Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.10.2024 – 20 C 24.1573
Titel:

Aufhebung einer Aussetzungsentscheidung 

Normenkette:
VwGO § 94, § 146 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine Aussetzungsentscheidung nach § 94 VwGO setzt einen anderen konkreten anhängigen Rechtstreit voraus. Der Aussetzungsbeschluss muss dieses Verfahren unter Angabe des bzw. der Aktenzeichen konkret bezeichnen. (Rn. 3)
2. Allein der Umstand, dass in einem vor dem Bundesverfassungsgericht geführten Verfassungsbeschwerdeverfahren über eine Frage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil abhängt, rechtfertigt im Regelfall keine Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO (analog). Die Ausübung des gerichtlichen Aussetzungsermessens setzt jedenfalls voraus, dass sich das Verwaltungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der streitentscheidenden Norm auseinandersetzt. (Rn. 4)
Hat das VG selbst keine begründeten Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit einer zugrundeliegenden Vorschrift, ist für eine Aussetzung kein Raum. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde gegen einen Aussetzungsbeschluss, Nachweispflicht der Masernimpfung für schulpflichtige Kinder, Aussetzung, Verfahren, Beschluss, konkreter Rechtsstreit, anhängig, vorgreiflich, Ermessen, Nachweispflicht, Masernimpfung, schulpflichtige Kinder
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 01.08.2024 – RN 5 K 23.1373
Fundstelle:
BeckRS 2024, 30437

Tenor

Der Aussetzungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 1. August 2024 wird aufgehoben.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde ist begründet, da die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht gegeben sind. Dies hat zur Folge, dass die Aussetzungsentscheidung aufgehoben wird.
2
Nach § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
3
Voraussetzung der Aussetzungsentscheidung ist demnach, dass ein anderer Rechtsstreit anhängig ist, der vorgreiflich für das auszusetzende Verfahren ist. Eine Aussetzungsentscheidung setzt – ohne Rücksicht auf das Gebot der Vorgreiflichkeit – damit zunächst einmal einen konkreten anhängigen Rechtstreit voraus. Nur so kann die Aussetzungsentscheidung konkrete Wirkung entfalten und erfährt damit einen bestimmten Inhalt. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn das Verwaltungsgericht hier das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen die Regelungen zur Nachweispflicht für die in Einrichtungen i.S.v. § 33 Abs. 1 Nr. 3 IfSG betreuten schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen, vgl. u.a. § 20 Abs. 8, 9, 9a, 10, 12, 13,14 IfSG aussetzt. Weder aus dem Tenor noch aus den Gründen des Beschlusses ist ersichtlich, welche konkreten Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig sind und inwiefern diese einen für die Entscheidung über den vorliegenden Rechtsstreit vorgreiflichen Streitgegenstand haben. Vielmehr wird durch das Verwaltungsgericht lediglich unterstellt, dass entsprechende vorgreifliche Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig sein „dürften“. Dies ist für eine Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit nicht ausreichend. Erforderlich ist vielmehr zumindest die konkrete Bezeichnung des Verfahrens unter Angabe des bzw. der Aktenzeichen. Auch die vom Beklagten im Rahmen des Beschwerdeverfahrens eingeholte Auskunft der Geschäftsstelle des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. September 2024 ist nicht in der Lage, diesen Fehler zu heilen. Zwar ist demnach noch ein Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde anhängig (Az.: 1 BvR 2700/20); bereits der konkrete Gegenstand dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens ergibt sich aus dem Schreiben jedoch nicht. Entgegen der Stellungnahme des Bevollmächtigten der Klägerin vom 4. Oktober 2024 folgt aus der Auskunft des Bundesverfassungsgerichts auch nicht, dass die betreffende Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wurde: Das Verfahren 1 BvR 2700/20 ist danach nur „weiterhin anhängig“; ob eine (ausdrückliche oder konkludente) Annahme des Verfahrens i.S.d. §§ 93a, 93d Abs. 3 BVerfGG erfolgt ist oder bevorsteht, bleibt nach der Auskunft vollkommen offen. Dies ändert zudem nichts an dem Umstand, dass weder aus dem Tenor noch aus den Gründen des Beschlusses des Verwaltungsgerichts ersichtlich ist, im Hinblick auf welches konkrete Verfassungsbeschwerdeverfahren die Aussetzung erfolgen soll.
4
Die Aussetzungsentscheidung des Verwaltungsgerichts ist zudem ermessensfehlerhaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes rechtfertigt der Umstand, dass in einem vor dem Bundesverfassungsgericht geführten Verfassungsbeschwerdeverfahren über eine Frage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil abhängt, eine Aussetzung der Verhandlung nach § 148 Abs. 1 ZPO nicht (BGH B. v. 4.6.2024 – VIII ZB 40/23 – juris; B. v. 21.12.2022 – VIII ZR 78/22, BeckRS 2022, 41904 Rn. 40; 8.2.2023 – VIII ZR 65/22, BeckRS 2023, 3439 Rn. 40, jew. m.w.N). Eine unmittelbare Anwendung des § 94 VwGO scheitert bereits daran, dass die Frage der Verfassungswidrigkeit oder Nichtigkeit einer Norm, kein „Rechtsverhältnis“ darstellt (BGH B. v. 4.6.2024 a.a.O.; BSG, B. v. 1.4.1992 – 7 RAr 16/91 – juris). Für eng umgrenzte Fälle kann eine entsprechende Anwendung der Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit in den Prozessordnungen (§ 94 VwGO, § 114 Abs. 2 SGG, § 148 ZPO, § 74 FGO) aber angezeigt sein (BSG, B. v. 1.4.1992 – 7 RAr 16/91 – juris unter Hinweis auf BVerfGE 3, 58, 74; BAG, B. v. 28.1.1988 – 2 AZR 296/87 – juris; BFH, U. v. 18.7.1990 – I R 12/90 – BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986; BFH, B. v. 9.10.1991 – II B 115/91 – juris). Durch die Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens soll nämlich u.a. verhindert werden, dass die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle „überschwemmt“ werden, ohne dass dies der Klärung eines vorgreiflichen Problems dient (BFHE 161, 409). Das Gericht muss bei seiner Entscheidung, ob es das Verfahren aussetzt, prozessökonomische Gesichtspunkte einerseits und die Interessen der Beteiligten andererseits gegeneinander abwägen. Voraussetzung für eine entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Aussetzung des Verfahrens ist deshalb, zumal es sich um eine Ermessensentscheidung handelt, dass alle Erwägungen ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend für die Aussetzung sprechen (BFHE 161, 409, 412; BFH/NV 1992, 125, 126). Das kann etwa der Fall sein, wenn wegen der streiterheblichen Frage beim BVerfG ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungsbeschwerde bereits anhängig ist, nicht zu erwarten steht, dass weitere Vorlagen an das BVerfG dessen Entscheidung beeinflussen können, und mit der Entscheidung des BVerfG in absehbarer Zeit zu rechnen ist (BAG, B. v. 28.1.1988 – 2 AZR 296/87 – juris). Gleiches kann anzunehmen sein, wenn die Aussetzung des Verfahrens mit Rücksicht auf eine beim BVerfG anhängige Verfassungsbeschwerde mit der Ankündigung beantragt wird, die Klage zurücknehmen zu wollen, wenn das BVerfG zum Nachteil des Antragstellers entscheidet (BFHE 161, 409, 412). Alleine der Umstand der Existenz einer Verfassungsbeschwerde in einem gleichgelagerten oder ähnlichen Fall dürfte für sich gesehen jedoch nicht ausreichen. Hat das Verwaltungsgericht selbst keine begründeten Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit einer zugrundeliegenden Vorschrift, ist für eine Aussetzung kein Raum. Die Ausübung des gerichtlichen Aussetzungsermessens setzt jedenfalls voraus, dass sich das Verwaltungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der streitentscheidenden Norm auseinandersetzt.
5
Da es sich um eine Zwischenentscheidung handelt, bedarf es keiner Kostenentscheidung.
6
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).