Rimpatrio; vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 30; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien, Version 5, Seite 5 oben; AIDA, Country Report Italy 2022, S. 105). Das ist aber keine Schwachstelle, sondern folgerichtig, da er flüchtig war und sich der Abschiebung in sein Heimatland durch die Weiterreise in die Bundesrepublik Deutschland entzogen hat. Es ist weder geltend gemacht noch ersichtlich, dass Italien sich nicht an die entsprechenden europarechtlichen Vorgaben zur Inhaftierung von ausreisepflichtigen Personen halten würde oder unmenschliche Haftbedingungen drohen könnten.
39
Selbst wenn entweder der in Deutschland gestellte Asylantrag als Folgeantrag anzusehen wäre, obwohl keinerlei Umstände dazu vorgetragen worden sind, weshalb das Verfahren gemäß Art. 40 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie wiederaufzunehmen sein könnte oder der Kläger nach seiner Ankunft in Italien umgehend einen Folgeantrag stellen würde, ist nicht ersichtlich, dass während dieses Verfahrens eine unmenschliche Behandlung droht. Folgeverfahren werden in Italien im beschleunigten Verfahren durchgeführt und es muss grundsätzlich innerhalb von fünf Tagen entschieden werden, wenn keine neuen Umstände vorgebracht werden (vgl. AIDA a.a.O., S. 106). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach Art. 41 Verfahrensrichtlinie vom Erwerb eines Bleiberechts im Falle einer Folgeantragstellung Ausnahmen möglich sind und nach Art. 20 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. c Aufnahmerichtlinie während des Folgeverfahrens ein vollständiger Entzug der Leistungen gemäß der Aufnahmerichtlinie zulässig ist. Es kann daher grundsätzlich keine unmenschliche, nicht hinzunehmende Behandlung darstellen, wenn Italien von diesen Möglichkeiten Gebrauch macht (vgl. AIDA a.a.O. S. 106 f.). Zudem ist auch weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dem Kläger die Mindestleistungen nach Art. 20 Abs. 5 Aufnahmerichtlinie verwehrt würden oder die Garantien des Art. 14 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl Nr. L 348 S. 98) – Rückführungsrichtlinie – in Italien nicht eingehalten würden.
40
Im vorliegenden Fall erscheint es darüber hinaus auch materiell gerechtfertigt, dem Kläger ein Bleiberecht und materielle Aufnahmeleistungen in Italien zu verwehren. Der Kläger hat Italien verlassen und ist illegal nach Deutschland eingereist. Er hat beim Bundesamt keinerlei Umstände oder neue Tatsachen vorgetragen, die es für möglich erscheinen lassen, dass ein in Italien zu bescheidender Folgeantrag gemäß Art. 40 Abs. 2 i.V.m. Art. 33 Abs. 2 Buchst. d Verfahrensrichtlinie als zulässig angesehen werden könnte,
41
2. Umstände, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG möglich erscheinen ließen, sind weder dargelegt noch ersichtlich.
42
Selbst wenn Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 i.V.m. UAbs. 3 Alt. 2 Dublin III-VO im vorliegenden Fall anwendbar wäre, würde dies zu keinem anderen Ergebnis führen, denn es ist nicht ersichtlich, dass dessen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen würden. Der Kläger hat keinerlei Umstände vorgetragen, die für systemische Schwachstellen im Zuge der Durchführung eines Folgeverfahrens in Italien sprechen und die zu einer unmenschlichen Behandlung führen könnten. Es obliegt aber ihm, substantiiert dazu vorzutragen, dass die Vermutung, die Behandlung der Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, stehe in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, erschüttert ist (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 43 ff.; s.a. für den Fall der bereits erfolgten Schutzgewährung durch einen Mitgliedstaat BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – juris Rn. 23 ff.). Schwachstellen im italienischen Folgeantragsverfahren sind auch den Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (s.o. Nr. II).
43
Im Übrigen würde auch die Weigerung Italiens, den Kläger zurückzunehmen, nicht zu einem Zuständigkeitsübergang führen, da es sich dabei nicht um einen systemischen Mangel handelt, der eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh mit sich bringt (vgl. dazu ausführlich BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 22 ff.).
44
Die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids ist rechtswidrig, weil nicht feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Sie verletzt daher den Kläger in seinen Rechten und wurde insoweit vom Verwaltungsgericht zu Recht aufgehoben. Die Berufung ist diesbezüglich zurückzuweisen.
45
Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
46
Es steht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, wenn sie rechtlich zulässig und auch mit großer Wahrscheinlichkeit zeitnah tatsächlich möglich ist (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 26.1.2021 – 1 C 52.20 – juris Rn. 18; OVG Hamburg, B.v. 3.12.2010 – 4 Bs 223/10 – juris Rn. 10; VG Würzburg, B.v. 5.6.2024 – W 6 S 24.50178 – juris Rn. 24; VG Regensburg, B.v. 19.9.2023 – RO 13 S 23.50675 – juris Rn. 18; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 34a AsylG Rn. 3; Müller in Hofmann, Ausländerrecht, § 34a AsylG Rn. 23).
47
1. Die tatsächliche Möglichkeit setzt u.a. die Aufnahmebereitschaft des zuständigen Mitgliedstaates (hier: Italien) voraus. Von der Aufnahmebereitschaft ist nicht nur im Falle einer ausdrücklichen Erklärung des zuständigen Mitgliedstaates im Einzelfall auszugehen, sondern regelmäßig auch dann, wenn der Zielstaat auf Grundlage entsprechender unionsrechtlicher Regelungen – hier der Dublin III-Verordnung sowie wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens – zur Aufnahme verpflichtet ist (vgl. NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21; s.a. Faßbender in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht § 34a AsylG Rn. 15). Dies ist hier wegen der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO der Fall.
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2. Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist jedoch dann nicht zulässig, wenn Erkenntnisse vorliegen, die konkrete Zweifel an der Möglichkeit einer Überstellung begründen.
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Vorliegend bestehen erhebliche konkrete Zweifel an der Aufnahmebereitschaft Italiens und damit an der tatsächlichen Überstellungsmöglichkeit des Klägers dorthin. Diese ergeben sich aus dem Gesamtbild, welches sich in den nach den Schreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022 durchgeführten strikten Nichtaufnahmepraxis Italiens seit gut 1,5 Jahren beobachten lässt. Die sehr niedrigen Rückführungszahlen (vgl. hierzu die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 20/5868, Antwort auf Fragen 2, 4 und 19) erschüttern in Zusammenschau mit der in den Schreiben geäußerten Willenserklärung das grundsätzliche Vertrauen in die tatsächliche Aufnahmebereitschaft Italiens. Eine einzelfallbezogene Aufnahmeerklärung für den Kläger liegt nicht vor. Folglich steht die tatsächliche Möglichkeit der Durchführung der Abschiebung nicht hinreichend sicher fest (ebenso NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21; VG Berlin, U.v. 23.4.2024 – 9 K 61/23 A – juris Rn. 19 ff; VG Magdeburg, U.v. 9.4.2024 – 7 A 26/24 – juris Rn. 26 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 20.3.2024 – 22 L 497/24.A – juris Rn. 120 ff.; VG Hamburg, U.v. 19.2.2024 – 9 A 4685/22 – juris UA S. 34 ff.; anders OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 3/23 – juris Rn. 123).
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Infolgedessen erweist sich auch die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 75 Nr. 12 AufenthG als rechtswidrig.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Die Revision wird nicht zugelassen, da keine Gründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 VwGO vorliegen. Da der Senat hinsichtlich der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien für Dublin-Rückkehrer nicht von der aktuellen Beurteilung durch andere Oberverwaltungsgerichte abweicht, ist auch kein Raum für eine Zulassung nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG.